PROVENANCE, THE: Interview mit Joel Lindell

21.11.2006 | 17:26

Seit nunmehr vier Alben ziehen die Schweden THE PROVENANCE ihr Ding konsequent durch – so konsequent, dass die aktuelle "Red Flags"-Langrille musikalisch überhaupt nichts mehr mit dem metallischen "25th Hour; Bleeding"-Debüt aus dem Jahr 2001 zu tun hat. Das Quintett operiert mittlerweile irgendwo zwischen ANATHEMA, KATATONIA und gehaltvollem Indie Rock, verbreitet absolut klischeefreie Dunkelheit auf höchstem Niveau und sollte mit den genannten Wunderkapellen in einem Atemzug genannt werden. Darüber hinaus ist Drummer/Texter/Bandsprachrohr Joel Lindell ein äußerst angenehmer Zeitgenosse, der dem Klischee des bierernsten, ständig zweifelnden Düsterkopps absolut nicht entspricht.


Oliver:
Joel, in einem Interview hast du mal gesagt, dass all jene, die sich nicht auf eurem Level bewegen, in der Welt von THE PROVENANCE nicht willkommen seien. Glaubst du, "Red Flags" macht es einigen Leuten leichter, mit euch Schritt zu halten?

Joel:
Das klingt jetzt nicht sehr sympathisch, oder? Ich weiß allerdings nicht mehr, in welchem Zusammenhang ich das gesagt habe. Aber wahrscheinlich war ich von den engstirnigen Leuten in der Musikszene generell genervt (lacht). Wie auch immer, "Red Flags" ist auf einigen Ebenen mit Sicherheit leichter zu verarbeiten als unsere vorigen Alben, da wir eine simplere Herangehensweise an das Songwriting als Ganzes gewählt haben. Dieses Album ist sehr geradlinig und ehrlich und hat einen sehr direkten Charakter. Aber wer denkt, wir hätten das gemacht, um mehr Leute anzusprechen, muss was am Kopf haben. Wir haben es gemacht, weil wir uns musikalisch weiterentwickeln und einen anderen Aspekt des Musikmachens herausgreifen wollten.

Oliver:
Vergleicht man das Artwork eurer aktuellen Platte mit dem des Vorgängers "How Would You Like To Be Spat At", fällt auf, dass die Stimmung, die sie verbreiten, unterschiedlicher kaum sein könnte. Wolltet ihr auch visuell hervorheben, dass sich eure Musik erneut verändert und weiterentwickelt hat?

Joel:
Tobias (Martinsson; v., g. – Anm. d. Verf.) und der Rest von uns haben es immer als wesentlich erachtet, zu versuchen, die Musik und die Texte durch das Artwork zu charakterisieren. Und da sich der musikalische Inhalt bis an die Grenze des Grotesken verändert hat, war es nicht so abwegig, dass dies auch beim Artwork der Fall sein würde. Bei uns tendieren die Artworks dazu, den verschiedenen musikalischen Stimmungen von THE PROVENANCE zu folgen und sie zu enthüllen, was damit zu tun hat, dass Tobias für sie verantwortlich ist.

Oliver:
Ihr nehmt euch insgesamt nicht sonderlich ernst und habt einen Hang zum Sarkasmus. Ich finde, dass die neue Scheibe durch die unterschwellige Aggression an einigen Stellen sarkastisch klingt.

Joel:
Ich versichere dir, auf diesem Album gibt es keinen Sarkasmus. Jetzt denkst du, dass ich gerade sarkastisch bin, aber das bin ich nicht (lacht). Aber es ist wahr, wir nehmen uns nicht allzu ernst. Unsere Musik ist definitiv ernsthafter, als wir uns in Interviews oder dem alltäglichen Leben präsentieren oder als Personen sind. "Red Flags" ist letztlich zu einer Dokumentation von Aggression, Frustration und dem persönlichen oder sozialen Kampf in der heutigen Gesellschaft geworden. Und ja, wir haben die Frustration auch musikalisch herausgestellt.

