In der Gruppentherapie: NEVERMORE - "The Obsidian Conspiracy"

24.05.2010 | 15:16

"Album des Monats" in unserem Soundcheck. Und doch ist das neue NEVERMORE-Album "The Obsidian Conspiracy" nicht gänzlich unumstritten, wie unsere Gruppentherapie beweist.


Fünf Jahre sind seit dem letzten, großartigen NEVERMORE-Album "This Godless Endeavor" vergangen. Zeit, die Goldkehlchen Warrel Dane und Saitenhexer Jeff Loomis zu Soloalben genutzt haben. Hört man nun "The Obsidian Conspiracy" hat man den Eindruck, dass diese Soloalben großen Einfluss auf das neue Material haben. Loomis hat sich auf seinem Werk so sehr ausgetobt, dass er es (verhältnismäßig) gelassener angeht und sehr viel songdienlicher und weniger technisch spielt als zuvor, während Dane den Raum, den es dadurch gibt, mit großer Leichtigkeit füllt. "The Obsidian Conspiracy" klingt leichter, luftiger, weniger technisch als die Vorgänger und erinnert dadurch durchaus an "Praises To The War Machine". Das ist vielleicht auch schon die größte Überraschung am neuen Werk. Nicht überraschend ist, dass das ganz auf extrem hohem Niveau stattfindet, man so viele Hammersongs am Start hat, dass man das leicht abfallende 'Your Poison Throne' nennen muss, um die Aufzählung abzukürzen, das Cover typisches NEVERMORE-Flair versprüht und die Produktion einmal mehr perfekt zum Sound der Band passt. Großartig.

Note: 9,0/10
[Peter Kubaschk]

Hoppala, da hat wohl jemand geklaut: NEVERMOREs 'Your Poison Throne' klingt im Refrain sehr(!) verdächtig nach STORMLORDs 'Mare Nostrum' aus dem Jahr 2008. In dieser Form abzukupfern, ist wirklich dreist. Das ist aber auch der einzig schwerwiegende Punkt, den ich zu bemängeln habe, denn "The Obsidian Conspiracy" ist der logische Nachfolger des hervorragenden "This Godless Endeavor". Die Musik ist typisch NEVERMORE und auch Warrel Dane zeigt sich wieder ich Höchstform. Beim Auftritt des 2009er Wacken Open Airs hatte ich den Eindruck, er sei nicht richtig bei der Sache gewesen, die Vermutung straft er jetzt Lügen. Kräftig und klar dröhnt der Sound aus den Boxen und lässt die Erde beben. Die Gitarren treiben ohne Ende, verfallen dann in die typischen Melodien und darüber ertönt Danes unverkennbare Stimme. Die Entwicklung der Band verdeutlicht sich in der Klangfarbe: "The Obsidian Conspiracy" ist wahrscheinlich das düsterste Album NEVERMOREs. Strahlende Hymnen ('Emptiness Unobstructed') lassen sie dennoch nicht vermissen. Die Amerikaner schaffen es, sich weiterzuentwickeln, ohne dabei ihren Fans auf die Füße zu treten. Stark.

Note: 8,5/10
[Pia-Kim Schaper]


Wenn man unfair wäre, müsste man zum neuen Album einfach sagen, dass es schon fast langweilig ist, auf welchem gleichbleibend hohen Niveau die Band komponiert. Natürlich ist "The Obsidian Conspiracy" wieder großartig, natürlich technisch auf hohem Niveau, Warrel wie üblich markant und ebenso selbstverständlich ist das Album nicht sofort zugänglich. Business as usual im Hause NEVERMORE. Aber ein bisschen maulen muss ich auch. Denn zwei weitere Dinge sind wie immer: Man kann "Dreaming Neon Black" und "Dead Heart In A Dead World" nicht toppen, und man verlässt den vor einigen Alben eingeschlagenen Pfad nicht. Der Vorgänger schien eine kleine Kursänderung anzudeuten, aber mit "The Obsidian Conspiracy" sind NEVERMORE wieder typisch NEVERMORE. Das wird die Fans freuen, die Verkaufszahlen auf hohem Niveau halten, und mich - leider ein wenig enttäuschen. Kann man wirklich davon reden, es "nur" mit einem grandiosen neuen NEVERMORE-Album zu tun zu haben? Nein, das wäre unfair, und dennoch: nach zahlreichen Durchgängen fehlt mir der zündende Funke, der das Album abhebt. Das verhindert die noch höhere Wertung, was aber zugegeben ein Problem des Augenblicks sein kann. In einigen Monaten sehe ich das vielleicht anders, aber den Luxus habe ich nicht, mir mehr Zeit lassen zu können. Zumal diese Rückbesinnung ja sogar für Einige ein Vorteil sein mag. Der kleinste gemeinsame Nenner dürfte in der Einschätzung bestehen, dass es ein Album ist, dass man haben muss. Und das ist ja erst einmal die Hauptsache.

