In der Gruppentherapie: PORCUPINE TREE - "The Incident"

25.09.2009 | 15:59

Wir sezieren für euch das neben "Black Clouds & Silver Linings" am meisten erwartete Prog-Album des Jahres. Kann ein 55-minütiges Epos auch Nicht-Proggies begeistern?


Depression, Pessimismus, die Gesellschaft in der Abwärtsspirale – auf "Fear Of A Blank Planet" und Steven Wilsons Soloalbum "Insurgentes" gibt es kaum Helligkeit, keine Lösung der Anspannung, ausschließlich Sackgassen und Fassungslosigkeit. Die positiven Augenblicke, die das neue PORCUPINE TREE-Werk offenbart, sind die nötige Reaktion darauf. Ohne Lichtquelle wird man wunderlich. Und so bietet die Ein-Song-Ansage "The Incident" Nachdenklichkeit zum Zweck des Weiterkommens. 55 Minuten lang. 55 Minuten Musik, die keine verzichtbare Passage enthalten und mit wiederholt auftauchenden Motiven ausgekleidet sind – so viel Konzept-Artrock steckt dann doch in Wilson, auch wenn der Brite es nicht gerne hört. Ohnehin muss eine stärkere Classic-Prog-Neigung als zuletzt festgestellt werden. Spätestens bei den Drum-Loops und dem heruntergestimmten Gitarren-Riff des Titelkapitels wird man jedoch daran erinnert, dass PORCUPINE TREE immer schon ein vorzeigbares Gegenmodell zu irgendwann geistig eingerasteten Richtlinienpredigern waren. Die mit wunderbaren Melodiebögen sowie ihrer Konkurrenzlosigkeit beeindruckenden 'Drawing The Line', 'Kneel And Disconnect', 'The Blind House', 'I Drive The Hearse' und 'Remember Me Lover' können nur von einer Band stammen, die nicht in einem gemütlich eingerichteten Apartment in der Seifenblase haust. Die Virtuosität macht ziemlich glücklich. Auch diesmal.

Note: 9,0/10
[Oliver Schneider]

PORCUPINE TREE sind eine Band für die ergreifenden und gefühlvollen Momente. Auch auf "The Incident" gibt es einige davon, denn erneut entsprangen diverse tolle Melodien und großartig arrangierte Songs der Feder der Briten - und doch, irgendwie will sich die ganz große Begeisterung nicht einstellen. Insgesamt passiert mir in dem in 14 kürzere Stücke unterteilten Mammut-Track, der mit 55 Minuten Länge ein wahrhaft episches Ausmaß erreicht, ein bisschen zu wenig. Die Kompositionen sind erwartungsgemäß großartig, nehmen sich aber vielleicht ein bisschen zu sehr zurück. Musikalisch ist "The Incident" ein exzellentes Stück Klangkunst, die fantastische Stimme von Steven Wilson tönt sanft und doch bestimmt über dem harmonisch-melancholischen Reigen und etliche Melodien auf dem Album können zu Tränen rühren. Aber man muss in der Stimmung dafür sein, sonst könnte man sich doch an ein paar ebenso vorhandenen Längen stören (dazu gehört für mich z.B. auch der Titeltrack). Allerdings, ein Album, auf dem solch fantastische Songs wie 'Drawing The Line', 'I Drive The Hearse', das gegen Ende FLOYD-eske 'Time Flies', das verschachtelte 'Octane Twisted' und das angenehmerweise mal etwas härtere 'The Blind House' stehen, ist nicht nur "recht gut" oder "einigermaßen gelungen", soviel steht fest. PORCUPINE TREE-Fans kommen hier voll auf ihre Kosten, ebenso können Musikliebhaber, die sich an sehr melodischen und ruhigen Klängen mit einem gewissen Hang zur Melancholie nicht stören, bedenkenlos zugreifen.

