Gruppentherapie: ANGRA - "Cycles Of Pain"

17.11.2023 | 19:17

Wir knien vor den Boxen, während einer heilige Kühe entweiht.

Erinnert sich noch jemand an "Angel's Cry"? Wenn ja, könnt ihr wirklich glauben, dass das schon dreißig Jahre (!) her ist? Damals war das ein frischer Wind im Bereich des melodischen Metal, zu einer Zeit als eigentlich keiner mehr traditionelle Töne hören wollte.

Für frischen Wind sorgt ANGRA auch heute noch. Ganze acht Therapeuten nehmen sich der zehnten Scheibe an! Das macht zusammen mit Marius' 9-Punkte-Hauptreview neun schriftliche Beiträge dazu auf POWERMETAL.de. Nicht acht, nicht zehn, nein neun ist hierbei auch im Folgenden eine wichtige Zahl. Für alle? Nein, Ausreißer gibt es immer...



Verdammt, schon wieder knie ich vor den Boxen. Aber dieses Bass-Intro von 'Tides Of Changes', gefolgt von wunderbaren Melodielinien, zwingt mich auch in die katholische Grundhaltung. Und so geht es immer weiter. Denn "Cycles Of Pain" ist gut. Richtig gut. Das hätte ich nicht erwartet, nachdem die Brasilianer nach "Angel's Cry" ziemlich deutlich an meinen Ohren vorbeigeflogen sind.

Was macht das Album so gut? Das ist zum einen die Vielseitigkeit und der große Detailreichtum. An jeder Ecke gibt es etwas zu entdecken und trotzdem fügt sich alles homogen zu tollen Songs zusammen. Zum anderen spielt die Band hervorragend mit der Dynamik. Während andere Bands in diesem Genre einfach durchziehen und knödeln, was das Zeug hält, schafft es ANGRA, in den richtigen Momenten die Lautstärke herunterzufahren, was das Ohr eher umschmeichelt, als es zu verprügeln. Das gilt auch für die Streichersätze, die zusätzlichen Gesangsstimmen oder die generelle Instrumentierung: Hier wurde mit Bedacht agiert. Alles hat seine Funktion und kommt zur rechten Zeit. Da verzeihe ich ANGRA auch das Auslösen der fortgeschrittenen Arthrose im Knie.

Note: 9,0/10
[Julian Rohrer]

Es ist schon erstaunlich, wenn man bedenkt, dass ANGRA inzwischen seit über dreißig Jahren besteht, auch wenn von der Originalbesetzung nur noch Rafael Bittencourt übriggeblieben ist. Trotzdem hat ihre Musik nichts von ihrer Faszination verloren, wobei ich mich tatsächlich erst in neuerer Zeit wieder vermehrt mit der Band beschäftigt habe. Die ganzen Besetzungswechsel, insbesondere natürlich der Sänger, haben der Musik nicht wirklich geschadet. Das mag zum einen daran liegen, dass Rafael Bittencourt wohl schon immer mehr oder weniger für Musik und/oder Lyrics zuständig war, zum anderen, dass die entsprechenden "Ersatzleute" ihr Handwerk immer hervorragend verstanden. Das gilt natürlich erst recht für die Sänger, sowohl für Edu Falaschi, der Andre Matos ersetzte, als auch für Fabio Lione, der als letzter zur Band kam. Für den November-Soundcheck habe ich mir nochmal den einen oder anderen Song zu Gemüte geführt und dabei festgestellt, dass es immer wieder die musikalische Mischung ist, die mich an ANGRA nach wie vor fasziniert. Was mich auch beeindruckt: Jedes Mal, wenn ich Musik von ANGRA höre, seien es ältere Stücke oder, wie jetzt hier, die der neuen Platte, gibt es Neues zu entdecken, höre ich bisher unbekannte Nuancen. Ich bin nicht der Typ, der bei Rezensionen eine Platte quasi "zerlegt" - da werden auch jetzt noch unangenehme Erinnerungen an schulische Interpretationen wach, hauptsächlich im Deutschunterricht. Für mich zählt der Gesamteindruck, der muss überzeugen. Wenn Instrumentalfraktion und Gesang im Einklang sind, dann kann mich eine Platte begeistern. Das gilt natürlich nicht nur für ANGRA. Im Endeffekt hat Marius in seiner Rezension von "Cycles Of Pain" eigentlich schon alles gesagt, was es zu sagen gibt: "Das ist Musik mit Tiefgang, Kreativität, Können und Songwritinggeschick." Dem kann ich nur zustimmen.