Oliver:
In der Info wird die Musik von "Red Flags" als "Gothic-gefärbt" bezeichnet. Da die Songs der Platte von der Oberflächlichkeit des durchschnittlichen Gothic Rocks kilometerweit entfernt sind, kommt eine derartige Bezeichnung fast einer Beleidigung gleich. Kannst du mit diesem Label leben?

Joel:
Ich kann dir zustimmen, dass es ein wenig unangemessen ist, "Red Flags" als "Gothic" zu bezeichnen. Aber da unsere vorherigen Alben irgendwie "Gothic-gefärbt" waren, vermute ich, dass dieses Label einfach weitervererbt wurde. Ich weiß nicht, wir haben uns nie besonders für solche Labels interessiert, so dass ich gar nicht wirklich sagen kann, was es ist, das wir spielen. Ich nenne es THE PROVENANCE.

Oliver:
Was war in diesem Zusammenhang der absurdeste musikalische Vergleich, den ihr bislang gehört habt?

Joel:
Ich glaube, der bisher beknackteste Vergleich war der mit ARCH ENEMY. Das Einzige, das wir gemeinsam haben, ist eine Sängerin. Aber ich weiß nicht, ich glaube, ich habe gelernt, solche Dinge zu ignorieren; sie sind ohnehin nicht sonderlich interessant.

Oliver:
Du beschreibst 'Second And Last But Not Always' als den offensichtlichen Lagerfeuer-Song des Jahres. Ich würde behaupten, dass einige Leute sofort ins Lagerfeuer springen, wenn sie ihn hören. Für mich ist er der hoffnungsloseste Track der gesamten Platte.

Joel:
(lacht) Brennt, ihr Bastarde, brennt! Es ist wirklich keine angenehme Geschichte, aber der Song ist einer der stärksten, die THE PROVENANCE bisher produziert haben. Was ihn stark macht, ist, dass er so simpel und herzerfüllt ist und nach Verzweiflung stinkt. Die Musik betont die Gefühle des Texts, der davon handelt, dass man geliebte Personen oder DIE geliebte Person verliert; damit ist jeder mehr oder weniger vertraut.

Oliver.
Im Kontext eurer Band macht es absolut Sinn, dass Tobias gerade zu diesem Song ein sehr cooles und trostloses Video gedreht hat.

Joel:
Als Band haben wir es immer als einen sehr positiven Aspekt angesehen, über all die unterschiedlichen Gebiete, die das Musikmachen beinhaltet, die Kontrolle zu haben: Musik, Texte, Artwork, Videos, etc. Und für die visuelle Seite haben wir Tobias, der dort mehr als kompetent ist. Tatsächlich ist er sogar absolut brillant. Es gibt heutzutage so viele Künstler, die in die Hände parasitärer und unfähiger Firmen geraten, die überhaupt keine Ahnung vom Künstlertum haben. Wir haben immer danach gestrebt, neue Herausforderungen zu suchen und unsere künstlerischen Dimensionen auszuweiten.

Oliver:
Ist der Titel eigentlich eine Anspielung auf das "First And Last And Always"-Album der SISTERS OF MERCY?

Joel:
Du bist der Erste, dem das aufgefallen ist. Ja, es ist eine Anspielung auf die SISTERS OF MERCY. Ich persönlich bin mit ihren Alben aufgewachsen, und bis heute gehören ihre Platten zu den relevantesten Alben, die ich kenne.

Oliver:
Das Schreiben der "How Would Like To Be Spat At"-Lyrics hat dich mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus enden lassen. Ich hoffe, diesmal ist dir nichts passiert.

Joel:
Ich rede nicht gerne über diesen Vorfall. Aber nein, dieses Mal habe ich einfach ein paar Dinge des alltäglichen Lebens aufgegriffen, wie soziale Ungerechtigkeit, Beziehungssachen verschiedener Art und andere Dinge, von denen ich das Gefühl hatte, dass sie raus müssen.

