MESHUGGAH: Listening-Session zu "Immutable"

02.02.2022 | 21:25

Wenn Pressevertreter ein neues Album einer Band, im besten Fall gemeinsam mit der Band, vorab einmal hören dürfen, nennt man das "Listening-Session". Zu einer solchen wurde von Atomic Fire Records im Rahmen des neuen MESHUGGAH-Albums "Immutable" geladen, zusammen mit Schlagzeuger Tomas Haake. Pandemiebedingt hat das Ganze natürlich online stattgefunden, es war dank des neuen Albums dennoch sehr lebhaft.

Kein Aprilscherz: Am 01.04.2022 veröffentlichen die Szene-Pioniere MESHUGGAH das neue, neunte Album "Immutable". Die Erwartungshaltung und Vorfreude ist enorm, schließlich sind die Herren aus Schweden echte Originale, Vorreiter und Meßlatten-Definierer. Selbst Gitarrist Fredrik Thordendal ist nach der fünfjährigen Live-Abstinenz zurückgekehrt, wie Schlagzeuger Tomas Haake erklärte, jedoch "nur" als Solo-Gitarrist, im Songwriting sei er nicht involviert gewesen. Bevor es losgeht eins noch zum besseren Verständnis: Die hier festgehaltenen Eindrücke sind nach einmaligem Hören parallel entstanden. Ein detaillierteres Review folgt natürlich.

1. Broken Cog (5:35)

Volle Gitarren und ein voluminöses Schlagzeug beginnen mit einem abgehackten Rhythmus, es setzt sofort ein wohliges Grinsen ein. Eine halbmelodiöse Gitarre kommt hinzu, Jens Kidman spricht im ruhigen, aber bestimmten Ton die ersten Textzeilen. Der Klang des Albums fällt sofort auf und kommt total mächtig und erhaben aus den Boxen. Die Spannung steigt ins Unermessliche, die Dynamikkurve schwillt beständig an und wieder ab. Der erste Groove entlädt sich nach etwa drei Minuten - eine Walze von Groove! Nach 4:30 Minuten erklingen dann endlich die ersten Kidmanschen Shouts, der Track marschiert aber in großen Schritten weiter voran und ist tatsächlich geradezu doomig. Der Song hat dennoch eher Intro-Charakter, es wird aber bereits jetzt deutlich: MESHUGGAH bleibt sich treu und bringt dennoch Neuerungen in den Sound.

2. The Abysmal Eye (4:55)

Die erste Single sollte unlängst bekannt sein. Mit dem ersten Doublebass-Pattern des Albums geht es in 'The Abysmal Eye'. Jens Kidman klingt erneut super, als ob er in den Jungbrunnen gefallen wäre. Thordendals eingeworfene melodiöse, aber etwas mysteriöse Licks sind großartig und bringen unheimlich viel Tiefe. Der Song atmet geradezu und entwickelt sich stets weiter, in Minute drei folgt dann das erste Gitarrensolo, das in seiner wirren Art so nur von dem Meister der dissonanten Töne persönlich gespielt werden kann. Der Song hat eigentlich nur einen Groove, der beständig minimal verändert wird, ein bandtypisches Trademark. Erst zum Schluss reißt er aus dem Korsett aus und geht richtig auf.

3. Light The Shortening Fuse (4:28)

Alright, jetzt gehts richtig los, das Album läuft immer wärmer, eine schöne Spannungskurve. Die Rhythmik ist total MESHUGGAH-esk, bewegt sich ständig fort, reißt mit und doch versteht man sie nicht. Der Track könnte auch gut auf "Obzen" stehen. Ab der Songhälfte nehmen die Riffs eine wahnwitzige Wendung auf, wieder tönen Thordendals schrägen Klanglandschaften herein und läuten den Song in der letzte Minute mit einem epischen Groovemonster aus.

4. Phantoms (4:53)

Langsam verstehe ich, wie das Album funktioniert. Trotz aller Härte und Vertracktheit bleibt stets eine gewisse Eingängigkeit bestehen, den roten Faden habe ich noch nie so schnell bei einem MESHUGGAH-Album gefunden. Die Songs sind trotzdem weit (!) davon entfernt, langweilig zu sein. Die letzten etwa eineinhalb Minuten des Songs dürften zu den epischsten der Band gehören, was für eine Macht!

Bisher kann ich folgenden Schluss ziehen: "Immutable" ist ein gutes, bandtypisches Album, am überraschendsten ist die relative Eingängigkeit und Entschleunigung. Jedoch: So richtig umgehauen bin ich noch nicht. Wir sprechen hier schließlich über MESHUGGAH!

5. Ligature Marks (5:13)

Vergesst, was ich eben geschrieben habe. Nun wird es lustig, denn es folgt das 'Do Not Look Down' der Platte. So zumindest die ersten Gedanken zu Beginn. Der Song ist ein solches Monster, das es wirklich fast beängstigend ist. Der Sound fällt wieder positiv auf, ist extrem lecker, saftig, druckvoll, natürlich. Nun bekomme ich die erste Gänsehaut, der Song ist so intensiv, dass es kaum auszuhalten ist. Gitarren und Schlagzeug wirken geradezu hypnotisch. Uff.

6. God He Sees In Mirrors (5:28)

Nun scheint das Album richtig Fahrt aufzunehmen. Nach eineinhalb Minuten ist hier bereits der absolute Ausnahmezustand ausgerufen, das total abgefuckte Solo Thordendals setzt dem Ganzen die Krone auf. Ich kann nicht mehr still sitzen bleiben, der Song ist so unglaublich heavy, hässlich und wunderschön zugleich, dass es eine helle Freude ist.

