IN EXTREMO: Interview mit Micha "Das Letzte Einhorn" Rhein

27.08.2024 | 10:06

"Fernsehgarten: No Way!"

Interviews mit Micha "Das Letzte Einhorn" Rhein sind gleichermaßen unterhaltsam und interessant. Auch wenn das neue Album viel gute Laune verbreitet, sind es die ersten Themen auf der Welt, über die wir nicht hinwegsehen können.

Hallo Micha, Wir wollen ein bisschen über euer neues Album "Wolkenschieber" sprechen, das am 06.09. erscheint. Was mich natürlich darüber hinaus interessiert: Ihr seid fast 30 Jahre zusammen als Band unterwegs. Wie hält man das so lange aus?
Einfach Ohropax rein und gar nicht drauf achten. Ne, Mensch. Eigentlich sind wir 'ne Familie. Da gibt es auch mal Hick Hack. Aber wir haben unsere Erfahrung, sind ja schon lange zusammen. Jetzt gerade ist es besser denn je, es ist echt verrückt. Auch wenn die Macken im Alter immer schlimmer werden. Aber du, wir halten zusammen. Das ist auch wie ein Geschenk des Himmels.

Einige Bands haben die Pandemie als Wendepunkt erlebt. Wie war das bei euch?
Absolut, das war natürlich für alle Hass in Säcken. Ich kann mich erinnern, wir waren in Japan auf Tour und haben noch Witze gemacht. Jeder zweite hatte eine Maske auf, was ja in asiatischen Ländern durchaus üblich ist. Auch im Flieger. Und dann kommen wir nach Hause und zwei Monate später tragen wir auch alle Masken. Das war total verrückt. Wir haben dann die Platte fertiggemacht, "Kompass zur Sonne". Wir haben die dann auch verschoben, die sollte im März rauskommen, wir haben sie dann auf Mai verschoben, weil alle gedacht haben in ein, zwei Monaten ist die ganze Sache wieder vorbei. Sie ist leider auch am 08. Mai rausgekommen, wo noch nichtmal der Media Markt offen hatten. Der Lockdown schlechthin. Trotzdem hat die sich bis jetzt so 60-70.000 Mal verkauft. Irre! Und ja, viele haben es nicht durch die Pandemie geschafft. Künstler, Musiker, Kneipen- oder Restaurantbesitzer. Wir hatten ein ganz gutes Polster, uns ging es gut. Nur die Langeweile hat einen irgendwo senil gemacht.

Für mich war das als Jahrgang 86 schon das einschneidenste Erlebnis meines bisherigen Lebens. Gibt es etwas aus eurer DDR-Vergangenheit, an das dich die Pandemie erinnert hat?
An die DDR habe ich in dem Moment überhaupt nicht gedacht. Es betraf ja ohnehin die ganze Welt, das sind zwei Paar Schuhe. Ganz konkret: Bei uns gab es erst nur die Möglichkeit, Autokonzerte zu machen. Ich habe mir das mal bei einer Band, deren Namen ich nicht nenne, angucken wollen. Ich habe nichtmal den Soundcheck abgewartet und bin wieder nach Hause gefahren. Den anderen habe ich am Telefon gesagt: Nur über meine Leiche. Wir haben stattdessen fünf oder sechs Strandkorb-Dinger gemacht, das war relativ gut. Hast natürlich nach jedem Strohhalm gegriffen. Hätte ich vorher nicht gedacht.

Dagegen sind Autokonzerte eher so, als ob du zuhause vorm Fernseher sitzt. Ohne Nähe zwischen Fans und Musikern.
Das ist dasselbe als wenn du im Fernsehgarten spielst. Wir haben jetzt gerade erst wieder die Möglichkeit gehabt, im Fernsehgarten aufzutreten. Haben uns nur kurz angeguckt, nach einer Zehntelsekunde war klar: No way! Man wird natürlich berühmt, wir haben viel erreicht. Aber man muss sich auch in den Spiegel gucken können.

Ich spüre da eine gewisse "jetzt erst recht"-Attitüde, die sich auch bei einigen Songs wieder eingeschlichen hat. Liegt das eher an den letzten Jahren?
Ja, unabhängig davon. Ich glaube, es spielt alles eine Rolle. Gerade in den letzten vier Jahren sind viele Sachen passiert. Das liegt natürlich auf der Straße, du musst nur mit offenen Augen durch die Welt gehen. Nimm als Beispiel 'Katzengold', wir haben's auch auf der "Quid Pro Quo" schonmal gemacht. Wir sind aber keine politische Band und werden es auch nie sein, wir sind Entertainer. Aber an manchen Sachen kommt man einfach nicht vorbei. Das finde ich wichtig, einfach mal Flagge zu zeigen und seinen Standpunkt klarzustellen. Ohne das mit der Brechstange zu machen oder mit dem Finger auf andere zu zeigen.

