BLIND GUARDIAN: Interview mit André Olbrich

08.07.2017 | 23:52

Livehaftig hinter den Sphären.

Die neue Live-Veröffentlichung "Live Beyond The Spheres" (VÖ: 07. Juli 2017), welche standardmäßig auf drei CDs und mit einer stolzen Spielzeit von über 2,5 Stunden daherkommt, nehmen wir natürlich gerne als Anlass, um uns mit BLIND GUARDIAN an einem sonnigen Dienstagnachmittag in der Kölner Innenstadt hinzusetzen und über alles (und noch mehr!) zu quatschen. Unser Gesprächspartner ist André Olbrich, mit dem es neben der spezifischen Herangehensweise an diese Platte und dem Live-Sektor als solchem auch noch über die kleine, große Besonderheit in naher, ferner Zukunft geht.

Bevor wir über die neue Veröffentlichung der Krefelder sprechen, gehen wir gleich einmal an eine durchaus pikante Sache: Wie relevant ist eine Live-Veröffentlichung anno 2017 überhaupt noch, gerade wenn man bedenkt, dass heutzutage von jeder mittelgroßen bis großen Band jährlich gleich mehrere sehr gute Pro-Shot-Aufnahmen auf Youtube zu finden sind, die jedem Fan rund um die Uhr zur Verfügung stehen? Der besondere Charakter, den so ein Dokument vor 30 Jahren noch hatte, ist jedenfalls nicht mehr vorhanden. "Absolut richtig, darüber haben wir uns natürlich auch Gedanken gemacht. Wir sind in den letzten Jahren immer wieder angesprochen worden, da unser letztes Live-Album auch schon ein wenig in die Jahre gekommen ist." ("Live" wurde 2003 veröffentlicht.) Olbrich gesteht, dass die Band zunächst auch keinen Sinn darin gesehen habe und ein 70er-, 80er-Jahre-Album in Bootleg-Qualität heute tatsächlich keinen Wert mehr hätte. Es musste also etwas Besonderes her.

Der Ansatz der Band war dabei, die Highlights diverser unterschiedlicher Gigs zu nehmen: "Wir als Band wissen nicht, wann wo etwas besonders Geiles passiert. Die einzige Chance, etwas wirklich Spezielles zu machen, war alle Shows aufzunehmen." Technisch sei dies einfacher denn je (digitale Amps, besser filternde Mikros für Gesang & Drums), dennoch hätten unterschiedlichste Vorkehrungen getroffen werden müssen. Kernproblem: der unterschiedliche Klang der verschiedenen Locations. "Wir haben mit unserem Tontechnikerteam spezielle Mikros im ganzen Raum verteilt, um so beim Mix einen besseren Einfluss auf das Klangbild zu haben." Eine Show aus einem Guss, und dennoch die Leckerbissen der gesamten Tour - so die Zielsetzung.

Nachdem die Tour und damit auch die Aufnahmen abgeschlossen waren, setzten sich André und Hansi direkt mit ihrem Produzenten zusammen, um die 50 (!) Shows komplett durchzuhören. Wie viel Lust hat man nach einer Tour denn darauf? "Wir haben da mal in den sauren Apfel gebissen", gibt Olbrich grinsend zu Protokoll. "Die Länge einer Show war jeden Abend in etwa 2:15 Stunden, und um einen Gig wirklich beurteilen zu können, muss man das Konzert auch zwei-, dreimal hören, das heißt, du bekommst im Bestfall eine Show abgearbeitet, wenn du den ganzen Tag da sitzt und Musik hörst." BLIND GUARDIAN - wie immer arbeitseifrig und mit Liebe für die Details. Der "Knaller" bei diesem Prozess sei gewesen, dass extrem viele gute Shows dabei gewesen seien und manche sogar dazu getaugt hätten, sie komplett am Stück zu veröffentlichen. Denkbar sei es, eine solche Show mal in Bootleg-Qualität als Bonus einer Veröffentlichung dazu zu legen. Exemplarisch nennt er die Auftritte in Paris und in Düsseldorf, die "unglaublich gut" gewesen seien. "Da müsste man nichts machen. Die könnte man so raushauen." Ja dann: her damit!

Die letztendlich ausgewählten Songs seien jedoch definitiv echte Highlights. "Dass 'Valhalla' jetzt jeden Abend von jeder Halle mitgesungen wird, wundert inzwischen nicht mehr, aber es gibt auch andere Songs, wo es schon große Unterschiede gibt, und jetzt haben die Leute diese unterschiedlichen Stimmungen, wo die ganze Halle mitgrölt und Party macht. Und in der Form und Intensität findet man das nicht auf Youtube." Die Veröffentlichung ist nun sogar eine 2:40-Stunden-Version, also mit manchen Songs ausgestattet, die nicht überall gespielt wurden, und damit länger als die reguläre Show eines Abends. Auf die kritische Nachfrage, ob durch diese Aneinanderreihung von Highlights nicht das authentische Live-Dokument verloren gehen würde, was einen Abend in Gänze abbildet, antwortet der Lead-Gitarrist: "Nee, das sehe ich nicht so. Das hast du ja auch noch, wenn du auf dein Wacken-Bootleg zurückgreifst. Das nehmen wir dir ja nicht weg." Hier führt Olbrich die Auftritte vom Wacken, vom Rock Hard und von der Loreley an, die man sich online frei verfügbar anschauen kann. "Es gibt also eine ganze Menge an Shows am Stück, die ich auch für geil halte." Hält man sich dies vor Augen und fragt nach dem Wert einer offiziellen Live-Veröffentlichung, scheint der Ansatz BLIND GUARDIANs logisch, nachvollziehbar und vielleicht sogar zwingend.

