AMORPHIS: Expeditionen ins Tierreich - Listening Session zu "Borderland"
10.07.2025 | 23:31Nach fünfunddreißig Jahren kommt Studioalbum Nummer Fünfzehn. Ein erster Einblick in ein Album, mit dem Band und Label Großes vorhaben.
Hamberg, Baden-Württemberg. Hier ist Reigning Phoenix Music ansässig. Ja, man hat es geschafft, aus dem kleinen Donzdorf, dem früheren Heim von Nuclear Blast und Atomic Fire Records, in eine noch verschlafenere Gegend an den Ausläufern des Schwarzwaldes zu ziehen. Aber Labelchef Sven Bogner, der nicht nur Metalfan, sondern auch erfolgreicher Unternehmer ist, stammt von hier und ich muss zugeben, nach jeder weiteren Kurve, die sich durch das satte Grün schlängelt, kann man den Reiz der Natur in dieser schönen Gegend nachvollziehen. Dann kommt Hamberg. Hier sieht erst einmal noch nichts nach Metal aus, aber dieser Schein soll sich als trügerisch erweisen, denn Bogner hat hier Großes vor. Ich verspreche, zu diesem Thema wird es später noch einmal mehr geben, aber heute stehen Andere im Mittelpunkt, denn es geht ins "Borderland" mit AMORPHIS.
Mitten im Ort liegt ein Gasthof namens Grüner Baum, ein gehobenes, deutsches Ambiente zwischen Landgasthof und Konferenzhotel, gemütlich, aber professionell, neu, aber nicht unpassend modern. Tolle Speisekarte, das hier ist gehobene Küche, ich ziehe das Wort Landgasthof zurück. Das Treffen ist nebenan, im Braustüble, ebenfalls neu, aber rustikaler, ein Raum, in dem sich bereits mehr als ein Dutzend Journalisten tummeln. Huch, eigentlich sind wir, Katharina und ich, die Abordnung von POWERMETAL.de, pünktlich, aber wohl doch unter den Letzten, die ankommen. Ein kurzes Kennenlernen zeigt, wir sind international unterwegs, Italien, Frankreich, Spanien. Schön. Es wird Flammkuchen gereicht, lecker, die Atmosphäre ist locker, aber gespannt. Denn AMORPHIS ist schon eine Hausnummer, zu einer Zeit, als ich noch viel zu jung war, um mit echten Growls etwas anfangen zu können, in meiner kindlichen Unreife von knapp dreißig Lebensjahren, hatten die Finnen mit "Tales From The Thousand Lakes" ein Scheibchen vorgelegt, das ich auch in meiner eigenen Ignoranz nicht doof finden konnte.
Seitdem sind ein paar Liter Wasser die Donau runter und mehrere großartige AMORPHIS-Alben in meine Richtung über den Ladentisch gegangen, von denen sich tatsächlich jedes als stark und stärker herausgestellt hat. Ab "Eclipse" hat die Band über zwei Jahrzehnte ihren Stil verfeinert und nur Volltreffer abgeliefert. Müsste ich ein Album zum besten küren, ich würde mich schwertun. Vielleicht ist es ja "Borderland"? Dann geht es los, hinüber in einen kleinen Heimkino-Saal, den Labelchef Bogner zur Verfügung stellt. Guter Sound, Texte auf der großen Leinwand, das ist ein angenehmes Hörerlebnis. Beste Voraussetzungen für das Album, denn ein zufriedener Journalist ist ein wohlwollender Journalist. Oder?
Wir dürfen das ganze Album einmal am Stück komplett durchhören. Ich empfehle, das mal mit einem neuen Album zu versuchen und danach seine Eindrücke zu Papier zu bringen. Es ist ziemlich schwierig, eigentlich wollte ich gerne sofort noch einmal von vorne anfangen, ein paar Teile nachhören, Texte erneut lesen. Aber da müssen wir uns jetzt genauso gedulden wie ihr. Wir haben während des Hörens ein paar Notizen gemacht und versuchten, das Gehörte einzuordnen, zu interpretieren und in einen AMORPHIS-Kontext zu setzen. Ob uns das wirklich gelungen ist, könnt ihr selbst beurteilen, wenn ihr diesen Artikel erneut lest, wenn "Borderland" erschienen sein wird. Ich bin gespannt, ob uns im Nachhinein irgendetwas des Folgenden peinlich sein muss.