Lass uns gerne über schöne Dinge reden ...
... absolut, absolut!

Das Album heißt "Wolkenschieber" und ohne vorher eine Erwartungshaltung gehabt zu haben, funktioniert das mit dem Wolken-wegschieben von Anfang an.
Das freut mich total. Ich mache ja viele Interviews gerade und fast alle Journalisten sagen etwas in diese Richtung. Man selbst wird ja irgendwann auch betriebsblind. Der Titelname "Wolkenschieber", wir haben ja immer solche speziellen Namen. Unabhängig von dem Song ist die Welt schon dunkel genug gerade. Einfach mal die Wolken wegschieben und die gute Laune reinlassen. Ich glaube, das ist auch wichtig für das Gemüt der Menschen.

Stand für euch von Beginn an fest, dass ihr so ein Album machen wollt?
Also einen Plan zum Album haben wir noch nie gemacht, das ergibt sich alles. Man muss dazu sagen, dass unser Basti, unser Gitarrist, das kleine Genie, manchmal einfach Songs schreibt, da denkste dir: Wo hast'n das schon wieder her? Er ist auch selber Produzent und hat großen Anteil daran. Natürlich machen wir dann noch neue Sachen dazu, wir sind immerhin sechs Köpfe mit sechs Ideen. Die Mittelalterfraktion macht ihren Part und wir versuchen immer, mindestens eine traditionelle Sache reinzubringen. Im Mittelteil von 'Wolkenschieber', das ist ein originaler Saltarello aus dem elften Jahrhundert. Ich komme ja aus beiden Fraktionen, das fügen wir dann so zusammen, wie es passt. Wenn wir fertig sind, sind wir erst fertig wenn alle zufrieden sind.

Das klingt nach einem sehr demokratischen Prozess. Wer die alte "Rockpalast"-Doku über euch kennt, weiß, was ich meine. Zerfetzt man sich da auch mal?
Nee, überhaupt nicht. Manchmal gewinnt aber schon der, der am lautesten schreit.

Bist du das in der Regel?
Das kann jeder mal sein. Kommt wirklich ganz drauf an.

Du sagtest es mal in der "Rockpalast"-Doku: Manchmal arbeiten die anderen mehr, aber jeder will den Sänger sprechen. Ich spreche ganz gerne mit Bassisten, muss ich zugeben, da ich selbst auch Bass spiele. Wenn man dann aber nicht über die Texte sprechen kann, ist das immer etwas schade. Deswegen freue ich mich, dass wir heute das Vergnügen haben.
Wobei unser Bassist bei dem Album auch wieder viel geschrieben hat. Bei uns kann es sein, dass jemand mir einen Text gibt, den ich ganz umschreibe. Dann kommt manchmal was ganz anderes raus.

Gibt es denn bestimmte Songs auf dem Album, die irgendwie sofort da waren, wo ihr nicht viel dran machen musstet?
'Wolkenschieber' war schon ziemlich am Anfang da und auch 'Zarte Seele', die Ballade. Das ist aber auch harter Tobak, ein sehr, sehr spezieller Song. Das Video dazu kommt demnächst. Jeder kann sich da seine Zeilen rausnehmen, wie er das möchte oder wie er sich gerade fühlt. Für mich persönlich: Wir sind die Generation, die ihren Eltern auf Wiedersehen sagt. Diesen Text hätte man vor 20 Jahren nicht machen können. Mit ganz einfachen Worten zwar, aber auf den Punkt gebracht. Der Song ist natürlich auch Realität. Bei uns in der Band hat über die Hälfte schon mindestens einen Elternteil verloren. Ich habe den beim Einsingen bestimmt zehn Mal abbrechen müssen ... und nicht nur ich.

Diesen Song live zu singen wird nicht einfach, nehme ich an?
Absolut. Wir hatten schonmal so einen, 'Schenk noch mal ein', da war es ähnlich. Ich erinnere mich da an Konzerte wo bei 'Schenk noch mal ein' oder 'Gaukler' die heftigsten Heavy-Metal-Typen vor der Bühne standen in ihren Kutten und mit dem Mädel im Arm, mit umgedrehten Kreuzen behangen und so weiter, und losgeheult haben. Das ist einfach schön. Musik soll so etwas auch emotionalisieren.

