Gruppentherapie: RAVEN - "All Hell's Breaking Loose"

08.07.2023 | 09:32

ADHS-Geknüppel oder unzähmbar genial?

Was hat RAVEN mit SCAR SYMMETRY gemeinsam? Nun, beide teilen mit ihren neuen Alben den Platz acht im aktuellen Soundcheck (zum Juni-Soundcheck 2023) und beide werden dort notentechnisch kontrovers gesehen. Beide sind damit ideale Themen für unsere Gruppentherapie. Und während sich Kollege Walter Scheurer in seiner Hauptrezension (7,5 Punkte für "All Hell's Breaking Loose") relativ neutral gibt, batteln sich die Geschmäcker bei den anderen Beitragenden gehörig.

Na, da haben die Gebrüder Gallagher mit ihrem neuen Schlagzeuger Mike doch ein schönes, zweites Scheibchen eingespielt, doch im Vergleich zum beinah schon übermächtigen "Metal City" wirkt "All Hell's Breaking Loose" ein wenig unausgereift und hüftsteif. Nach wie vor zelebriert RAVEN den Tempostahl mit kräftigem NWoBHM-Einschlag wie eine gut geölte Maschine: Die Doublebass-Attacken sitzen, die Gallaghers haben Bock auf neue Mucke und mit 'Surf The Tsunami' sowie 'Desperate Measures' haben sie auch amtliche Hits am Start. Warum ist das aktuelle Bollwerk also zwei ganze Notenpunkte schlechter als "Metal City"? Nun, das 2020er Werk traf mich wie ein Blitzschlag, da ich von Beginn an komplett von den Socken gehauen wurde und das Überraschungsmoment mich zu solch einer hohen Note bewogen hat. Natürlich muss sich "All Hell's Breaking Loose" dieser hohen Messlatte stellen - einerseits unfair, andererseits auch nicht unmöglich. Zudem sind 'Medieval', 'The Far Side' und 'Turn Of The Screw' zwar gute RAVEN-Kost, doch so richtig satt machen mich die Songs leider nicht, ihnen fehlt der letzte Kick. Vielleicht liegt es auch an der Trägheit des Junis, an der nicht ganz so dynamischen Produktion oder schlichtweg daran, dass das Trio Infernale sich nochmal zurücknimmt, um mit dem nächsten Studioalbum wieder die Wände durchzuschlagen. So, wie es "Metal City" vor drei Jahren schaffte.

Note: 7,0/10
[Marcel Rapp]

Marcel analysiert das neue RAVEN-Album "All Hell's Breaking Loose" im Grunde recht treffend. Aber man kann seinen Zeilen auch entnehmen, dass er diese seit Beginn der 1980er aktive Band erst seit kurzem so richtig auf dem Schirm hat und nun im Schnelldurchlauf etwas erlebt, was ein alter Sack wie ich schon längst weiß: RAVEN-Alben unterscheiden sich nicht allzu sehr voneinander. Dafür sind die Gallagher-Brüder zu fixiert auf und überzeugt von ihrem ureigenen Sound, den man manchmal Proto-Speed Metal nennt. Was kann ich also hier beisteuern als Veteran, der von dieser Band seit Mitte der 1980er generell eine sehr hohe Meinung, aber trotzdem kein einziges Album gekauft hat? Ich würde mich freuen, wenn die Musik von RAVEN regelmäßig im Radio liefe, weil sie gute Laune verbreitet und ordentlich Feuer unterm Hintern hat, vieles locker bedient, was man am UK-Rock/Metal so liebt. Aber letztlich fehlt mir dann doch der letzte Schliff Nachhaltigkeit und dauerhafte Begeisterung um RAVEN und auch "All Hell's Breaking Loose" in mein Allerheiligstes aufzunehmen. Man freut sich halt, wenn ein RAVEN-Song gespielt wird, aber man vermisst ihn auch nicht, wenn er auf sich warten lässt. You decide!

Note: 7,5/10
[Martin van der Laan]

