Gruppentherapie: PHILM - "Fire From The Evening Sun"

07.10.2014 | 12:43

Das zweite Album dieser schrägen Truppe um Dave Lombardo auf dem Therapiesessel.

Auf Thomas Beckers Jubelarie (9,5 Punkte, zum Review) sollten hier auch ein paar kritische Stimmen zu "Fire From The Evening Sun" zu Wort kommen, schließlich wurde das Album im September-Soundcheck nicht nur wohlwollend aufgenommen. Doch entweder waren diese Redakteure so genervt von der Musik, dass sie streikten (Nils Macher) oder widersetzten sich der allgemeinen Einschätzung, dass sie das Album schlecht finden müssten (Mattes Freiesleben). Doch ist das Album nun wirklich so zappelig anstrengend und dabei bissig wie ein Haifisch, wie Thomas das so beschreibt? Und muss man das mögen, soll man das mögen, darf man das mögen? Lest selber!

Jetzt, da Dave Lombardo wohl endgültig bei SLAYER raus ist, scheint das Interesse an PHILM riesengroß zu sein. Die bekanntermaßen wenig toleranten SLAYER-Jünger werden "Fire From The Evening Sun" wahrscheinlich hassen. Zwar sind die Lombardo'schen Drumrolls unverkennbar, ansonsten hat PHILM jedoch rein gar nichts mit Daves ehemaligen Arbeitgebern zu tun. Protagonist und Hauptsongwriter ist nämlich Gerry Nestler (voc/git) von CIVIL DEFIANCE. Wer dessen Veröffentlichungen aus den Neunzigern kennt, weiß was ihn erwartet: Ein Dutzend abgedrehter, abwechslungsreicher und unberechenbarer Tracks. Wer nicht damit klar kommt, soll sich verdammt noch mal "Reign In Blood" zum millionsten Mal reinziehen. Wer seinen Horizont ein wenig erweitern will und Combos wie THOUGHT INDUSTRY oder GALACTIC COWBOYS zu schätzen weiß, ist hier genau richtig und wird vom Opener 'Trains', wie der Titel schon andeutet, förmlich überrollt, oder vom Spannungsbogen in 'Lions Pit' in den Wahnsinn getrieben.

Note: 8,5/10

[Alexander Fähnrich]

Als großer SLAYER-Anhänger war es Anfang 2013 natürlich ein Schock, als Lombardo vor die Tür gesetzt wurde. Doch da man bekanntlich das Beste aus seinem Schicksal machen muss, hat sich der gute Dave eben erneut Tomaselli und Nestler geschnappt und mit ihnen ein neues PHILM-Album eingetütet. Und schon früh steht fest, dass es der "Harmonic"-Nachfolger faustdick hinter den Ohren hat. Auch wenn mir eben das 2012er Werk im direkten Vergleich ein wenig besser gefallen hat, so gibt es an "Fire From The Evening Sun" eigentlich nichts zu meckern: Lombardos einzigartiger Stil wird auch heuer in jeder Faser deutlich, Gerrys facettenreicher Gesang gibt vielen Stücken das nötige Extra und die Spannung, für die auch Tomaselli zuständig ist, ist in jeder Minute greifbar. Und auch wenn ich mit Prog Rock und Experimental an sich nicht viel anfangen kann, so weiß ich die doch mehr als brauchbaren Klänge durchaus zu schätzen. Und die gibt es mit 'Train', dem Titelstück, dem chilligen 'Corner Girl' oder auch dem ausufernden Doppelschlag 'Blue Dragon'/'Turn The Sky' en masse. Ein Album, das gefällt; das man öfters auflegen sollte und auch muss, was dank der hochkarätigen Besetzung auch Beachtung finden sollte und speziell Tausendsassa Lombardo wieder in neuem Glanz erscheinen lässt. Die Jungs haben es einfach drauf.

Note: 8,0/10
[Marcel Rapp]

Wer diese Gruppentherapie nur flüchtig überfliegt, dem wird (bis hierher) zwei Mal SLAYER in Großbuchstaben ins Auge stechen (gut, jetzt sogar drei Mal) und man könnte daraus schlussfolgern: "Ah, der olle Lombardo haut mal wieder ne Thrash-Pladde raus." Nein, dem ist nicht so. Wenn man über "Fire From The Evening Sun" eines nicht sagen kann, dann, dass es stilistisch festgelegt wäre. Und lasst Euch ja nicht einreden, das hier wäre ein anstrengendes Album. Klar, Zustimmung insofern, dass sich die PHILM häufiger in ihrer Struktur sperrig, chaotisch, hektisch und wild in Szene setzt. Dennoch empfinde ich den Rundling als flüssig durchkomponiert; dass es dabei hin und wieder etwas atonal zugeht, steht dazu keineswegs im Widerspruch, sondern folgt einer gewissen Logik. Durch dieses variable, spannende Songwriting gerät "Fire From The Evening Sun" auch ungemein interessant und unterhaltsam. Nach bestimmt inzwischen zwanzig Durchläufen hat sich die Scheibe so fest ins Hirn gegraben, wurde jeder Song so intensiv inhaliert, dass ich nur feststellen kann, dass sich jeder Ton am richtigen Platz befindet. Die Vielfalt zwischen Alternative, Psychedelic und Progressive Rock gepaart mit dieser monumentalen Klanggewalt ist etwas wirklich Einzigartiges, ja Befreiendes im sonstigen Einheits-Einerlei. Und mit 'Train', 'Lady Of The Lake' als auch 'Lions Pit' hat man gleich mehrere potenzielle Songs des Jahres am Start. Anstrengend? Nö, sondern richtig groß!