Wo wir schon bei euren Fans sind, das Thema "Mittelalter" fiel ja gerade auch schon. Fühlt ihr euch dieser Szene noch verbunden?
Ist für uns völlig in Ordnung. Was die meisten ja nicht wissen, dass wir immer noch ganz viele alte Sachen einbauen. Wir sind zwar eine moderne Rockband und das Album ist auch wieder härter ausgefallen, trotzdem sind das auch unsere Wurzeln, die wir auch nicht verleugnen. Wir haben ja auch ganz große Pionierarbeit geleistet dafür.

Definitiv! Mich erinnert der Klang oft an "Sünder Ohne Zügel". Ein Album, mit dem ich als 14-Jähriger in Sachen Mittelalter- oder Folk-Metal sozialisiert wurde. Bleiben wir noch kurz beim Titelsong, zu dem ihr auch ein cooles Video gemacht habt. Es geht um den Apotheker Schultze, der 1874 einen besonderen Likör namens Wolkenschieber erfindet. Gibt es dafür eine realgeschichtliche Vorlage ode Rist das eure Prosa?
Die Berliner Apotheke gab es wirklich. Ich freue mich immer auf die Videos, wenn man so ein bisschen schauspielert. Wir haben im Video ja zwei Mädels dabei, eine davon ist meine Tochter. Sie ist mit der Band groß geworden, es bleibt also quasi in der Familie. Die Jungs sind ihre alten Onkel.

Wie wichtig sind Videos heutzutage noch? Früher wurden eure Videos ja nicht bei MTV gespielt, was euch auch den Ruf als "die größte unbekannte Band" beschert hat. Eure Videos kann heutzutage dank YouTube natürlich jeder sehen.
Ich glaube es ist schon wichtig, dass wir so zwei, drei Videos pro Album machen. Wir haben das immer gemacht, weil es ja im Fernsehen gar keine Musik mehr gibt. Und im Radio spielen sie auch nach wie vor nur ein bisschen Rockmusik. Da passiert so eine Band wie IN EXTREMO nur, wenn wir mal eine Woche in den Charts waren. Mittlerweile ist uns das aber herzlich egal.

Stört es euch nicht mehr, dass ihr auf Festivals konstant größer geworden seid und eine enorme Fanschar habt und trotzdem im Mainstream ignoriert werdet?
Natürlich hat uns das früher gefuchst wenn du mit fünf Alben auf der eins bist und trotzdem nicht erwähnt wirst. Das ist einfach nicht schön. Heute muss ich sagen: Spielt uns oder spielt uns nicht und leckt uns am Arsch.

Wobei der Tonträgermarkt in wirtschaftlicher Hinsicht vermutlich keine große Rolle mehr spielt?
Die Vorbestellungen sind nach wie vor gut. Wenn es in einer Musikrichtung noch klappt, dann im Metal. Aber klar, Live-Spielen ist viel wichtiger. Da kommen inzwischen die Eltern mit ihren Kindern aus ganz verschiedenen Gruppierungen. Das ist wirklich ein Geschenk. Warum das so ist? Weil wir so sind, wie wir sind, vermute ich. Unsere Fans von früher werden nummal älter und schleppen den Nachwuchs halt mit.

Zum Thema Konzerte habe ich bei meiner Recherche eine lustige Geschichte gefunden. Vor etlichen Jahren wurde scheinbar in einem RAMMSTEIN-Forum diskutiert, welche Band man denn am liebsten als Vorband sehen würde. IN EXTREMO stand in der Gunst der Mehrheit ganz weit vorne. Das fand ich schon überraschend. Würdet ihr das machen wenn das Angebot käme?
Du, warum nicht? Ich meine, wir kennen uns ewig. Der Flake ist ein richtig alter Jugendfreund von mir. Wir haben früher Musik zusammen gemacht. Wenn die Frage also käme, würde es uns natürlich freuen, vor allem, weil wir auch gut klarkommen. Wir haben uns jetzt seit Ewigkeiten nicht gesehen, weil wir alle viel unterwegs sind, aber mit Flake habe ich immer noch Kontakt.