Oliver:
Der Text zu 'Crash Course' handelt von einem Typen, der sich mit seinem Auto umbringen will, was mich thematisch an David Cronenbergs "Crash" erinnert. In dem Film geht es um eine Gruppe von Leuten, der beim Verursachen von Autounfällen einer abgeht, wofür sie erhebliche körperliche Schäden oder den Tod in Kauf nimmt. Hat dich der Film inspiriert, oder beruht der Text auf einer wahren Begebenheit?

Joel:
Ich muss leider sagen, dass ich den Film bis jetzt nicht gesehen habe, aber ich verspreche, ihn mir so bald wie möglich anzuschauen; das klingt interessant. Der Text zu 'Crash Course' ist tatsächlich von Ereignissen des wahren Lebens inspiriert. Ich möchte das aber nicht näher ausführen, um den poetischen Rahmen nicht zu ruinieren.

Oliver:
Seit dem ersten Album gab es nicht einen einzigen Besetzungswechsel innerhalb eurer Band. Ihr scheint sehr gut zusammenzupassen.

Joel:
Wir passen definitiv sehr gut zusammen, und das ist der Grund, warum wir schon eine Weile dabei sind. Wir glauben an die Zusammenarbeit und daran, zu versuchen, die gleichen Ziele zu verwirklichen. Und wir respektieren und schätzen uns nicht nur als Individuen, sondern auch als Musiker und Künstler. Sich in- und auswendig zu kennen, hilft der Zusammenarbeit ungemein, und ich denke, wir würden uns alle schwertun, die Musik, die wir machen, mit anderen Leuten zu spielen. Als Band wussten wir schon immer, was die Grundidee hinter THE PROVENANCE ist, aber für jedes einzelne Album hatten wir andere Ziele.

Oliver:
Kannst du diese Ziele und deren Umsetzung mal kurz zusammenfassen? Wie würdest du die bisherigen Alben beschreiben?

Joel:
"25th Hour; Bleeding" hat eine sehr raue und jugendliche Stimmung. Wir haben dort zusammen mit einigen eher technischen Aspekten sehr viel Gebrauch von Folkmusik und Black Metal gemacht. "Still At Arms Length" hingegen ist ein entspannteres Album mit jeder Menge Hammonds, Flöten und Progressive-Art-Rock-Einflüssen, obwohl wir die Death-Metal-Vocals noch nicht entsorgt hatten. "How Would You Like To Be Spat At" ist das düsterste der vier Alben und beinhaltet Mini-Moogs und Gitarreneffekte aller Art. Dieses Album steht in der Tradition des experimentellen Doom und ist das erste mit ausschließlich cleanem Gesang. Und "Red Flags" ist, wie ich bereits sagte, eine eher geradlinige Geschichte, die irgendwie intensiver und doch bodenständiger ist als ihre Vorgänger. Wir wurden von Bands der Indie-Pop/Rock- und Emocore/Hardcore-Szene inspiriert und haben deren Auf-die-Schuhe-glotz-Parts und ausgefeilte Gesangsarrangements verarbeitet.

Oliver:
Ihr habt THE PROVENANCE damals unter dem Namen ASMODEUS gestartet. Würdest du diesen Namen heute noch mal auswählen?

Joel:
(lacht) Niemals! Wir waren jung und dumm.

Oliver:
Seid ihr euch eigentlich bewusst, dass ihr nicht mehr in den Kutten-Olymp aufsteigen könnt? Mit dem Abschneiden eurer Haare habt ihr eins der zehn Metal-Gebote krass missachtet. Wie konnte es nur so weit kommen?

Joel:
Was? Dessen war ich mir nicht bewusst. Haar wächst nach, und soweit ich weiß, ist die Musik sowieso nicht in den Haaren. Nach zwölf Jahren mit langen Haaren war es einfach ein gutes Gefühl, alles abzuschneiden. Und für all jene, die ernsthaft glauben, dass die Einstellung von langen oder kurzen Haaren abhängig ist: Keep up the good work!

Oliver:
Ich danke dir für das Interview, Joel.

Joel:
Pass auf dich auf! Cheers!

Redakteur:
Oliver Schneider

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