PORCUPINE TREE: Steven Wilson im Interview

02.09.2009 | 12:38

Für die Prog-Gemeinde ist "The Incident" von PORCUPINE TREE wohl das am sehnsüchtigsten erwartete Album des Jahres neben der neuen DREAM THEATER. Und ein 55-minütiger Titeltrack hat die Erwartungshaltung sicher nicht gedämpft. Wir sprachen mit Steven Wilson.

Ein Interview mit Steven Wilson ist eine angenehme, einfache Angelegenheit. Man braucht ihm nur einen kurzen Brocken hinzuwerfen und bekommt ausführliche, gerne geistreiche Antworten. Das kann dann auch mal ein minutenlanger Monolog sein, der dabei aber nie langweilig wird, sondern zeigt, dass Steven Wilson mit mehr als offenen Augen und Ohren durch die Welt geht. Diesen offenen Augen und Ohren haben wir auch die Idee hinter "The Incident" zu verdanken. "Ich bin eines Abends vom Studio aus nach Hause gefahren und da war ein Schild auf der Straße, "Polizei - Störung!" ("Incident" = Störung, Vorfall, Ereignis – PK) und ich fragte mich natürlich, was da passiert sei und dachte an ein Straßenschild, das auf die Straße gefallen ist oder etwas ähnlich Harmloses. Leider stellte sich heraus, dass es sich bei dieser "Störung" um einen schrecklichen Autounfall handelte, bei dem Menschen gestorben sind. Da ist mir bewusst geworden, wie oft dieses Wort benutzt wird, um schreckliche Ereignisse zu entpersonalisieren. Ich habe auf die Medien geachtet und ständig gab es diese "Störungen". Ein Erdbeben in Indien, bei dem Tausende von Menschen starben, eine Kindesentführung, Autounfälle, Mord, all diese Dinge wurden als "Störung" beschrieben. Und ich finde es irgendwie krank, dass diese schrecklichen Dinge so verharmlost werden, auch wenn ich verstehe, warum es getan wird. Wir können nicht bei allen schrecklichen Dingen, die tagtäglich auf der Welt passieren, mitfühlen, denn dann wäre jeder von uns ein emotionales Wrack. Andererseits möchte ich mitfühlen, denn wenn man dies nicht macht, stumpft man ab und fühlt gar nichts mehr. Zudem finde ich es absolut nicht richtig, dass diese wirklich traurigen Ereignisse einen nicht berühren sollen, während der Tod von Michael Jackson, diesem großartigen Mensch und Künstler, überall Thema ist und man die Leute dazu bringen möchte, dass alle trauern und dies als schreckliches Ereignis sehen. Natürlich ist der Tod von Michael Jackson eine tragische Sache, dass dieser aber so viel mehr Beachtung bekommt als Tausende von Toten in Indien, ist nicht richtig. Das Konzept des Albums basiert also darauf einige dieser "Störungen", auch aus meinem eigenen Leben, wieder persönlich zu machen, wieder zu Ereignissen zu machen, die einen berühren."

Entsprechend unterschiedlich sind die einzelnen Teile des Songs, die stellenweise erstaunlich positiv und optimistisch klingen. "Ja, das ist richtig. Ich habe da auch über mein eigenes Leben nachgedacht und einige Erlebnisse verarbeitet. Und nicht alle dieser "Störungen" waren negativ, einige "Vorfälle" waren gut und haben mein Leben nachhaltig positiv beeinflusst, während andere mein Leben negativ beeinflusst haben und sehr traumatisch waren. Und ich denke, dass es sich um Ereignisse handelt, zu denen der Hörer einen einfachen Bezug haben kann, die vielen schon passiert sind oder passieren können. Dass die Musik dabei irgendwie positiv klingt, liegt in der Natur der Musik. Eine Menge der Musik, die ich mag, ist per Definition erst mal melancholisch und auf gleiche Weise ist die Musik aber ausgesprochen schön und wirkt irgendwie aufbauend. Viele der schönsten Balladen der Welt handeln von sehr traurigen Dingen, vom Auseinanderbrechen einer Beziehung oder gar vom Tod. Aber wenn man diese Songs dann hört, geht es einem irgendwie besser. Und ich denke, das ist bei "The Incident" ähnlich. Denn von den Lyrics her ist die Platte schon eher traurig und düster, zumindest aber melancholisch, aber die Songs versprühen durchaus positive Vibes."

Die versprüht auch 'Drawing The Line', das mit einer wunderschönen, aber sehr simplen Melodie beginnt. "Es ist oft so, dass die einfachen Melodien am Schönsten sind, weil sie so natürlich klingen. Aber es ist wirklich schwierig sie zu komponieren und sie dann auch so natürlich klingen zu lassen. Die Melodie zu Beginn von 'Drawing The Line' ist einer von vielen, vielen Versuchen, sicher der Zwanzigste. Es ist wie bei einem Gedicht, wo du auch erst 19 Seiten in den Papierkorb wirfst, bevor du die exakt richtigen Worte gefunden hast. Und die überraschenderweise die einfachsten Worte sind. Aber das ist auch grundsätzlich ein Ziel, das ich mit PORCUPINE TREE habe. Ich bin kein großer Freund von komplexen Melodien, auch wenn wir durchaus Parts haben, die komplex sind. Aber es darf nie komplex sein, um komplex zu sein, nicht technisch sein, nur um technisch zu sein. Wir haben immer den Anspruch, dass unsere Musik zugänglich und nachvollziehbar ist."