Note: 8,5/10
[Frank Jaeger]

Mann habe ich mich auf diese Platte gefreut! "Dead Heart In A Dead World" war ein Meisterwerk, "Dreaming Neon Black" ebenso, und auch der letzte Output der Herren Dane/Loomis war durchaus eine starke Scheibe. Leider kann "The Obsidian Conspiracy" mit dem hohen Niveau der eben aufgezählten Platten nicht mithalten, nicht mal ansatzweise. Und während ich immer noch schockiert den 10. oder 20. Durchlauf starte denke ich mir jedes mal: "Der Julian hat recht in seiner Zweitrezi". Die ersten vier Lieder sind bestenfalls Durchschnitt, 'Your Poison Throne' mit dem bescheuerten "Rise!"-geshoute nicht mal das. Und wie bei Julian als Außenstehender, der sich vorher nicht viel mit NEVERMORE beschäftigt hat, stellt sich bei mir ständig der folgender Gedankengang ein: "Hm. der Song ist okay, aber nicht der Burner. Oh halt! Die Stelle klingt wie Song XYZ! Hach, schöner Song." - nur dass ich NEVERMORE seit "Dreaming Neon Black" vergöttere. Tatsächlich erinnert mich "The Obsidian Conspiracy" an vielen Stellen an die früheren Großtaten, deutet diese aber nur an. Der erste Höhepunkt kommt erst mit 'Emptiness Unobstructed', das allerdings eher als Powerballade daherkommt und mich in eine melancholische Stimmung versetzt. Genau wie früher 'The Sorrowed Man' oder 'Insignificant' - nur dass ich immer bei diesem Titel realisiere, wie traurig die Songs vorher waren, nicht wie traurig die Welt ist. Insgesamt sind die stärkeren Songs der Platte definitiv die Balladen bzw. ruhigeren Lieder, die NEVERMORE typische Energie und die Mischung aus Auflehnung und Resignation wie in 'Dead Heart In A Dead World' oder 'Born' fehlt völlig. Besonders die rebellischen und energiegeladenen Songs vermisse ich. NEVERMORE riffen vor sich hin und legen zwar das ein oder andere beeindruckende Solo hin, aber insgesamt scheint die "Sturm und Drang"-Phase wohl vorbei zu sein und man glänzt zwar gelegentlich an den melancholischen Stellen, versagt aber außer im Titeltrack an der musikalischen Auflehnung und Wut. Traurig, denn NEVERMORE waren früher genau das: "Sturm und Drang".

Note: 6,0/10
[Hagen Kempf]


