National Geographic: Das Judas-Evangelium
- Regie:
- James Barrat
- Jahr:
- 2006
- Genre:
- Dokumentarfilm
- Land:
- USA
- Originaltitel:
- The Gospel of Judas
1 Review(s)
25.11.2006 | 09:08Halbherzige Doku: Der Verräter als Held
Er ist einer der am meisten gehassten Menschen der Geschichte: Judas Iskariot - der Apostel, der Jesus verriet. Seit Jahrhunderten steht sein Name für Verrat und Betrug. Doch verborgen im Sand Ägyptens lag fast 2.000 Jahre lang ein Dokument, das eine ganz andere Version von Jesus letzten Tagen erzählt und Judas als teuflischen Apostel in Frage stellt: Das Judas-Evangelium. Begleiten Sie National Geographic und ein Team von Experten bei der Erforschung dieses einzigartigen Textes. Erleben Sei den Wettlauf mit der Zeit bei dem Versuch, den brisanten Inhalt des Dokuments und seine religiöse Bedeutung für die christliche Welt zu entschlüsseln, bevor die einzelnen Seiten des Kodex zu Staub zerfallen. "Das Judas-Evangelium" offenbart einen neuen Aspekt in der Geschichte des Verrats von Jesus. (Verlagsinfo)
Filminfos
O-Titel: The Gospel of Judas (USA 2006)
Dt. Vertrieb: WVG Medien GmbH (ASIN: B000FBH41W)
DVD-Erscheinungstermin: 28. April 2006
FSK: ab 12
Länge: ca. 86 Min.
Regisseur: James Barrat
Inhalt
Die Dokumentation wird wie eine Geschichte mit verschiedenen Handlungssträngen und Akteuren erzählt, so dass eine recht spannende Darstellung entsteht, die den Zuschauer interessiert. Denn da er nie alles auf einmal erfährt, sondern nur häppchenweise, muss er bis zum Schluss ausharren.
~ Ebene Nr. 1: 1999 bis 2006 ~
Die Antiquitätenhändlerin Francoise Nussberger-Tchakos bekommt das uralte Papyrus-Manuskript in Hicksville, New York, von einem ägyptischen Antiqitätenhändler gezeigt. Er hat es 16 Jahre lang in einem Banksafe verrotten lassen. Die Händlerin ist entsetzt, lässt es sofort von Experten der Yale University begutachten. Sie können den koptischen Text nur ansatzweise entziffern, aber der Titel ist klar: "Das Judas-Evangelium" steht darauf. Ist es echt oder eine Fälschung?
Die Buchrestauratorin Darbre in der Schweiz erhält den Auftrag, den Papyrus möglichst wiederherzustellen, damit der Experte Rodolphe Kasser den koptischen Text entziffern kann. Nach schweißtreibender Arbeit gelingt es Darbre, 85 % des malträtierten Papyrustextes zu retten. Zwei weitere Experten bestätigen die Echtheit des Kodex und in Arizona wird sein Alter datiert: Es entstand zwischen dem Jahr 220 und 340 n. Chr. in Ägypten.
Der Codex enthält außer dem Judas-Evangelium noch einen Brief von Petrus an Philippus und eine Apokalypse des Jakobus, die aber bereits aus anderen Texten (die Nag-Hammadi-Schriften haben große Ähnlichkeit mit dem Judas-Kodex) bekannt waren. Darüber hinaus ist ein weiterer, bisher ebenfalls unbekannter gnostischer Text enthalten, der die vorläufige Bezeichnung "Buch des Allogenes" erhalten hat.
"Am 9. April 2006 veröffentlichte National Geographic weltweit auf seinen Fernsehsendern im Rahmen eines zweistündigen Doku-Specials die Ergebnisse der Untersuchungen. Nach der Übersetzung und Restaurierung der Schrift wurde sie nach dem Willen der Stiftung dem ägyptischen Staat für das Koptische Museum von Kairo übergeben", ergänzt die Wikipedia.
~ Ebene Nr. 2: 1978 bis 1999 ~
Ein Bauer soll 1978 den Papyrus in einer Steinkiste gefunden haben, die er beim Grabplündern in einer Wüstenhöhle bei Al-Minya entdeckte. Er verkaufte seine Schätze wie üblich an Mittelsmänner im Antiquitätenhandel, bis es ein Kairoer Antiquitätenhändler erwarb. Dieser war so unvorsichtig, seine "Beutestücke" einer hübschen Dame zu zeigen, die alles fotografierte. Der Grund: Sie bereitete einen Einbruch vor. Dieser erfolgte wenige Tage später und kostete den Händler die besten Stücke seiner Sammlung – auch den Kodex. Er konnte ihn wiederbeschaffen und versuchte ihn an Wissenschaftler für einen Millionenbetrag zu verscherbeln – vergeblich. Bei der Begutachtung wurde nicht klar, um welchen unbezahlbaren Schatz es sich bei dem Kodex handelt.
