BIG STEEL SHIT - BorderLifeLine
Mehr über Big Steel Shit
- Genre:
- Alternative Metal / Experimental
- ∅-Note:
- 7.00
- Label:
- Crank Music Group / Inverse Records
- Release:
- 12.06.2015
- Welcome To
- A Bug's Day
- Family Manners
- Within The Heard
- Stabbing @ The Disco
- 0ˉ
- Growling Still
- Shot The Night
- Full Throttle
- Intersection
- To Fix Things Rights
- Tame Myself
- Toe The Line
- Chrysalis
Gewagt, gewagt!
Die Italiener BIG STEEL SHIT waren eine der großen Überraschungen meines Metaljahres 2012. Das Debütalbum "Shit Happens" glänzte mit einer irrwitzigen Mischung aus Grunge und Alternative, dabei immer wieder wohlige NWoBHM-Reminiszenzen verwendend, und ätzte in die verkrustete, faulige Post-Finanzkrisen-Ära hinein wie Lauge in schmutzige Satinbettwäsche. Umso erfreuter war ich, als die jungen Herren aus Taranto kürzlich den Nachfolger ihres Erstlings ankündigten. Nach einem Geniestreich wie "Shit Happens" darf ja mit einer routinierten, ausgefeilten Fortsetzung der eingeschlagenen Marschrichtung gerechnet werden, oder?
Doch Pustekuchen! Anstatt an sein Debüt anzuknüpfen, betreibt das Quintett auf "BorderLifeLine" eine geradezu radikale Neuorientierung. Der Sound ist derselbe, doch wurde das Songwriting um exotische Facetten erweitert, die Strukturen mit schwer zugänglichen progressiven Schemata ausgebaut. War schon "Big Steel Shit" eine gewagte, aber in sich ausgewogene Genremixtur, fährt "BorderLifeLine" eine deutlich experimentellere Schiene. Bemerkenswerter Ansatz für eine Band, die bisher fleißig den Underground beackert hat, mit einer solch radikalen Neuausrichtung allerdings auch Gefahr läuft, die noch überschaubare Fanschar schon wieder zu vergraulen.
Immerhin ist nach einem für die Italiener in ungekanntem Maße besinnlichen Intro beim ersten Song, 'A Bug's Day', sofort klar, mit wem wir es zu tun haben. Der grundlegende Sound von BIG STEEL SHIT ist immer noch kratzig, grungig, schnörkellos, und gemeinsam mit der so herrlich italienisch vibrierenden Stimme ihres Sängers Giovanni Lopriore besitzt die Truppe nach wie vor unverkennbare Wiedererkennungsmerkmale. Doch anstelle wieder in sich geschlossene Alternative-Metal-Kracher par excellence abzuliefern, werden auf dem als Konzeptalbum über die hoffnungslose Existenz eines Individuums angelegten "BorderLifeLine" nur in Ausnahmefällen nachvollziehbare Songstrukturen verwendet. Weder 'A Bug's Day' noch die folgenden 'Family Manners' und 'Within The Herd' bieten konventionelle Aufbauten, geschweige denn eingängige Klangfolgen. In schleppendem Tempo erzählen die Südeuropäer hier ihre tragische Geschichte, springen dabei von einem Experiment zum anderen, versuchen sich in lethargischen Halftime-Rhythmen, hektischen Upbeats und Doublebasseinlagen, und mischen ihren ohnehin schon rätselhaften neuen Stücken immer wieder auch noch elektronische Effekte bei, die mir auch nach mehreren Durchläufen in erster Linie auf die Nerven gehen. "BorderLifeLine" klingt mehr nach Spielwiese ohne Grenzen für die Herren Musiker denn nach einem in sich geschlossenen Werk.
