NERVOSA: Interview mit Prika Amaral, Helena Kotina, Hel Pyre, Michaela Naydenova

31.12.2023 | 13:52

Aus Brasilien kommen auch andere Thrash-Bands, nicht nur der Platzhirsch SEPULTURA, das ist soweit bekannt. Aber die weibliche Thrashtruppe NERVOSA fristet nach mehreren Alben trotzdem noch ein Nischendasein. Ob sich das mit dem neuen Langdreher "Jailbreak" wird ändern können? Fragen wir die sympathischen Mädels doch mal selbst.

Das neue Album heißt "Jailbreak", aber die Band war nicht wirklich im Gefängnis dafür, oder? "Nein, nein!" lachen alle. Prika erklärt: "Jailbreak kann auch anders interpretiert werden, man kann auch etwas tun müssen, das man hasst, nur für Geld, das ist ein Gefängnis, das man selbst schafft. Das meinen wir damit, sei frei, sei stolz auf dich selbst, orientiere dich nicht an einem Standard, den andere, meist über Social Media, dir vermitteln wollen. Das Leben ist kurz und wir verlieren so viel Zeit mit Bullshit."

NERVOSA spielte bereits zum wiederholten Mal auf dem "Summer Breeze Open Air"-Festival und lieferte wieder eine energiegeladene Thrash-Attacke, gespeist durch die heftigen Brecher ihres letzten Albums "Perpetual Chaos". Das Album war in den Pandemie-Zeiten entstanden mit einem neuen Line-Up, nachdem es im Bandgefüge Anfang 2020 heftig gescheppert hatte und sich die Band in NERVOSA und CRYPTA aufspaltete.

Stilistisch orientierte sich CRYPTA mehr in Richtung Death Metal, während NERVOSA fest im Thrash steht. Das kommt mir entgegen. Allerdings war jeder der drei Auftritte, die ich gesehen habe, durch diese Umbesetzungen anders, niemals schlecht, aber doch anders. Beim letzten fiel vor allem auf, dass Gitarristin und Bandchefin Prika Amaral nicht mehr so aktiv sein konnte, denn sie muss ja nun auch noch den Gesangspart übernehmen.

"Ich fühle mich dabei wohl", bekennt Prika, "ich habe jetzt auch eine Stimme und kann zu den Fans sprechen. Außerdem habe ich zwei großartige Mädchen rechts und links an meiner Seite, ich überlasse ihnen das Bewegen. Es macht für mich einen Unterschied, aber ich verstehe auch meine Aufgabe als Sängerin." Dabei macht sie ihre Sache fraglos sehr gut, aber ursprünglich wollte Prika gar nicht ans Mikrophon, doch die Umstände der letzten Jahre waren alles andere als einfach. Wie erwähnt brach die Band im April 2020 auseinander, was nichts völlig Ungewöhnliches im Musikbusiness ist. Normalerweise heißt es da, Mund abwischen und weitermachen. Aber im April 2020 war ja noch etwas anders, nämlich der Beginn der Covid-19-Pandemie. "Ich musste die neue Band zusammenstellen, ohne die anderen jemals persönlich getroffen zu haben. Das hielt leider nicht so, es fehlten die gemeinsamen Erfahrungen", bestätigt Prika. "Nachdem wir ein Album aufgenommen hatten, konnten wir touren, aber aus verschiedenen Gründen, gesundheitlich und künstlerisch, verließen einige Musiker die Band wieder. So habe ich beschlossen, dass ich keine weiteren Sängerinnenwechsel mehr haben möchte, das ist immer ein Risiko, und dachte, möglicherweise ist es Zeit, dieser Herausforderung zu begegnen." Ein großer Schritt, ist doch die Stimme zumeist das Aushängeschild einer Band. "Ich wusste nicht, ob ich das können würde, aber ich hatte die Gelegenheit, es zu probieren, als die Ankündigung kam, dass Diva die Band verlassen würde. Wir hatten eine Tour durch Lateinamerika und ich sagte, okay, ich kann einen Song jeden Abend singen und auch den Begleitgesang. Es waren 33 Auftritte mit wenig Schlaf, denn auf einer Tour durch Lateinamerika fliegt man viele und lange Strecken. Es war eine Herausforderung, aber danach fühlte ich mich gut dabei."