Note: 9,0/10
[Hanne Hämmer]

Nun, ich bin ja noch recht neu bei POWERMETAL.de und dies ist meine erste Gruppentherapie. Natürlich habe ich mir die Regeln dazu durchgelesen. In denen steht zum Beispiel, dass möglichst viele unterschiedliche Meinungen einfließen sollen. Und genau in dem Punkt tue ich mich jetzt schwer. Ich könnte das hier zu beschreibende Album bis aufs Kleinste zerlegen und ein Haar in der Suppe suchen. Doch auch dann wird sich meine Meinung nicht ändern.

Mit "Cycles Of Pain" hat ANGRA wieder einmal ein großartiges Album veröffentlicht. Ich mag einfach Tracks wie 'Ride Into The Storm' oder 'Dead Man On Display'. Komplex, vertrackt, schnell, melodisch. Dazu hat die Band aus Brasilien mit dem italienischen Sänger Fabio Lione seit zehn Jahren ein richtiges Brett am Mikrofon. Lione ist für mich ein ganz anderes Kaliber als der ehemalige und 2019 verstorbene Sänger Andre Matos. Doch auch die etwas ruhigeren Stücke wie 'Tears Of Blood' in der normalen Version treffen meinen Nerv.

Hätte man mir das Album zur Blindverkostung überlassen, wäre ich vor Freude aufgesprungen, weil es so klingt, als hätten die Italiener DGM das neue Album "Life" schon veröffentlicht. Dieses erscheint jedoch erst am 17. November. In der Tat gibt es für mich extrem viele Überschneidungen bei beiden Bands sowohl vom Stil her, als auch beim Gesang. DGM begeistert mich seit Jahren eben mit komplexen, vertrackten, schnellen und melodischen Songs. Ebenso ANGRA. Stimmlich könnten Fabio Lione und Mark Basile Brüder sein.

Zu den beschriebenen Ähnlichkeiten gibt es dann noch Songs wie 'Vida Seca', welcher zumindest anfangs aus dem bekannten Progressive-Schema ausbricht. In der ersten Minute des Songs dachte ich, da möchte sich jemand einen Scherz mit mir erlauben. "Cycles Of Pain" bietet zahlreche Facetten und echte Abwechslung. Das Album läuft bei mir derzeit in der Endlosschleife.

Ich bin also komplett bei Hanne und Julian mit deren Benotung. Vielleicht gibt es ja zumindest bei meinem Vergleich zum italienischen Pendant eine kontroverse Diskussion.

Note: 9,0/10
[Andre Schnittker]

In die Knie zwingt mich "Cycles Of Pain" nicht, dafür gibt es doch einige Dinge, die mich vom ersten Höreindruck an gestört haben. Da sind zum einen die unnötigen Soundeffekte, die dermaßen nach Konserve klingen, dass der Stilberater im Innenohr erst einmal den Plastikalarm auslöst.

Der andere Kritikpunkt betrifft die Gastbeiträge. Es ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, Traditionelles in den Bandsound zu integrieren. Ich höre im Prinzip auch sehr gerne brasilianisches Portugiesisch, nur fehlt mir die Bindung zwischen dem traditionell-brasilianischen Beginn von 'Vida Seca' zum Rest des Stücks. Bei 'Here In The Now' lenkt mich Vanessa Morenos Gesangsakrobatik vom Kern des Songs ab, der mir eigentlich gut gefällt.

Auf der anderen Seite gibt es doch mehrere Aspekte, die einem das Album schmackhaft machen. Die von Julian zu Recht gelobte Vielseitigkeit gehört dazu. Von europäischem Power Metal mit starken HELLOWEEN-Anklängen, über gemäßigt progressive Songstrukturen, bis hin zum fast Musicalhaften, bietet "Cycles Of Pain" eine schöne Bandbreite an Stilen und Klängen.

Dann ist da noch der Gesang: Fabio Lione hat seine Stimme komplett unter Kontrolle und sorgt dafür, dass die schwierigen Gesangslinien auch sitzen. Die Gitarrenlicks und -soli sorgen auch das eine oder andere Mal für Staunen. Nach einer anfänglichen Abwehrhaltung gefällt mir das Album nach jedem Durchlauf immer besser, ohne dass sich die genannten Kritikpunkte in Luft auflösen würden.