Note: 8,0/10

[Stephan Voigtländer]


Steven Wilson ist eine feste Größe im Prog, und mit seinem neuen Werk untermauert er diesen Status. Aber er wäre nicht Wilson, wenn er einfach nur ein neues Album veröffentlichen würde, einfach "nur" eine natürliche Entwicklung durchlaufen würde wie andere Bands und Musiker. Stattdessen geht es wieder ins Extrem, indem der Meister einen einzigen, langen Song komponierte, der alle seine Trademarks enthält, diese aber in ein monumentales Werk einfließen lässt und dadurch etwas für ihn noch Einzigartiges schafft. Man muss diese CD als Gesamtkunstwerk sehen und seine anfängliche Unzugänglichkeit ob der schieren Länge akzeptieren. Denn schon bald entpuppt sich "The Incident" als Stammgast im Player, der die zweite Scheibe völlig in den Schatten stellt. Nicht, dass die Songs schlecht wären, ach wo - aber nach dem ausufernden Epos können sie nicht mehr glänzen. Doch auch ohne die vier zusätzlichen Tracks wäre das neue PORCUPINE TREE-Album jeden Cent wert, so dass keine Frage aufkommt - das Ding muss man haben, wenn man Wilsons Prog mag. Wo ich von "Fear Of A Blank Planet" ein wenig enttäuscht war, hat Steven mich jetzt wieder völlig versöhnt.

Note: 8,5/10
[Frank Jaeger]

Zugegeben: Progressive Metal ist nicht meine bevorzugte musikalische Spielwiese. Und dennoch gibt es immer wieder Bands, die mich in ihren Bann ziehen und von deren Musik bei mir mehr im Gehirnstübchen haften bleibt als die Erkenntnis, dass diese Musiker ihre Instrumente richtig gut beherrschen. Bei PORCUPINE TREE ist eindeutig Ersteres der Fall. "The Incident" ist ein Scheibchen, das neben schwelgerischer Verträumtheit und tollen Gesangslinien zumindest phasenweise durchaus kraftvoll tönt. Die druckvoll agierende Rhythmus-Sektion leistet hierzu einen wesentlichen Beitrag. Die warm klingende Stimme von Gitarrist und Sänger Steven Wilson spricht das Innerste an, und wenn seine Stimme von sanften Akustikgitarren umgarnt wird, fühlt man sich an ganz frühe GENESIS-Tage erinnert. "The Incident" ist ein Album aus einem Guss, das schlüssig und mitreißend von Genre-Koryphäen inszeniert wird. Fazit: bekennenden Prog-Skeptiker überzeugt.

Note: 8,0/10
[Martin Loga]


Ich bin ja ein Freund von progressiven Klängen und grundsätzlich auch PORCUPINE TREE zugetan, aber "The Incident" macht es einem nicht leicht, sie gut oder gar toll zu finden. So war mein erster Eindruck eher, dass Steven Wilson dieses Mal zu kopflastig, wirr und gar zäh komponiert hatte. Da wollte rein gar nichts hängen bleiben, und ich war schon etwas enttäuscht. Gerade die ersten Songs plätscherten an mir spurlos vorbei, bis 'Drawing The Line' mit seinem rockigen Drive so etwas wie Begeisterung bei mir auslösen konnte. Danach wieder Verwirrung. Die immer wieder eingestreuten, kurzen Intermezzi sorgten in meinem Ohren dafür, dass die ganze Chose zerfahren klang. Dieser Eindruck wollte sich auch nach mehrfachem Anhören unterm Kopfhörer nicht ändern, bis es dann auf einmal "Klick" machte und ich von einzelnen Songs wirklich mitgerissen wurde. Von da ab wuchs (und wächst) "The Incident" mit jedem Durchlauf, wobei ich vor allem das elf Minuten lange Kernstück 'Time Flies' herausheben möchte. Trotz der sehr langen instrumentalen Passage ist diese Komposition extrem einprägsam, was unter anderem an der grandiosen Gesangsmelodie liegt, die diese wortlose Phase einbettet. Aber auch 'The Blind House' oder 'Flicker' beweisen, dass progressive Rockmusik von heute extrem viel Spaß machen kann. Auch wenn man in das Album offensichtlich etwas Zeit investieren muss, kann ich nur sagen, dass sich diese Zeit am Ende lohnt. Eigentlich hatte ich auch nichts anderes erwartet.

Note: 8,0/10
[Holger Andrae]

Redakteur:
Peter Kubaschk

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