Note: 9,5/10
[Stephan Voigtländer]

Wie schrieb unser Thomas noch in der Einleitung zur letzten Gruppentherapie zur neuen SANCTUARY so treffend? Musik von und mit Warrel Dane stünde für Qualität. Richtig! Selbiges lässt sich aber problemlos auch über Musik von und mit Dave Lombardo sagen. Der hat neben den hier bereits mit Großbuchstaben zu Hauf erschlagenen Totschlägern ja schon einige andere fette Kaliber abgeschossen, die aber zudem eine stilistische Bandbreite und Experimentierfreude abdecken, die öfters mal kurz davor ist, dem Fass den Boden auszuschlagen. Dass sich gerade der letztere Aspekt dadurch noch potenziert, dass niemand Geringerer als der zivil ungehorsame Gerry Nestler als Kreativkopf, Gitarrist und Stimmbandakrobat mit an Bord ist, versteht sich zumindest für all jene von selbst, die schon einmal das Vergnügen mit CIVIL DEFIANCE hatten. Wie es einige Vorredner schon andeuteten, ist die Blaupause für PHILM dann auch eher bei CIVIL DEFIANCE zu suchen als bei Dave Lombardos ehemaligem Arbeitgeber. Im Gegensatz zu Alex finde ich zwar schon den einen oder anderen zaghaften Querverweis zu den Thrash-Giganten, und eben nicht nur bei Lombardos Drumrolls, sondern zum Beispiel auch bei kleineren Teilen der Gesangsstruktur im starken Opener 'Train'. Doch davon abgesehen schlächtert in der Tat nur wenig bis nichts, da die Scheibe bis zum Anschlag mit experimentellen Elementen voll gepackt ist, die progressiv bis psychedelisch rockende Bereiche ebenso streifen wie industriell wirkende Grooves à la GRIP INC., jazzige Rhythmik, oder aber Gesangstheatralik zwischen sanfter Einfühlsamkeit, alternativen Nuancen und hysterischem Eskapismus. Erinnert sich jemand an 'Man On Fire'? Ja? Gut, denn auch hieran knüpfen Gerry Nestler und seine Mitstreiter mehr als nur einmal an. Dazu gibt es viele klangliche Experimente, die durch Sitar-artige Töne eine gewisse Orientalik streifen, dabei aber stets von einem tighten Groove der absolut spannend agierenden Rhythmusgruppe flankiert werden. Gerade auch bei einem doomigen, getragenen Exponat wie 'Lion's Pit' passiert sowohl auf der rhythmischen Ebene als auch im Bereich der Leadgitarren so viel, dass es eine wahre Freude ist. Doch, hier sind Meister am Werk, und auch wenn die stilistische Ausrichtung der Band nicht immer so ganz meinen Hörgewohnheiten entspricht, gibt es hier einfach irre viel zu entdecken, so dass ich ganz und gar nicht ausschließen möchte, dass die nachstehende Wertung in einiger Zeit mit mehr Hördurchgängen noch ein bisschen steigen könnte.

Note: 7,5/10
[Rüdiger Stehle]

Wer diese Seiten schon ein paar Monde länger liest, wird sich eventuell daran erinnern, dass ich den Vorgänger von PHILM sehr euphorisiert beschrieben habe (zum Review) und ich gehe soweit zu sagen, dass ich "Harmonic" heute sogar noch besser finde als vor zwei Jahren. Auf dem neuen Album zelebriert das Trio nun erneut hoch dynamischen Ekstase-Rock, der sich schwerlich kategorisieren lässt. Ist er vielleicht deshalb schon anstrengend? Oder liegt es daran, dass Dave Lombardo mit seinem Jazz'n'Thrash-Spiel die Oberflächenspannung über die gesamte Albumdistanz hin so hoch hält, dass man als Zuhörer die ganze Zeit darauf wartet, dass irgendetwas explodiert? Die zappeligen Basslinien des ehemalige WAR-Bassisten Francisco Tomaselli addieren weitere Hektik zum eh schon unentspannten Gesamtbild und Gerry Nestlers aggressiver Gesangstil scheint im Alter eher noch angepisster zu klingen. Ich habe beim Anhören des Albums das Gefühl in einem Ameisenhaufen zu sitzen und mit den Händen Honigwaben aus einem Bienenstock zu entwenden. Der ganze Körper ist in einer Erdmännchen-artigen Hab-Acht-Stellung und man kommt nicht umhin, herum zu zappeln. Für mich ist PHILM die absolut logische Fortsetzung der großartigen Band CIVIL DEFIANCE und somit erneut ein Anwärter auf einen Treppchenplatz am Jahresende.