Note: 7,5/10
[Jens Wilkens]

Werde ich noch eine kritische Stimme zum ansonsten positiven Feedback in Sachen ANGRA hinzufügen können? Leider nicht, denn das Einzige, was mich in Bezug auf "Cycle Of Pain" ärgert, ist, dass ich vielleicht noch etwas mehr Zeit gebraucht hätte, um die Platte in ihrer ganzen Schönheit erfassen zu können. Mein Einstieg war allerdings auch etwas holprig, hatte ich ANGRA seit dem Abgang des von mir sehr geschätzten Kiko Loureiro im Jahr 2015 doch etwas aus den Augen verloren.

Aber schon 'Ride Into The Storm' weckt meine Begeisterung schnell wieder, bringt der erste reguläre Track des Albums doch perfekt auf den Punkt, was ANGRA ausmacht. Musikalisch sind die Brasilianer dabei weiterhin ein verrückter Grenzgang zwischen der symphonischen Epik von Bands wie RHAPSODY OF FIRE, der technischen Brillanz der Prog-Götter DREAM THEATER und der melodischen Eingängigkeit und des teils halsbrecherischen Tempos von HELLOWEEN. Wird dieser sowieso schon schmackhafte Stilmix mit grandiosen Hooklines und der famosen Gitarrenarbeit von Rafael Bittencourt und Marcelo Barbosa gepaart, dann entstehen Hits wie 'Dead Man On Display' oder 'Gods Of The World', die mit ihren Refrains auch locker mit der deutschen Ohrwurm-Maschine AVANTASIA mithalten können.

Im kommenden Soundcheck (und konsequenterweise auch hier) habe ich acht Punkte vergeben, doch in der Zeit nach der Abgabe habe ich festgestellt, dass diese diesem großartigen Album eigentlich nicht gerecht werden. Stand jetzt wären neun Zähler wohl die angemessenere Wertung gewesen.

Note: 8,0/10
[Tobias Dahs]

Ich freue mich jedes Mal wie ein kleines Kind, wenn es ein neues ANGRA-Album zu feiern gibt. Somit habe ich auch gleich zugegeben, dass ich hier die rosarote Fanbrille auf habe. Dabei braucht es diese gar nicht um die erneut phänomenale Qualität von "Cycles Of Pain" zu erkennen. ANGRA ist eine der wenigen Bands, die es schafft sich in kleinen Schritten kontinuierlich weiterzuentwickeln, ohne den ureigenen Markenkern aufzugeben. Was haben wir damals das Debüt "Angel's Cry" (1993) gefeiert, und "Holy Land" (1996) ist wohl eines der besten Metal-Alben der 1990er. Schon damals wurzelte der ANGRA-Sound in einer fruchtbaren Erde namens "Keeper I & II", if you know what I mean!? Auch anno 2023 sind die Parallelen zu HELLOWEEN nicht von der Hand zu weisen. Die andere Hälfte des Klangbilds ist auf "Cycles Of Pain", im Vergleich zum Vorgänger "Ømni", wieder mehr KAMELOT als RHAPSODY OF FIRE. Eingängige Uptempo-Hymnen, wie 'Ride Into The Storm', stehen Seite an Seite mit vielschichtig aufgebauten, raffiniert arrangierten und atmosphärisch dichten Songs, deren ganze Schönheit sich einem in der Tat erst nach einigen Durchläufen offenbart. Man höre da zum Beispiel das bereits erwähnte 'Vida Seca'. Auf einem formidablen Track wie 'Faithless Sanctuary' wird dann auch die ganz dicke Prog-Keule noch mal ausgepackt. Ich finde das alles wunderbar und liebe auch dieses zehnte Studio-Album von ANGRA. Eine noch höhere Wertung zücke ich nur deshalb nicht, weil ich mir ein paar mehr von diesen ganz großen, breitwandigen, alles niederreißenden Monster-Hooklines gewünscht hätte, zu denen ANGRA durchaus auch in der Lage ist - oder zumindest war.