Apropos Freunde und Musik. Ihr habt regelmäßig Gäste auf euren Alben und man liest in Interviews auch öfter, dass ihr gerne mal Udo Lindenberg dabei hättet. Das hat leider noch nicht geklappt.
Wir haben dieses Mal gar nicht angefragt, aber das wäre natürlich cool. Ich bin ein mega Udo-Lindenberg-Fan und kenne bestimmt 30 Texte auswendig. Aber wir haben genügend Gäste dabei, das meiste hat sich einfach so ergeben. Guck dir mal die Kellys an. Der Song passt einfach wie Arsch auf Eimer. Joe und ich sind seit über 30 Jahren nicht nur Kumpels, sondern richtig dicke Freunde. Und da habe ich Joe angerufen für den Song. Er kam ins Studio und meinte: "Ja, Jimmy kommt auch noch. Der kann eh besser singen als ich." Und Joachim Witt, ich meine, der ist 'ne Legende. Lass ihn sein, wie er will. Der ist 75 Jahre alt. Feiner Typ, schwarzer Humor. Er hat uns in Hamburg beim Konzert besucht, da zählt der Handschlag mehr als jeder Vertrag. Und wir haben da noch Henry von RAUHBEIN dabei. Die kannte vor zwei Jahren noch keiner, bis wir sie mitgenommen und ihnen eine Plattform geboten haben. Daraus ist eine richtig große Freundschaft entstanden, die Band wird nochmal richtig, richtig groß!

RAUHBEIN habt ihr auch bei eurem eigenen Festival nächste Woche (31.08.2024) auf der Peißnitzinsel in Halle dabei, oder?
Ja, genau. Wir haben hier auch Pionierarbeit geleistet. Wir wollten das eigentlich auf Burg Scharfenstein machen, aber der Pächter wollte so viele Klauseln reinschreiben, da hatten wir keinen Bock drauf. Deswegen haben wir es nach Halle verlegt. Wahnsinn, dass wir 9.000 Tickets verkauft haben.

Als Band kann man also auch ohne die Power großer Festival-Veranstalter etwas reißen?
Wir haben natürlich ein gutes Line-Up mit KNORKATOR und FEUERSCHWANZ noch dabei. Wir gehen dabei ordentlich in Vorkasse, danach fragt aber niemand. Ich kann auch eins verraten: Wir werden das 30-jährige Jubiläum feiern. Und zwar richtig. Das machen wir wieder auf der Loreley. Da sind wir im September 2025. Drei Tage, drei Jahrzehnte. Das Line-Up steht schon alles, ist alles in Sack und Tüten. Es wird einen riesigengroßen Mittelaltermarkt geben und wir werden an allen drei Tagen spielen.

Gibt es bei der Auswahl der Songs auch Nummern aus den drei Jahrzehnten, die ihr schon nicht mehr sehen könnt?
Ne, sowas haben wir eigentlich nicht. Die üblichen Verdächtigen müssen immer dabei sein. Hört sich vielleicht großspurig an, aber DEEP PURPLE ohne 'Smoke On The Water' geht genau so wenig wie wir ohne den 'Spielmannsfluch'. Wir werden dem einen oder anderen alten Song sicherlich ein modernes Soundgewand verpassen, weil wir damals noch nicht dieselben technischen Möglichkeiten hatten. Die werden sozusagen etwas aufgefrischt.

Da denke ich noch einmal an das Thema von vorhin, nämlich die Demokratie im Studio. Ziemlich Old-School, erst Rough Demos aufzunehmen und nicht einfach nur Riffs über die Dropbox durch die Gegend zu schicken. Als Fan weißt du ja rein vom Hören nicht, wie das ganze zustande gekommen ist.
Ich kenne das ja selber. Manchmal setze ich mir auf Festivals eine Mütze und Sonnenbrille auf und höre mir die Konzerte aus dem Publikum heraus an. Die Leute checken das gar nicht. Man darf nur nicht stehenbleiben. Ich höre schon den Unterschied, was davon am Reisbrett entstanden ist und was eben nicht.

Ich wünsche eurem Erfolgsgeheimnis auf jeden Fall noch ein paar schöne Jahre oder besser Jahrzehnte. Habt viel Spaß nächste Woche in Halle und vielleicht sprechen wir uns dann zum nächsten Album wieder. Danke für das Gespräch!
Bis dann, danke dir und ciao!

Photo-Credit: Robert Eikelpoth

Wolkenschieber



https://www.youtube.com/watch?v=EejbTglzkSM

Redakteur:
Nils Macher

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