~ Ebene Nr. 3: das 3. bis 4. Jahrhundert bis 1978 ~
Im 3. und 4. Jahrhundert gab es noch viele zersplitterte Gemeinden unter den Frühchristen, und die bedeutendste Strömung darunter waren die Gnostiker. "Gnosis" bedeutet Erkenntnis, Wissen. Sie vertraten im Gegensatz zur Amtskirche die Ansicht, dass der einzelne Gläubige selbständig zur Erkenntnis Gottes gelangen könne und deshalb eine etablierte Kirche nicht benötige. Ein weiterer wichtiger Glaubensgrundsatz, der für den Judas-Kodex wichtig ist: Der Schöpfergott des Alten Testaments schuf mit der Welt und mit dem menschlichen Körper ein Gefängnis, dem es zu entrinnen gilt, um sodann durch Gnosis zum wahren Gott, der darüber steht, zu gelangen. Folglich ist auch eine Auferstehung des Körpers, wie sie Jesus erfahren haben soll, sowohl unmöglich als auch unerwünscht.
Die Evangelien der Gnostiker – von Thomas, Philipp, Judas und vielen anderen – wandten sich an fortgeschrittene Gläubige, nicht jedoch ans einfache Volk. Das taten die vier später kanonisierten Evangelien. Deshalb erschienen sie Bischof Irenäus am geeignetsten, um das Christentum weiter zu verbreiten.
~ Ebene Nr. 4: das 1. und 2. Jahrhundert ~
Das Original wurde vor dem Jahr 180 geschrieben, denn der Lyoner Bischof Irenäus, der eine Kopie bei seiner Christengemeinde in Gallien fand, wetterte in einer Streitschrift dagegen und verlangte, dass nur die Evangelien von Markus (entstanden um das Jahr 60), Matthäus (ca. 70-72 n.Chr.), Lukas und Johannes (um das Jahr 100) kanonisiert würden. Alle anderen Evangelien, die in der frühzeitlichen Christengemeinde kursierten, sollten als ketzerisch verboten werden. Dazu gehörten das Evangelium des Thomas, des Philippus und über zwei Dutzend weitere. Sie wurden endgültig auf dem Konzil von Nicäa im 4. Jahrhundert verboten und sukzessive vernichtet. "Das Judas-Evangelium" überstand diese Zerstörungsphase nur durch seine Verborgenheit in einer Wüstenhöhle.
Dass dieses Vorgehen der Kirchenväter auch handfeste politische Gründe hatte, arbeitet die Dokumentation ebenfalls heraus. Die Frühchristen wollten sich als Märtyrer hinstellen, die Opfer eines jüdischen Verrats wurden. Und zwar deshalb, weil die Juden seit ihrem vierjährigen Aufstand zwischen 66 und 70 n. Chr. als Aufständische im römischen Reich verfolgt und gedemütigt wurden. Allerdings trug diese Strategie erst Früchte, als Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert das Christentum zur Staatsreligion machte. Davor wurden Christen allerorten im Imperium gefoltert und verfolgt.
~ Ebene Nr. 5: das Jahr 33 ~
Was steht denn nun eigentlich im "Judas-Evangelium"?
"Es handelt sich beim Evangelium um eine 'kainitische' Gegenbibel. Bei den Kainiten handelt es sich um eine gnostische Splittersekte, die im 2. Jahrhundert Kain und Judas verehrten", schreibt die Wikipedia, aber das kommt im Film nicht zum Ausdruck. Allein schon der Name Kain hätte den Zuschauer wohl zu negativ beeinflusst.
In der Dokument wird der Inhalt des Evangeliums in einer Spielhandlung gezeigt, die vor allem im Garten von Gethsemane spielt. Ist ja auch logisch, denn es geht in erster Linie um den so genannten Verrat des Jahuda Iskarioth an Jehoschua von Nazareth. (Diese Leute sprachen nicht Griechisch wie die vier Evangelisten des Kanons, sondern Aramäisch. Das Judas-Evangelium wurde aus dem Griechischen ins Koptische übersetzt.)