Note: 9,0/10
[Martin van der Laan]



Jetzt musste ich doch etwas länger überlegen, ob ich meine Eindrücke zu dieser Diskussion noch beisteuern möchte oder aufgrund dieser von Fachkompetenz nur so strotzenden Gruppentherapie mich lieber verstecke und einen Termin beim Ohrenarzt in Betracht ziehe. Diese flächendeckende Begeisterung habe ich so nicht kommen sehen und kann sie zwar nach den jeweiligen Erläuterungen nachvollziehen, aber im Leben nicht teilen. Man muss als Teil der Metal-Szene ja immer vorsichtig sein, wenn es um HELLOWEEN geht. Ich denke bei aller Wertschätzung meiner Kollegen gegenüber "Cycles Of Pain", werden sie wohl zu dem gleichen Konsens kommen und die "Keepers-Ära" noch höher ranken. Nun gut – dann will mal raus aufs Glatteis.

Auch diese Alben sind für mich hoffnungslos überbewertet und persönlich keine 8 Punkte wert. Es gibt auch kein KAMELOT-Werk was mehr als 7,5 Punkte verdient und bei RHAPSODY (OF FIRE) gibt es sogar keins, welches ich höher als mit 6,5 Punkten bewerten würde. Das dürfte zumindest schonmal grob aufzeigen, warum auch ANGRA an meinem Geschmack vorbeimusiziert. Diese Form von Melodic Metal ist maximal nervig (Gitarrenarbeit, Tempovariationen, Schlagzeugspiel, Lyriks und vor allem Gesang im jeweiligen Chorus). Da helfen auch die gelungenen Prog-Einschübe nicht, weil sie für mich irgendwie immer so klingen, als wären sie explizit für eine Zielgruppe eingestreut wurden, damit diese ja nicht abspringt. Der Titeltrack klingt da ganz schlimm in Richtung DREAM THEATER, ohne auch nur ansatzweise in deren songwriterische Sphären vorzustoßen. Aufgrund der halbgaren aber prinzipiell gelungenen Prog-Versatzstücken und den tollen World-Musik-Ausflügen, wäre ich sogar im Bereich von sieben Punkten, aber dann gibt es ja noch Herrn Lione. Mr. Skip-Taste himself – meine persönliche Persona non grata. Seine Stimmfarbe und insbesondere seine Art zu singen, macht für mich vieles unhörbar. Entweder zerstört er Songs vollkommen ('Ride Into The Storm' oder 'Generation Warriors') oder er beschädigt sie zumindest so stark, dass es keinen Spaß mehr macht sie auszuwählen. Er schafft es echt, schlimmer als Kiske zu klingen, und das heißt schon was. Bevor ich mich jetzt in Rage schreibe, solltet ihr merken, dass ich der vollkommen falsche Ansprechpartner für diese Form von Metal bin, da ich mit allen Bands aus diesem Genre nichts anfangen kann. Somit werde ich ANGRA zwar den Notenschnitt im kommenden Soundcheck "versauen", aber diese Gruppentherapie zeigt ja deutlich, dass Fans dieser Richtung "Cycles Of Pain" trotzdem eine Chance geben müssen.

Note: 5,5/10
[Stefan Rosenthal]

Ja, das sollten sie, lieber Stefan. Und ich bewundere Deinen Mut, heilige Kühe des Metallers so zu entweihen. Was schauen mich die Leute schräg an, wenn ich es wage, die Stimme von Halbgott John Arch (damals mal bei FATES WARNING) zu kritisieren. Aber ich liebe Kiske. Ich verehre Lione. Und natürlich die Bands, mit denen diese groß geworden sind. Also hoffe ich, Du spürst meinen missbilligenden Blick.

Ich habe diese neue ANGRA-Scheibe erst zweimal gehört und das nicht mal allzu aufmerksam. Deshalb ist meine Note da unten eher eine Prognose als eine in Fels gemauerte Skulptur. Doch eine solche scheint "Cyles Of Pain" zu sein. Ich höre schon jetzt so viele ausdrucksstarke Posen, edle Züge und funkelnde Melodien und ich denke, tiefer gehende Beschäftigung mit dieser Musik wird mir noch sehr viel Freude bringen. Ein bisschen Kitsch, ein bisschen instrumentaler Show-Off, stilistische Hüpfer und Gesang in fremden Sprachen, das alles sind Dinge, die ich sehr gerne mag.

Also schließe ich mich hier wohl dem Großteil meiner Kollegen, die sich ja teilweise echt die Finger für diese Therapie wund geschrieben haben, an, gebe auch neun Punkte, und stehe einer schnellen Veröffentlichung des Artikels nicht länger im Wege.

Note: 9,0/10
[Thomas Becker]



Fotocredits: Marcos Hermes

Redakteur:
Thomas Becker

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