Note: 9,5/10
[Holger Andrae]

Toll, das soll ich also nicht toll finden. [Da hat die Geschmackspolizei ja wieder sehr vorschnell geurteilt, dabei passt PHILM doch wunderbar in das Freieslebensche Beuteschema. - SV] Unter uns, liebe Leserin und lieber Leser, ich sollte in unserer PHILM-Therapiegruppe derjenige sein, der so ein bisschen meckern, schimpfen soll, der "Album-Naja-Finder" sein. Das haben sich die werten Kollegen ja fein ausgedacht. Ich weiß gar nicht, wie sie darauf kommen. Ich kenne die anderen Wertungen bisher auch gar nicht und daher auch nicht den tendenziellen Tenor. Aber hier wird die Rechnung mit dem Wirt gemacht, der Gärtner zum Wirt, Bock ... ach, was weiß ich! Denn nichts wird daraus. So verwirrt oder desorientiert das anfangs hier klingen soll, davon kann ich nichts bemerken. Das ist eingängige Rockmusik. Ein Ex-SLAYER-Drummer, der ab und zu wie Heute-SLAYER klingt. Eine interessante lebensgeprägte Reibkehle, der Bass brummelt in einem fort und ist immer am Puls der Zeit und Songs. So etwas interessiert mich doch ab dem ersten Ton, liebe Kollegen! Und ich kann auch ein gewisses Refrain-Strophe-Schema erkennen. PHILM ist ein Grenzgänger zwischen Experiment und Eingängigkeit. Klanglich geht da einiges ab, von der Hallgitarre über einem Echogesang kombiniert mit der unbarmherzig knarzigen Rhythmussektion ('Lady Of The Lake') bis zur filminspirierten Schlechtlauneballade mit Schreiattacken der Marke FANTOMAS ('Lions Pit') oder dem Surf Metal in 'Luxhafen'. Mir sagt diese Abwechslung äußerst zu! Kollegen, da gibt's kein Meckern - da gibt's den Leuchtedaumen!

Note: 8,5/10
[Mathias Freiesleben]

Stephan sieht Beeindruckendes und Befreiendes, Mattes zückt den Leuchtedaumen, Tom und Holg schicken gar einen bissigen Hai die Treppe hoch. Einzig Nils (vergibt fünf Punkte im September-Soundcheck) lässt kurz anklingen, dass die Musik "einfach unerträglich" sei, um die Gruppentherapie sodann genervt abzubrechen. Da komme dann ich ins Spiel, der sich sicherlich nicht "Reign In Blood" zum millionsten Mal reinziehen wird, wie Alexander vermutet. Aber so ganz begeistert wie die meisten meiner Kollegen hier bin ich dann doch nicht. Klar, abwechslungsreich und unberechenbar ist das, da stimme ich Alexander zu; die Rhythmusgruppe pulsiert, Refrain-Strophe (oder dazu Analoges) wird ausreichend geboten, wie Mattes zurecht anmerkt, und eben das, sowie zahlreiche Solospielchen lockern die laut Rüdiger mitunter "industriell wirkenden" Grooves auf, welche ich allerdings eher im derwischartigen Soundspektrum verorten würde. In der Tat klingt das dann spannend; und auch was die von Thomas angesprochene enorme Vokalbandbreite und das von Mattes diagnostizierte Grenzgängertum zwischen Experiment und Eingängigkeit anbelangt, stimmt meine Diagnose damit überein. Einzig holgersche Hochdynamik mit eingebautem Zappelzwang, thomasisches Hetzjagdpräzisionstiming, stephanitische Flüssigkomposition mit bestverortetem, hirnumstrukturierendem Tontiefbau - solcherlei Superlative konnte ich dann doch nicht ausmachen. Doch, Stephan, das ist ein anstrengendes Album! Die schiere Menge an Einflüssen, das ständige Pendeln zwischen Einfühlsamkeit und Bissigkeit, Hysterie und Groove, das chaotisch-hektische Element gegenüber dem unterschwellig-jazzig grollenden immer wieder auszuspielen, das ist nicht nur in seiner Struktur sperrig, das ist auch emotional anstrengend. Auch wenn es hier kompositorisch "eigentlich" nichts zu meckern gibt, wie Marcel anmerkt, haben die Musiker eines in meinen Ohren dann doch nicht drauf: Daraus bis in den letzten Winkel zusammengehaltene Songs zu zimmern. Wer auf das Ausschweifende musikalischer Streifzüge steht, und wer dafür nicht unbedingt die organisch erwachsene und mit sich im Reinen bleibende Psychedelik braucht, welche das Coverartwork verwirrenderweise noch suggeriert, sollte "Fire From The Evening Sun" trotzdem einen Suchlauf gönnen. Denn eine interessante Band ist PHILM allemal, und ihre hier gebotene Mischung aus flirrendem Posthardcore, versponnenem Progressivrock und ruppigem Metal wirklich einzigartig. Doch ob das noch wächst? Ich wäre mir da nicht so sicher...

Note:7,0/10
[Eike Schmitz]

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Review von Thomas Becker

Redakteur:
Thomas Becker
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