RAVEN ist für mich eine Band, die mich seit 1982 mehr oder weniger konstant begleitet. Damals wanderte das zweite Album "Wiped Out" in mein Kassettendeck und ich war sofort Feuer und Flamme. Etwas verspätet folgte dann die Picture-LP des Vorgängers "Rock Until You Drop". Das wundervolle Artwork dieser wegweisenden Chaos-Platte visualisiert genau das, was man von dem Trio akustisch geboten bekommt: extrem hektischen Heavy Metal mit einer mitreißenden Tendenz zur Hyperventilation. Erst mit dem dritten und für mich besten Album "All For One" gelang es der Band etwas kontrolliert die Notenachterbahnen zu benutzen und eigentlich dachte ich, damit würde einem größeren Erfolg wenig im Wege stehen. Es folgte zwar der Labelwechsel zum Major Atlantic, aber kommerziell erfolgreicher wurde es da auch nicht. Der etwas glattere Klang wollte nicht in Einklang mit Johns schrillem Gesang funktionieren und so wanderte man Anfang der 90er zurück zum Indie Steamhammer und brachte eine beinahe progressiv-verschachtelte Scheibe namens "Architect Of Fear" heraus. Von da an schien es den Gallagher-Brüdern immer völlig gleichgültig zu sein, welcher Trend gerade angesagt war. Man zog seinen sehr eigenen Stiefel sehr konsequent durch und konnte auch live immer wieder aufs Neue komplett begeistern. Trotzdem gelang es der Band nicht, Kapital aus dieser beachtenswerten Beständigkeit zu ziehen. Erst mit dem letzten Album "Metal City" kam wieder etwas Schwung in die Popularitätskurve. Von immer gleich klingenden Alben kann also genau so wenig die Rede sein wie von noch fehlender Nachhaltigkeit in Sachen Hits. Wer 'Break The Chain', 'Faster Than The Speed Of Light' oder 'Speed Of The Reflex' nicht als Klassiker in seiner DNA verankern konnte, scheint irgendwie nicht mit mir verwandt zu sein.

Lege ich das aktuelle Album auf, werde ich unwillkürlich vom rasanten Turbolader 'Medieval' am Schlawittchen erwischt. So geht also dieses Heil'ge Blechle! Das ist Musik, die den Hörer unwillkürlich erschlägt, seine komplette Aufmerksamkeit einfordert und zwar nicht, weil man progressiv im Zickzack trommelt, sondern weil man auch 40 Jahre später noch immer altersunmilde so viele Noten wie möglich in einen Takt klöppelt. Dazu der noch immer wunderbar schrille Gesang von Mark, dessen Organ allein schon ein Alleinstellungsmerkmal für RAVEN darstellt. Ich bin sofort begeistert! Ein Zustand, der sich beim ultra-schnellen 'Surf The Tsunami' sogar noch verstärkt, denn hier ist vor allem Jung-Rabe Mike Heller am Schlagzeug mit ungebremster Energie im achten Gang unterwegs. Was für ein Monster-Song! Und genau so geht es im weiteren Verlauf der Scheibe weiter. Keine Spur von Abnutzungserscheinungen, keine Füller, nur Stoff, der jeden normal denkenden Hintern zum Wippen bringt. John zwirbelt gewohnt abgefahrene Notenfolgen aus seiner Sechssaitigen und während seiner hirnzersetzenden Solomomente pumpen die anderen Beiden jegliche Soundlöcher zu. Ich vergleiche die Band immer gern mit ihren Artgenossen von ANVIL, sehe und höre aber den Unterschied in der Unbekümmert- und Spritzigkeit. Während mich jede RAVEN-Show sofort begeistert, mag ich die immer gleiche ANVIL-Show halt einfach nicht mehr sehen. Wenn die beiden Gallagher-Brüder bereits nach zwei Songs in Schweiß gebadet, aber überglücklich, ihr Ding abziehen, ist das einfach eine unglaubliche Energieübertragung, die ihnen auf diesem Album hier zu 100% auch im Studio gelungen ist. Vielleicht sollte es mal einen RAVEN-Film geben, damit die Jungs hier auch mal auf allen Kanälen abgefeiert werden. Ist ihnen vielleicht auch einfach völlig egal. Der Respekt vieler junger Kollegen ist ihnen gewiss. Wäre halt nett, wenn mal einer von denen diese Truppe mit in größere Hallen als Support nehmen würde. Passiert leider nicht, denn keiner möchte nach dieser Energie-Kanone abstinken. Ihr merkt es: Ich bin schockverliebt!

Note: 9,0/10
[Holger Andrae]