Ebenso wie beim Evangelisten Markus ist Judas keineswegs der Verräter oder gar die Verkörperung des Bösen, als die ihn Johannes hinstellt. Vielmehr ist er der engste Freund des "Rabbi" Jesus und folglich dessen Lieblingsapostel, dem er als einzigem die "Mysterien des Himmelreiches" offenbart. Er besaß daher mehr Gnosis als die anderen Apostel.
Jesus gibt ihm einen besonderen Auftrag: Er solle ihn an die Römer und Pharisäer verraten. "Durch den Verrat habe Jesus seine leibliche Hülle verlassen und in das wahre göttliche Reich zurückkehren können. Judas habe Jesus daraufhin gefragt, was sein Lohn für den Verrat sei und Jesus hat ihm sehr offen geantwortet, dass die ganze Welt ihn auf ewig hassen und verdammen werde, er aber als Erleuchteter ebenfalls in das wahre göttliche Reich eingehen werde." (Wikipedia) Wie schon erwähnt, ist der gnostische Gott ein ganz anderer als der jüdisch-christliche Gott. Die Erleuchteten (= Gnostiker) erkennen den wahren Gott, die Nicht-Erleuchteten beten weiterhin den falschen Gott an.
Was uns die Doku verschweigt, offenbart die Wikipedia: "Der Text endet mit einer Prophetie des Jesus, die den Untergang des alttestamentarischen Gottes und seiner gesamten minderwertigen Schöpfung beschwört. Dieser Untergang alles Irdischen wird wahrscheinlich (der Text ist hier nur sehr fragmentarisch erhalten) durch den Verrat des Judas und den leiblichen Tod Jesu ausgelöst."
Mein Eindruck
Geradezu rührend sind die Bemühungen der Doku, die Unterschiede zwischen den christlichen Evangelien hinsichtlich der Darstellung des Judas herauszuarbeiten. X-mal küsst Judas seinen Rabbi, um ihn gegenüber den Römern als denjenigen welchen zu kennzeichnen. Bei Markus kommt dieser Kuss überhaupt nicht vor. Auch die Todesart des Judas Iskarioth ist unklar: Mal erhängt er sich an einem Baum (sehr malerisch im Abendrot), mal stürzt er sich von einer Mauer.
Die Folgen des Verrats durch Judas, der viele Male bildlich dargestellt und in Passionsspielen (wie in Oberammergau) durch Jahrtausende hindurch verbreitet wurde, sind unübersehbar. Sie werden auch in der Doku genau gezeigt. Judas’ Name wurde mit dem der Juden synonym. Durch den Lohn der 30 Silberlinge wurde Judas zum Geizhals gestempelt, folglich wurden die Juden zu Wucherern gemacht – und da ihnen ein anderes Gewerbe nicht gestattet wurde, deckten sich bald Vorurteil und Realität. (Noch heute erinnern Namen wie Silberberg, Goldberg, Rubinstein usw. an diese Zeit.)
Die Pogrome könnten daher sehr gut als inszenierte Vergeltungs- und Entschuldungsaktionen ihrer Schuldner interpretiert werden. Aber dass Juden angeblich den Heiland verrieten und ans Kreuz lieferten, brachte ihn jede Menge Feindschaft ein. Darauf bauten Adolf Hitler und dessen Rosenberg'sche Rassenlehre auf und beuteten sämtliche Vorurteile aus. Es verwundert nicht, dass die Nazis es auf die Reichtümer jüdischer Bürger wie des Kaufhausbesitzers Wertheim und anderer abgesehen hatten, um ihren Krieg zu finanzieren. Der Gipfel der Judenfeindlichkeit bestand im Holocaust – Fotos von KZ-Häftlingen belegen dies.
~ Vorsicht, Folter! ~
Die verstörendsten Bilder zeigt die Doku jedoch weder beim Holocaust noch beim Tod des Judas und erst recht nicht beim Abendmahl, sondern bei der Christenverfolgung. Das ist wirklich starker Tobak, bei dem es dem unvorbereiteten Zuschauer durchaus schlecht werden kann. Von Peitschenhieben zerfetzte Rücken werden in der Regel aus Spielfilmen herausgeschnitten – hier sind sie die Regel.