So geht es los mit "Borderland" und dem Opener 'The Circle', der dramatisch beginnt und dann sehr eingängig bleibt. Okay, am Refrain erkennt man die Finnen sofort, sie haben ihren Stil verfeinert und trauen sich, neben den Trademarks auch mal den Fuß tief in poppiges Flachwasser zu stecken. Einmal dürfen Growls durchbrechen, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir es hier im positiven Sinn mit einem radiotauglichen Song zu tun haben. Oh je, sollte AMORPHIS etwa...? Nein, 'Bones' ist wieder härter und ein gegrowlter Stampfer, aber natürlich auch mit der Extraportion Melodie gesegnet, die einen schönen Kontrast setzt zum Gesang. Das Stück hat orientalische Anklänge und ein Keyboardsolo, einen Geister und Friedhof-Text, aber ich glaube, hier brauche ich mehr Durchgänge. Nett, aber nicht spektakulär.
Das übernimmt dann 'Dancing Shadows', das wiederum seicht beginnt und dann - tanzbar wird! Hätte AMORPHIS so etwas gemacht, wenn die Band bereits 1977 aktiv gewesen wäre? Das ist eine durchaus angenehme Überraschung, die die Grenzen für die Band weiter verschiebt. Dazu singt Tomi über diverse Tiere, Wiesel, Otter, Walross und Robbe. Es soll nicht das letzte Mal sein. Doch zuerst kommt 'Fog To Fog', das langsam beginnt und kraftvoll die große Tüte Bombast auspackt. Auffällig finde ich das songdienlich zurückhaltende Gitarrensolo, auch der Wechsel aus Growls und Klargesang ist wieder da. Nichts Neues in Finnland, könnte man sagen, aber das war auch nicht zu erwarten. Ich will ein schönes AMORPHIS-Album, keinen Experimentalrock-Tonträger. Bislang werde ich bestens bedient.
Auch 'The Strange' schlägt in diese Kerbe, ist hochmelodisch und dramatisch und auch der zweite Teil unserer Reise durch Brehms Tierleben, denn nun folgen Adler, Bär, Forelle und Reh. Die Naturthemen sind auch nicht neu, aber nett umgesetzt. Das balladeske 'Tempest' leitet die zweite Hälfte des Albums ein, bleibt ruhig bis auf einen Ausbruch im Mittelteil, und bereitet das Feld für die erste Singleauskopplung des Albums, 'Light And Shadow'. Wahrscheinlich hast du sie bereits gehört, denn das Lied ist seit Anfang Juni überall zu hören. Eine interessante und mutige Auskopplung, finde ich, denn die Band ruft hier zum zweiten Mal zum Tanzen auf. Ob wir das Stück demnächst in den einschlägigen Clubs werden hören dürfen? Gegen Ende bin ich bereit, mitzusingen. Schönes Lied!
Mit 'Lantern' wird das Ende so langsam eingeleitet. Ruhig, folkig, melodisch, melancholisch wären die Attribute, die ich instinktiv zücke, aber das Lied wirkt im Vergleich etwas blass beim ersten Hören. Und ein Schmetterling im Text, stimmt, den hatten wir noch nicht. Ein Rabe fehlt auch noch. Vielleicht bekommen wir den im kraftvollen Titelsong, 'Borderland'. Besonders interessant ist hier der Text, der eine Situation erst aus der Vaterperspektive, dann aus der Sicht des Sohnes erzählt. Ich muss zugeben, an dieser Stelle bin ich etwas überfordert. Die Schmeichelmelodie, unterbrochen durch Growls, die besonders eingängige Keyboarduntermalung, dazu dann der mit viel Text versehene und ungewöhnlich vertrackte Refrain machen eine seltsame Mischung, die sich mir erst im Laufe des Stückes ein wenig eröffnet. Als das Lied vorbei ist, würde ich es gerne sofort erneut hören.