Eine weitere Motivation sei es gewesen, die Band in der aktuellen Besetzung zu dokumentieren, womit natürlich vor allem Schlagzeuger Frederik Ehmke, der 2005 zu den Krefeldern stieß, gemeint ist. "Die Band hat sich dadurch nach vorne entwickelt und das wurde so auch noch nicht festgehalten. Zudem wollten wir allen Platten gerecht werden, die wir gemacht haben, was letztlich auch der Grund war, warum wir auf drei CDs gegangen sind." Auch die Fantasy-Metaller müssen sich mit dem Luxusproblem vieler alter, etablierter Bands herumplagen: Alte Gassenhauer kann man kaum außen vor lassen, aber neue Kompositionen möchten natürlich dennoch gespielt werden. Bei der Auswahl der Stücke sei neben ihrer jeweiligen Momentum-Qualität auch die Dynamik innerhalb der Shows bedacht worden. Bedeutet: früher am Abend gespielte Songs auf CD 1, den Zugabenblock auf CD 3. Auf diese Art und Weise solle der natürliche Fluss einer Show beibehalten werden. Vorteil der beschriebenen Vorgehensweise sei es zudem gewesen, dass derartig viele Aufnahmen dafür sorgen, dass man auf jeden Fall eine "perfekte" Version dabei habe, die nicht nachbearbeitet werden müsse. "Wenn du so viele Versionen hast und dann noch etwas im Studio bearbeiten musst, dann löst du dich am besten auf", schmunzelt Olbrich vor sich hin.

Mit Spielfehlern geht der sympathische Gitarrist - trotz all der Perfektion, die man stets mit BLIND GUARDIAN verbindet - sehr locker und konstruktiv um: "Ich nehme das hin, wie es kommt, und versuche dann bei der nächsten Show erstmal wieder reinzufinden. Du musst dich wieder reinarbeiten, weil wenn du es noch zwei-, dreimal verkackst, dann wird es eine Serie - dann kommst du nicht mehr raus." Nach einer Show würde auch nichts mehr innerhalb der Band diskutiert werden, da seien die Herren total locker - im kleinen Widerspruch zu all dem Perfektionismus.

Nach der Bedeutung von Konzerten im Jahr 2017 gefragt antwortet Olbrich: "Was derzeit im Live-Sektor passiert, ist das, was die letzten 15 Jahre mit den Platten passiert ist, nämlich Schwemme. Absolute Überflutung. Jeder Scheiß ist auf Tour und nur noch auf Tour. Du siehst manche Bands alle 4-5 Monate schon wieder." Die Leute würden nicht mehr Geld zu Verfügung haben, so dass es sich lediglich aufsplitten würde. "Und leider splittet es sich auf Scheiße auf." Uff. Klare Ansage. "Ich würde mir wünschen, dass der Fan selektiver würde, um einfach auch wieder den Bands, die qualitativ wirklich was zu bieten haben, ein bisschen Priorität einzuräumen." Live sei beliebt wie nie zuvor, was man allein an der Zahl der Festivals sehen könne - und was an sich auch eine gute Sache sei. Olbrich sieht Musik auch nach wie vor primär auf der Bühne als auf Platte: "Man kann diese Energie, die zwischen den Menschen passiert und das ist eigentlich das Wesentliche, nicht auf eine CD pressen. Man muss schon auch bei einem Konzert dabei gewesen sein; man muss es sehen, hören, spüren." Eine Aussage, die ich persönlich nur bestätigen kann. Nur Sex, Drugs & Rock 'n' Roll ginge zwar nicht, nur Studioarbeit aber auch nicht. Beides habe seinen Reiz. Olbrich wirkt dankbar, seinen Beruf in all seinen Facetten ausleben zu können.

Abschließend kommen wir noch kurz auf die jüngere Zukunft BLIND GUARDIANs zu sprechen. Dort erwarten Fans mit Spannung etwas ganz Neues: das Orchesterprojekt! "Wir haben ja inzwischen "Chinese Democracy" von GUNS'N'ROSES geschlagen" grinst der nach wie vor bestens gelaunte Herr, "stehen aber inzwischen tatsächlich vor der Fertigstellung." Die letzten Aufnahmen stehen im Herbst dieses Jahres an, mit einer Veröffentlichung sei spätestens Anfang 2019 zu rechnen. Es handle sich um ein Konzeptalbum, zu welchem es parallel eine Veröffentlichung des Autors Markus Heitz geben wird und der eng mit Hansi Kürsch, welcher die Texte für die Platte schreibt und der einzige "aktive Musiker" der Band auf dem Album sein wird, zusammenarbeitet. Auf ein mögliches Bundle angesprochen, sagt Olbrich: "Es geht da jetzt nicht um kommerzielle Gründe, sondern die Welt so tief wie möglich zu gestalten. Die Sachen funktionieren auch separat voneinander." Und ein Punkt ist André noch besonders wichtig: "Es gibt keine Metal-Band auf der Platte. Wir haben tatsächlich neue Kompositionen für Orchester geschrieben, nur für Orchester, und Hansi macht alle Gesänge, es gibt viele Chöre. Insgesamt gibt es viele klassische Elemente, aber es geht Richtung Soundtrack. BLIND GUARDIAN goes Soundtrack." Noch unklar ist, unter welchem Banner genau dieses Projekt veröffentlicht wird. Und auch über potenzielle Möglichkeiten der Live-Aufführungen wird bereits nachgedacht - hier ist allerdings noch nichts ansatzweise spruchreif.

Und als das Aunahmegerät schon abgeschaltet ist, fügt Olbrich abschließend noch an: "Das ist das Geilste, was BLIND GUARDIAN je gemacht hat." Na dann: vorfreuen und hoch mit den Erwartungen!

Redakteur:
Oliver Paßgang

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