Dieser Anspruch ist ungleich schwieriger zu erreichen, wenn ein Song 55 Minuten dauert. Für Steven Wilson war dennoch von Anfang an klar, dass es auf "The Incident" so sein sollte. "Die Idee hatte ich schon bevor ich auch nur eine Note Musik geschrieben hatte. Ich wollte einen Song schreiben, der durchaus Parts hat, die für sich selbst stehen können wie 'Drawing The Line' oder 'Time Flys', der aber insgesamt einen Fluss hat. Das war die Vorstellung, die ich am Anfang hatte. Und es gibt neben den genannten Songs auch viele Teile, die als einzelner Song nicht funktionieren würden, sie sind so geschrieben, dass sie ein Teil des Ganzen sind. Und das unterscheidet "The Incident" dann auch ganz klar von unseren bisherigen Alben, die eben aus einzelnen Songs bestehen, die man am Ende in eine passende Reihenfolge bringt. Hier war von Beginn an klar, wie die Songs aufeinander aufbauen und es gibt keine Möglichkeit sie in einer anderen Reihenfolge zu hören. Das ist so ähnlich wie bei einer Geschichte. Da beginnt man auch am Anfang zu lesen und liest nicht erst Kapitel acht, dann drei und dann Kapitel fünf. Man liest Seite für Seite vom Anfang zum Ende. So wie man jetzt Ton für Ton hören muss."


Im Anschluss kann man dann noch der zweiten CD lauschen, die dem Album beiliegt. Steven Wilson ist sich aber durchaus bewusst, dass diese Songs ein bisschen wie Stiefkinder behandelt werden. "Ja, ich denke, das ist unvermeidlich. Aber was sonst hätten wir tun sollen? Wir denken, dass es sehr starke Songs sind, die veröffentlicht werden sollen. Klar, wir hätten es als separate EP veröffentlichen können, aber das hätte nichts daran geändert, dass sie vom Album überschattet worden wäre. Und die Fans hätte es zudem mehr Geld gekostet. Und es ist einfach so, dass die Songs nicht zum Titeltrack passen, weshalb wir sie auf eine zweite CD packen. Klar, vielleicht konzentrieren sich die Hörer jetzt erst mal auf die erste CD. Aber wenn die Leute die CD in einem, zwei oder fünf Jahren wieder rausholen, entdecken sie diese vier Songs vielleicht neu. Sie sind ja so etwas wie Kurzgeschichten am Ende eines Romans. Und sie sind es wert, gehört zu werden. Wir hätten sie natürlich auch einfach ans Ende der ersten Disk packen können, aber ich denke, dass auch dies nichts geändert hätte. Im Gegenteil, sie hätten wie ein Anhängsel gewirkt, das einfach ans Ende getackert wurde. Aber das ist nicht der Fall. Wir haben an diesen Songs genauso hart gearbeitet wie an jeder anderen Note auf dem Album. Ich finde sogar, dass die Leute die zweie Disk gar nicht im Anschluss an 'The Incident' hören sollten, sondern sie besser an einem anderen Tag, vielleicht sogar in einer anderen Woche auflegen, da die Nummern schon anders klingen als der Rest."

Der Titeltrack wird dann auch den Hauptteil der anstehenden Tour ausmachen. "Ja, wir werden in der ersten Hälfte der Show die kompletten 55 Minuten von 'The Incident' spielen. Das ist zwar sehr kompromisslos, aber ich denke, man darf da die Fans auch nicht unterschätzen. Sie sind es schon gewohnt, dass wir Songs mit einer Länge von 17 Minuten spielen. Klar, es ist viel verlangt, einem Song 55 Minuten Aufmerksamkeit zu schenken, gerade live, aber am Ende ist unser Publikum genau das, das so etwas fordert und möchte."

Dieses Publikum ist auch sehr treu und sorgt dafür, dass PORCUPINE TREE auch in schwierigen Zeiten immer noch mehr Alben verkaufen als zuvor. "Das ist richtig, aber ich würde mich schon wundern, wenn wir von "The Incident" mehr Platten verkaufen als von "Fear Of A Blank Planet". Allerdings glaube ich auch, dass mehr Menschen denn je ein Album von PORCUPINE TREE hören werden. Albumverkäufe sind mittlerweile einfach kein wirklicher Maßstab mehr für die Anzahl der Leute, die deine Musik mögen. Und ich mache Musik nicht, um Platten zu verkaufen, sondern um so viele Leute wie möglich zu erreichen. Aber ich würde natürlich lügen, wenn ich sagen würde, dass mich die Verkäufe nicht interessieren, immerhin lebe ich von der Musik. Es ist nicht so, dass wir viel Geld damit verdienen, aber es ist genug, um keine Kompromisse bei der Musik machen zu müssen. Wenn also jemand entscheidet, ein Album herunterzuladen, ganz gleich, ob illegal oder gegen Bezahlung, dann ist das okay. Ich persönlich würde aber immer das echte, physische Produkt bevorzugen, einfach weil die Verpackung und das Booklet Teil des Gesamtpaketes sind und zum Statement des Musikers gehören." Neben der normalen Version gibt es natürlich auch eine Special Edition, die dieses Mal sogar etwas spezieller ausgefallen ist. "Es gibt eine wundervolle Special Edition. Die ist zwar mit rund 80 Euro recht teuer, aber sie ist es wirklich wert. Es gibt ein 120-seitiges Hardcover-Buch, ein 48-seitiges Taschenbuch, eine DVD und zwei CDs in einer sehr hübschen Box. Das ist wirklich eine tolle Edition. Und wir sind in der glücklichen Lage, Fans zu haben, die so etwas noch wertschätzen und kaufen. Letztendlich kauft man damit ja auch nicht nur eine CD, diese Special Edition ist in gewisser Weise Kunst. Bei einem Bild denkt auch niemand darüber nach, ob es das wert ist. Und da die Auflage gering ist, kann man diese Edition auch durchaus als Geldanlage sehen. Eben wie bei einem Bild auch."

Redakteur:
Peter Kubaschk

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