Die allerhärteste Folterszene ist sicherlich jene, in der eine standhafte Christin in der Arena auf einen glühend heißen Metallstuhl befördert wird und dort schreiend krepiert. Auch in Lyon, dem Bistum des Irenäus, fand im Jahr 177 ein Pogrom gegen Christen statt, und in der Folge war wohl auch Irenäus schwer von solchen Szenen betroffen. Offensichtlich musste in seinen Augen schnellstens etwas geschehen, um a) die Juden zum Sündenbock zu machen und b) die christlichen Märtyrer zu Helden zu machen, so dass ihr Foltertod gerechtfertigt wurde. Beides gelang ihm mit den vier abgesegneten Evangelien, die anderen ließ er verdammen und vernichten.
~ Welche Glaubensgrundlage? ~
Am Schluss werden die Ergebnisse zusammengefasst und der Kodex wissenschaftlich bewertet. Die letzte Frage der Doku formuliert aber genau das, was sich jeder Zuschauer schon nach spätestens fünf Minuten fragt: Da nun die Echtheit des Kodex bewiesen ist, woher nehmen wir dann unsere Glaubensgewissheit?
Die Antwort ist jedem Zuschauer selbst überlassen, und man kann nur hoffen, dass dieser intelligent und mündig genug ist, die Antwort selbst herauszufinden statt sie sich beim örtlichen Kirchenbeamten – vulgo: Priester, Pastor oder Pope – abzuholen.
Die DVD
Technische Infos
Bildformate: 16:9
Tonformate: D in Dolby (stereo)
Sprachen: D
Untertitel: D
Extras: keine
Mein Eindruck: die DVD
Außer einem guten Ton und einem qualitativ hochwertigen 16:9-Bild hat die DVD keine Vorzüge vorzuweisen. Extras gibt es nicht, und mit einer Danksagung allein ist in dieser Hinsicht kein Blumentopf zu gewinnen. Die DVD ist ab 12 Jahren freigegeben, aber ich bin dafür, dass diese Freigabe erst ab 16 erteilt wird. Eltern seien gewarnt. Der Klappentext: "Bitte behandeln Sie den Inhalt des Films mit Umsicht." Das bezieht sich aber wohl eher auf die antichristliche Aussage des gnostischen Judas-Evangeliums, die religiöse Gefühle verletzen kann.
Unterm Strich
Die Doku wirbelt zwar die Geschichten, die sie erzählt, ganz hübsch durcheinander, wie durch die Verteilung auf fünf Zeit-Ebenen deutlich wird. Doch die provokative Grundaussage des Judas-Evangeliums wird durch den Kontext abgeschwächt und relativiert, ja durch die anderen Geschichten vielleicht sogar überdeckt. Letzten Endes erscheint Judas gar nicht mehr als der Bösewicht, sondern als pure Erfindung einer frühchristlichen Sekte – dass die Gnostiker im Gegensatz zur Amtskirche standen, dürften die meisten Zuschauer nicht in der ganzen Tragweite erfassen.
Dass die letzten Gnostiker mit den Katharern im 13. Jahrhundert in Südfrankreich ausgerottet werden sollten, wird an keiner Stelle erwähnt. Der Zuschauer könnte sonst auf die Idee kommen, dass das heutige orthodoxe Christentum kein natürlich gewachsenes Gebilde sei, sondern eine unnatürliche, von Machtinteressen gesteuerte Maschinerie, die dazu dient, "Unwahrheiten" (falls dies auf Glaubenssätze jemals zutreffen kann) zu verbreiten und durch Steuern reich zu werden.
Die wahren Helden des Films sind weder Jesus noch seine Apostel, schon gar nicht Judas, sondern die Jünger der Wissenschaft, die sich abmühen, einem zerfallenden Papyrus jedes Fitzelchen Information abzuringen. Noch heldenhafter stellt sich die Antiquitätenhändlerin Nussberger-Tchakos hin, die bekundet, sie fühle sich von Judas auserkoren, ihn zu rehabilitieren. Dass sie dabei das Interesse einer gnostischen Splittersekte (der Kainiten, s. o.) vertritt, kommt natürlich nicht zum Ausdruck.
In meinen Augen beschreitet die Doku den goldenen Mittelweg zwischen BILD-Niveau und Wissenschaftlichkeit. Dass sie dabei auf halber Strecke stehen bleibt, verwundert also nicht. Aber für gebildete Menschen, die sich über die Wikipedia in Minuten über die wahren Verhältnisse informieren können, bleibt ein saurer Nachgeschmack.
http://www.nationalgeographic.de/
- Redakteur:
- Michael Matzer