Da war das alte Problem trotzdem wieder präsent, denn auch wenn der Sängerposten nun geklärt war, brauchte Prika noch weitere Musikerinnen. Die zweite Gitarre übernahm Helena Kotina, die 2022 schon einmal eingesprungen war, aber ihre Rhythmusabteilung war komplett vakant, nachdem sich herausstellte, dass auch hier die neuen Musikerinnen nicht langfristig dabeibleiben würden. Dafür musste sie aber den Suchkreis deutlich vergrößern. "Ich habe in Brasilien keine guten Musikerinnen mehr gefunden, sodass ich jetzt die einzige Brasilianerin in der Band bin", bestätigt Prika. "Helena und Hel sind aus Griechenland und Schlagzeugerin Michaela stammt aus Bulgarien. Ich bin vor zwei Jahren bereits nach Italien gezogen, aber jetzt werde ich nach Griechenland ziehen, um näher bei den Mädchen zu sein. Michaela ist nur fünf Stunden mit dem Auto entfernt, dies ist ein positiver Aspekt der Wechsel, mit den anderen Line-Ups konnte ich mich nur zu den Liveshows treffen. Jetzt sind wie nahe und können eine richtige Band sein. Old school!" lacht Prika.

Das hat sich auch gleich ausgewirkt, denn Helena, die zweite Gitarristin, arbeitet jetzt mit Prika an den Songs. Auch wenn "Jailbreak" noch "ungefähr 70%" Prika Amaral ist, teilen sich die Musikerinnen nun das Songwriting. "Helena komponierte alle Soli auf dem neuen Album und fügte Details hinzu, sie unterstütze mich auch in den Lyrics. Wir sind schon gespannt darauf, an einem neuen Album zu arbeiten.", erklärt Prika.

Das ist ein gutes Stichwort, die Texte. NERVOSA hat zwar einige eher typische Thrash-Lyrics, aber immer wieder lugen durchaus politische Themen hervor. "Die meisten brasilianischen Bands sind in gewisser Weise politisch, das fing schon mit SEPULTURA an, KRISIUN, TORTURE SQUAD, aber es ist nicht immer nur politisch. In diesem Sinn haben wir sechs oder sieben Songs mit entsprechenden politischen Texten auf dem aktuellen Album, der Rest beschäftigt sich mit den Menschen, Leben besteht nicht nur aus Politik."

Aber als Ausgleich gibt es auch immer mal wieder Texte über Filme, Bücher, Fernsehserien. Was sind deine Top-3-Filme, die man gesehen haben sollte? Prika überlegt, dann nennt sie "Shutter Island" und "Seven". "Vielleicht sollten wir noch etwas Brasilianisches nennen, wir haben gute Filme aus Brasilien wie beispielsweise "City Of God".

Auch die neuen Damen werden in Zukunft an den Texten mitarbeiten. Das könnte interessant werden, wenn die beiden verschiedenen Perspektiven zusammenkommen, Brasilien und die Sicht von innerhalb der EU. Was ist der größte Unterschied? Prika antwortet spontan: "Die Gewalt. Die Gewalt und das Elend. Es gibt auch arme Menschen in Europa, aber kein echtes Elend. Echtes Elend ist, wenn Tausend Menschen pro Tag auf den Straßen verhungern. So etwas passiert in ganz Lateinamerika. Genauso die Gewalt, es gibt sie hier auch, aber es ist nicht das gleiche, hier sind Schusswaffen verboten. Ich hatte schon Schusswaffen in meinem Rücken, auf mein Gesicht gerichtet, es ist sehr verbreitet in Brasilien und fast unmöglich in Europa. Ich fühle mich hier sehr sicher. Es ist dort mal schlimmer, mal weniger schlimm, je nachdem, wer Präsident ist. Dabei st Brasilien ein reiches Land, wir haben viele Millionäre, ja sogar Milliardäre, aber gleichzeitig so viel Elend, Menschen, die vom Abfall leben."

Prika und NERVOSA nehmen kein Blatt vor den Mund. Ja, Thrash darf und soll ernste Themen aufnehmen, ich finde das erfrischend, die Lyrik von 'Bonded By Blood' ist passend, aber 'Fabulous Disaster' ist lyrisch in jeder Hinsicht besser. Es lohnt sich, bei den vier Damen auch zwischen den Zeilen zu lesen.

Und dann natürlich live dabei zu sein, wenn sie einen Club rocken. Ich habe die Band bisher nur auf Festivals gesehen, aber ich glaube, ein Club könnte ein wirklich intensives Erlebnis sein. Es stehen auch schon die nächsten Tourdaten fest, aber bislang bis auf das "Easter Cross Festival" in Oberndorf am Neckar noch keine in Deutschland. "Wir haben große Pläne, natürlich auch in Europa. es war keine einfache Zeit zuletzt, speziell für mich", bekennt Prika, "aber die Unterstützung war immer großartig, sie gibt mir Energie, nicht aufzugeben." Helena fügt hinzu: "Von nun an wird NERVOSA einen neuen Sound haben, etwas weniger Thrash, etwas mehr Heavy Metal, abwechslungsreicher. Ihr werdet überrascht sein, aber ein paar Geheimnisse behalten wir noch!"

Na gut, die ziehe ich euch dann beim nächsten Treffen aus der Nase.

Redakteur:
Frank Jaeger

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