Undurchdacht ist die Vorgehensweise auf Album Nr.2 der Südeuropäer allerdings mitnichten. Nehmen wir das zunächst gänzlich aus dem Rahmen fallende 'Stabbing @ The Disco': Hier bewegt sich die Band zunächst auf extrem schlichten Trancecore-Pfaden Marke ESKIMO CALLBOY und Konsorten – doch dann wird das Skelett Stück für Stück von seiner Elektrohaut befreit und eine bösartig hämmernde Generalabrechnung mit allen gesellschaftlichen Oberflächlichkeiten ans Tageslicht gebracht. Ziemlich coole Vorgehensweise. Außerdem offenbart Signore Lopriore auf "BorderLifeLine" eine zuvor ungekannte, meisterlich psychopathische Schreistimme. Wo andere Bands sich in kleinen Schritten weiterentwickeln, vollführt BIG STEEL SHIT also zwischen Debüt und Zweitwerk einen Quantensprung - allerdings keinen, der in jederlei Hinsicht nachvollziehbar wäre.
"BorderLifeLine" krankt folglich an zwei Hauptproblemen: Die ausufernden Experimente der Band lassen den Langspieler trotz des inhaltlichen Leitfadens in weiten Teilen wie Stückwerk erscheinen. Vielleicht hätte eine längere Entwicklung oder die Prüfung durch einen externen Produzenten hier für ein stringenteres Albumgefühl sorgen können. Infolgedessen kommen die Songs an sich lange Zeit nicht so recht in Fahrt. Experimente schön und gut, aber wer vormals für solch kompakte, dreckige Alternative-Metal-Bastarde wie 'Brakes Off' oder 'Misleading' verantwortlich zeichnete, lässt entsprechende Gegenstücke auf dem Nachfolgewerk schon schmerzhaft vermissen. Zahlreiche gute Ansätze täuschen nicht darüber hinweg, dass "BorderLifeLine" relativ lange vor sich hin plätschert, bevor am Ende mit 'Tame Myself' oder 'Crysalis' doch noch ein paar Nummern erreicht werden, welche wirklich als vollwertige Songs durchgehen. Auch die erwähnten elektronischen Spielereien besitzen größtenteils keinen Mehrwert. Hingegen stellen die ebenfalls neuen, ruhigen Passagen, wie das sphärische Interlude 'Intersection', einen deutlichen Gewinn dar - ebenso wie die Wutausflüge, die auf "Shit Happens" noch eher angedeuteten Charakter besaßen.
Ja, ich bleibe ein Fan dieser schon vormals durchgeknallten und unkonventionellen Band, und ich ziehe meinen Hut vor dem Mut und der Experimentierfreude, die auf "BorderLifeLine" an den Tag gelegt werden. Ich erfreue mich am gesteigerten Aggressionsgrad und den zurückgenommenen, besinnlichen Momenten sowie dem typischen Sound, der die Italiener auszeichnet. Und an einigen Stellen zündet die gewagte Mixtur ja schließlich doch. Den Zugang zu ihrer Musik haben die fünf Künstler jedoch deutlich erschwert, und sind mit ihrem zweiten Album für meinen Geschmack ein Stück weit übers Ziel hinausgeschossen. Aber vielleicht genügt ein gutes Dutzend Hördurchgänge ja auch nicht für ein abschließendes Urteil. Zunächst bleibt nur das Fazit, dass, wer immer (wie der Verfasser dieser Zeilen) seine Freude an "Shit Happens" hatte, mit "BorderLifeLine" komplett neu anfangen muss.
Anspieltipps: Tame Myself, Stabbing @ The Disco, 0¯, To Fix Things Right
(Anmerkung: Von den musikalischen Herausforderungen abgesehen weiß „BorderLifeLine“ inhaltlich voll zu überzeugen. Die tragische Geschichte um den Absturz des "hoffnunglsosen, unterwürfigen Garrett" wird in den 14 Songs hautnah greifbar gemacht, und im abschließenden 'Chrysalis' formuliert die Band auf gewitzte Weise einen zusammenfassende Moral von der Geschicht.)
- Note:
- 7.00
- Redakteur:
- Timon Krause