7. They Move Below (9:35)

Ok, ein Track mit Überlänge? Ich bin gespannt. Ein wirklich wunderschönes Intro mit Akustikgitarren eröffnet die Nummer, bis der Groove bei circa 2:30 einsetzt und einen mitnimmt ins MESHUGGAH-Neverland. Das nun folgende Riff-Feuerwerk fesselt einen an den Stuhl und lässt sich beim ersten Hören kaum in Worte fassen. Stank face activated. Es ist sehr klug, das lange Stück in der Mitte des Albums zu positionieren, denn es ist klar das Epizentrum. Nach sechs Minuten Spielzeit bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass wir es mit einem Instrumental zu tun haben. Der Song bleibt indes doomig, mit prägnantem Groove, nicht aber zäh, dafür ist das Zusammenspiel der Protagonisten viel zu aufregend und perfekt aufeinander abgestimmt. Dabei passiert oberflächlich eigentlich gar nicht so viel, es ist keine Instrumentalabfahrt à la DREAM THEATER, trotzdem passiert unterschwellig gleichzeitig viel auf einmal. Klingt komisch, ist aber MESHUGGAH. Nach über neun Minuten ist nun klar: Nein, da kommt kein Gesang mehr, es ist ein reines Instrumental. Cool!

8. Kaleidoscope (4:07)


Der Song holt einen in die Realität zurück, das dürfte der Hit des Albums sein. Ich möchte an dieser Stelle auch mal den Bass-Sound erwähnen, der so tief geht, dass man ihn geradezu spürt. Man hört, dass das Album, wie die Band selbst sagt, in einer für Metal eher untypischen Umgebung aufgenommen wurde (Sweetspot Studio Schweden), denn so ist es gelungen, "Immutable" einen einzigartigen Sound zu verpassen - der paradoxerweise irrwitzig heavy ist, aber auch sehr lebendig. Zurück zum Geschehen: Der Song ist wieder in Uptime, was der Dynamik des Albums sehr gut tut. Und wieder ist das Riffing in Kombination mit Haakes Drumming unglaublich intensiv und lässt einen mit dem Kopf schütteln, wie es die Band schafft, nach 30 Jahren immer noch so frisch und unverbraucht zu klingen.

9. Black Cathedral (2:00)


Der Song eröffnet wie der Titel es vermuten lässt, tatsächlich mit einer schwarzmetallischen Tremolo-Gitarre, folgen hier die ersten Blast Beats der Bandgeschichte? Eins kann ich aber verraten: Im weiteren Verlauf bekommt man den Eindruck, als ob das Tor zur Hölle geöffnet würde. Nettes Zwischenspiel.

10. I Am That Thirst (4:40)


Ein durch und durch bandtypischer Song, ohne einfach ein Aufguss zu sein. Als Pate fällt mir als erstes 'Rational Gaze' ein. Und an dem Songende dürften sich alle Musiker die Gehirne verknoten, fantastisch.

11. The Faultless (4:48)


Jetzt wird's richtig dreckig, oh yes. MESHUGGAH erreicht nun Regionen, die nicht mehr mit Worten zu erklären sind. Mein Gehirn kocht langsam über. Der Spoken-Word-Part ist eine weitere Neuheit in der MESHUGGAH-Welt, passt zu diesem triefenden Song aber perfekt.

12. Armies Of The Preposterous (5:15)

Nun wird das Tempo nochmal hochgedreht, die Gitarren rattern, Kidman schreit sich die Seele aus dem Leib. Mir bleibt die Spucke weg, der Song hat so prägnante Riffs, dass man Luftgitarre wedelnd vor den Boxen sitzt.

13. Past Tense (5:46)


'Past Tense' ist ein ruhiges Outro mit akustischen Gitarren und sehr schönem, klarem Sound und tollen Harmonien. Zum Wohlfühlen, wieder zu sich finden.

Fazit:

Dass das neunte Album "Immutable", zu Deutsch "unveränderbar"/"unveränderlich", heißt, ist wirklich klug. Denn einerseits haben wir es mit einem Album zu tun, dass nur von dieser Band kommen kann, ganz nach dem Motto: Wo MESHUGGAH drauf steht, ist auch MESHUGGAH drin. Das Ironische ist aber, dass man gerade bei "Immutable" von dem MESHUGGAH-Album mit dem meisten Charakter sprechen muss. Es ist ein Album, das man als Gesamtwerk verstehen und hören sollte, denn die Spannungskurve ist phänomenal. Was Tomas Haake auf der Listening-Session gesagt hat, ergibt daher total Sinn: Es geht nicht um die einzelnen Tracks, sondern um das Album. Das Zusammenspiel der Musiker wird von dem fulminanten Sound des Albums hervorragend in Szene gesetzt. Der Gewinner des Albums ist aber Jens Kidman, der hier vielleicht seine beste Performance ablegt und mit seinen 55 Jahren erstaunlich unverbraucht klingt. Die Einordnung in die Diskografie ist nach einem Hördurchgang schwierig. Ich höre vermehrt "Koloss"-Parallelen heraus, aber die ganze Diskografie blitzt immer wieder mal durch. "Immutable" legt den Fokus jedoch weniger auf schnelle, thrashige oder hektische Songs und zeigt die Schweden abwechslungsreicher denn je. Es ist ein Album, das gewissermaßen cool bleibt und atmet, auch wenn es mal schwierig wird. Ziemlich sicher ist es das kurzweiligste, aber zugleich das Album mit der längsten Spielzeit und dennoch an Intensität nicht zu überbieten.

Die Fotos wurden mit freundlicher Genehmigung von Atomic Fire Records zur Verfügung gestellt.

Redakteur:
Jakob Ehmke

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