Zum Abschluss folgt mit 'Despair' noch ein spätes Highlight, das vor allem lyrisch nach nordischen Weiten klingt, eine gewisse Verzweiflung transportiert, die auch einen Einzug in die Musik gefunden hat, aber natürlich nur im Bandkontext. Es wirkt sehnsüchtig, melancholisch, bildet einen krassen Kontrast zu 'Dancing Shadows' oder 'Light And Shadow'. Das ist mein aktuelles Album-Highlight, aber eventuell auch nur, weil ich es als letztes im Ohr habe. Ich bin gespannt, wie sich die Lieder nach ein paar Spins machen werden. Aber darauf muss ich noch eine ganze Weile warten.
Mit dem tollen Klang in Sven Bogners Heimkino kommt die große, fette Soundwand gut zum Tragen, die Produzent Jacob Hansen für die Band gezaubert hat. Das gesamte Album ist eindrucksvoll, einerseits typisch AMORPHIS, andererseits mit vorsichtigen Neuerungen, die aber keinen Fan vor den Kopf stoßen werden. Eine Einordnung im Vergleich zu "Halo" fällt mir schwer. Ich würde sagen, "Borderland" klingt aus einem Guss, live könnte die Band sicher das ganze Album spielen und ich würde wahrscheinlich nicht mosern.
Erwähnenswert ist das Cover von Opus Nummer fünfzehn, denn im Gegensatz zu den letzten Alben, die eher abstrakt und technisch wirken, ist man nun wieder zu einem echten Bild zurückgekehrt, das den Schwan aus "Silent Waters"-Zeiten zurückbringt und sicher voller Symbolik steckt, die ich in Unkenntnis der nordischen Mythologie nicht verstehe. Dafür sind mir immer noch einzelne Stücke des Albums im Ohr, spätere Diskussionen mit den Kollegen offenbaren, dass wir keinen einzelnen, gemeinsamen Hit ausmachen können. Immer wieder fallen andere Songtitel. Die Frage ist also, fehlt dem Album ein Hit?
Nach einem Durchlauf und der allgemeinen Begeisterung glaube ich eher, dass das gesamte Kompositionsniveau so hoch ist, dass sich kein Lied einzeln durchsetzen kann. Wir schwanken zwischen 'Borderland', der Single 'Light And Shadow', ich bringe den Opener 'The Circle' ins Spiel, die metallischere Fraktion hebt 'Bones' auf die Tagesordnung, wer es etwas melancholischer mag, erwähnt 'Despair'. Es wird interessant sein, diese Gespräche in zwei Monaten mit dem Album zu vergleichen, denn wir haben ja alle jedes Lied nur ein einziges Mal gehört.
Den ganzen Abend kommen wir immer wieder auf das Album zurück, trotz ausreichend anderer Gesprächsthemen und bei einem hervorragenden Abendessen - Chefkoch Claudio Urru hat übrigens einen Michelin-Stern - und dem Hamberger Bier, dem Calva Nigra. So neigt sich ein spannender Tag dem Ende entgegen, der uns mehrere Erkenntnisse gebracht hat. Da ist natürlich zuerst "Borderland", auf das ich nun durchaus gespannt bin, aber auch weiß, dass es bald neben "Halo" im Regal stehen wird.
Aber auch, dass in Hamberg gerade etwas geschieht, von dem wir sicher noch einiges hören werden, denn Sven Bogner und das Team von Reigning Phoenix Music geben hier richtig Gas. Ja, es liegt versteckt, aber ich könnte mir vorstellen, dass die Straßen des Dorfes Hamberg in der Zukunft sehr häufig durch Metalkutten verschönert sein werden. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich mir noch für euch aufhebe.
Fotos: Frank Jaeger
Transparenzhinweis: Wir wurden von Reigning Phoenix Music zu dieser Listening Session eingeladen, das Label hat alle Kosten getragen. Dies hat keinen Einfluss auf unsere Berichterstattung.
- Redakteur:
- Frank Jaeger