'Is this perfection?', fragt Warrel Dane in der Hymne 'Emptiness Unobstructed', und legt damit den Finger in die Wunde. In gewisser Hinsicht ist "The Obsidian Conspiracy" nämlich 'zu perfekt' geworden. Wie eine Art Retrospektive verbindet das Album all die Elemente, für die NEVERMORE bekannt und geliebt sind, mutet dabei aber fast wie ein Phantombild des Bandstils an. Die fetten Gitarrenwände sind wie immer unerklimmbar, die Maschinengewehr-Bässe wälzen gewohnt gnadenlos eine laut Lyrics verdorbene und düstere Welt nieder; und Warrel könnte, während er den Untergang derselbigen prophezeit, einen Singalike-Wettbewerb gegen sich selbst gewinnen. Das Album ist so repräsentativ, dass es weh tut - vielleicht, weil beim Hören gespenstisch immer wieder bekannte Fragmente aufblitzen? Das würde gar nicht mal stören, nur wirken diese Fetzen bisweilen (vor allem in den ersten paar Songs) sehr aneinander konstruiert, hochdestilliert, was der technisch-kalte Sound noch unterstreicht. Sicher gibt es einige eigenständige Knüller wie das Schauermärchen 'And The Maiden Spoke' oder das ergreifende 'Blue Marble And The New Soul'; und verständlicherweise schreibt man nicht jedes Mal einen 'Final Product' oder 'Sentient 6'. Aber bloße Authenzität und déjà-écoute sind nicht das Gelbe vom Ei für eine Band, die dafür bekannt ist, sich selbst mit jedem Album neu zu erfinden. Vielleicht kommt alles auch nur so bekannt vor, wenn man als absoluter NEVERMORE-Nerd eh die gesamte Diskographie auswendig kennt? Der Rest der Hörer darf sich über ein brutales, modernes und mitreißendes Metal-Album freuen. Um berechtigt Stagnation zu beklagen, müsste man erst wieder gefühlte 50 Jahre auf das nächste Album warten. Und wie schlimm ist es, auf hohem Niveau zu stagnieren?

Note: 8,0/10
[Regina Löwenstein]

Ohne Vorwarnung, Auftakt oder Einleitung gleich mitten in das Gedresche geschmissen, werde ich von meiner erste Albenbegegnung mit NEVERMORE erst einmal verdutzt. Drei Minuten Orientierungslosigkeit im auralen Frontalangriff. Geradlinig nimmt die Obsidianverschwörung weiter ihren Lauf. Der bereits vergifte Thron riecht leicht nach Death Metal, der unterschwellige Groove fordert zum Aufstand auf, doch in der zweiten Hälfte wird es klassischer: Schreiendes, strudelndes Solo, bevor der modernere Refrain wieder ran darf. Doch nach wie vor regiert der reißbrettartig durchstrukturierte Thrash, gebadet in Heavy Metal Tradition, verchromt mit fetten Grooves. Auch der dritte Titel erinnert an eine truere, weitgehend enthartkernte Variante von MACHINE HEADs "The Blackening". Doch langsam schleicht sich Melodieseligkeit ein; wie bei DOWN, nur in schnell. Klingt sie also so, die schwarze Rock-Verschwörung? Jedenfalls tönen die Gitarren in No. 4 schon unheimlicher, atmosphärischer, obschon der unterlegte Groove stoisch weiterballert. Ich beginne mich heimischer zu fühlen. Metal as fuck! Allerdings wenig überraschend. Hatte nicht irgendein NEVERMORE-Kobold mir etwas von wegen "progressiv" ins Ohr geflüstert? Fehlanzeige, auch auf den weiteren 60% des Albums. Dafür aber gibt es zukunftsfähigen Traditionsstahl, der sich dem ein oder anderen moderneren Einfluss nicht verschließt.
Soviel lässt sich sagen: Ein gutklassiges (latent) konservatives Album ist "The Obsidian Conspiracy" geworden. Tight gespielt und kompakt durchkomponiert, dabei jedoch nicht zu reduziert im Sound. Mit einigen passend eingebetteten, schönen Gitarrenläufen versehen, sowie mit Klavier im leicht doomigen 'The Blue Marble And The New Soul', also genügend abwechslungsreich. Jedoch arm an packenden Momenten. Nichts zündet sofort, man muss sich schon bewusst darauf einlassen, der Musik wohl noch mehrere Durchläufe gönnen, als mir das bisher vergönnt war. Für ein abschließendes Urteil fühle ich mich somit noch nicht reif. Erste Zweifel bleiben bestehen, ob dies bei weiterem Wachstum die Hürde zwischen 7,x und dem Bereich 8 oder darüber wird langfristig nehmen können. Gegenwärtiger Vorschlag für eine Singleauskopplung: Das knackige 'Without Morals'. Mehr Pathos versprüht 'The Day You Built The Wall'. Eine kraftvolle Halbballade ist mit 'She Comes In Colors' vertreten. Und einen Titelsong gibt es auch. Klassischer Stoff eben.

[Eike Schmitz]

Redakteur:
Peter Kubaschk
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