"Thus quoth the raven, nevermore" – Naja, so schlimm ist es nun auch nicht, aber ich würde einiges tun um "All Hell's Breaking Loose" einmal mit Holgers Ohren zu lauschen. Aber leider habe ich beim Lesen seines Reviews mehr Spaß als beim Hören der gesamten Platte. Und dabei hat RAVEN sich doch, so wie ich das Konzept verstehe, gerade das Vermitteln von guter Laune auf die Fahne geschrieben. Klappt halt nur so semi und lässt mich mit Fragezeichen (oder wie Holger es beschreibt vielleicht auch etwas "überfordert") zurück. Das ist mir in der Tat zu sehr ADHS-Geknüppel, da auch insbesondere der Gesang kein Interesse an gemäßigteren Takten hat und sich fast überschlägt. Ich muss zugeben, das wirkt auf mich schon fast albern bzw. parodistisch veranlagt (dieser Titeltrack…Hilfe). Da kann mein Kollege noch so viele Wünsche nach wenigstens etwas Fame äußern, RAVEN ist so sehr Nische, dass kommerzieller Erfolg geradezu abwegig erscheint, egal wie viele Kritiker und Magazine das Album jetzt abfeiern. Seinen Vergleich zu ANVIL finde ich übrigens auch sehr gelungen, da sich mir auch diese Band lange Zeit nicht wirklichen erschlossen hatte und ich tatsächlich erst durch "Die Geschichte einer Freundschaft" den Zugang gefunden habe. Und ich könnte mir vorstellen, dass mit einem solchen Film (wer macht eine Petition?) und einer persönlichen Live-Premiere diese Band für mich auch irgendwann "Klick" macht. Bis dahin bleibt es dabei - ich kann mir keine drei Songs am Stück von den Jungs aus Newcastle anhören. Vielleicht bin ich doch nicht genug Metal für diese Art von Unterhaltung.

Note: 5,5/10
[Stefan Rosenthal]

Ein kleines Stückchen weit hat der gute Stefan ja schon recht, mit seinen unerhörten, fast schon bandschlächterischen Ausführungen zu den stählernen Raben. Zumindest wenn es um manche objektivierbare Feststellungen geht, denn fraglos ist das Schaffen der alten NWoBHM-Recken absolut hyperaktiv, wild, hektisch, nicht unter Kontrolle zu kriegen. John Gallaghers überdrehte, hysterische Sirene, Bruder Marks Zappelbuden-Riffs und Achterbahnfahrt-Leads, die dir jeden Wirbel mit der Geschwindigkeit eines unwillkürlichen Eigenreflexes einzeln ins Gehirn drücken, und einfach die ganze, geballte Adrenalin-Überdosis, die sich über dich ergießt und dich umhaut. Ob das gleich für ein Syndrom ausreicht, mag zwar fraglich sein, aber einen gewissen unbezähmbaren Hang zum Habitus zappelphilippi haben die Gallagher-Brüder ohne jeden Zweifel, und das ist auch gut so.

Ferner dürfte Stefan leider Gottes auch damit recht haben, dass ebendiese wilde, hektische und schrille Art des Musizierens, die RAVEN nun einmal auszeichnet, möglicherweise eher ein Hemmschuh auf dem Weg zum richtig großen kommerziellen Erfolg gewesen sein könnte. Das ist zwar schade, aber irgendwie folgerichtig, denn gemeinhin sind wir ja alle überzeugt davon, dass die Mehrheit der Menschen einen eher schlechten Musikgeschmack hat. Immer die anderen, natürlich. Weniger schade, als vielmehr umso besser ist, dass sich die Gallagher-Brüder trotz des überschaubaren kommerziellen Potenzials in ihrer Nische mit Leib und Seele ihrem ureigenen Sound verschrieben haben, denn eins ist klar: Niemand sonst klingt wie RAVEN. Die Band ist unter tausenden jederzeit sofort zu erkennen, und genau dafür wird sie von ihren treuen Fans eben geliebt.

Einer dieser Fans tippt gerade diese Zeilen und erinnert sich an den Erstkontakt vor gut dreißig Jahren, als mir die "Heads Up!"-Single über den Weg gehoppelt war und mich aus dem Stand heraus umgehauen hat, und bis heute immer wieder, wenn eine neue Scheibe an den Start geht. Dass sich die Herren trotzdem weder damit zufrieden geben, immer wieder dasselbe Album neu aufzugießen, noch dazu übergehen, im fortgesetzten Alter leiser und langsamer zu werden, kann man ihnen gar nicht hoch genug anrechnen. Seit Drumtier Mike Heller (u.a. ex-FEAR FACTORY) anno 2018 mit an Bord gekommen ist, können wir RAVEN gar attestieren, dass die Band nochmal ein Stück härter und wuchtiger geworden ist, als sie es ohnehin schon immer gewesen ist, dass sie dabei aber kein Stück weit ihren von den einen so heiß geliebten und von den anderen so verstörend gefundenen Stil verloren hätte. So ist am Ende also auch "All Hell's Breaking Loose" wieder all das, was ein RAVEN-Album zu sein hat: Dampframme, Wuchtbrumme, hyperaktiv, athletisch, adrenalinschwanger, wild, überdreht, hysterisch, mitreißend und liebenswert verschroben, und dabei mit zehn archetypischen RAVEN-Songs bestückt, die zudem das Kunststück stemmen, jeder für sich mit wenigstens eingängigen, teils mit unvergesslichen Hooks zu glänzen. Alles andere wäre ja auch grober Unfug.

Note: 9,5/10
[Rüdiger Stehle]

Redakteur:
Thomas Becker

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