Die wilde Zeit (Blu-ray)
- Regie:
- Assayas, Olivier
- Jahr:
- 2013
- Genre:
- Drama
- Land:
- Frankreich
- Originaltitel:
- Apres Mai
1 Review(s)
30.12.2013 | 19:32"I'd love to change the world": Porträt der Post-68er-Generation
"Frankreich 1971: Im Nachhall der 1968er Bewegung probt eine kleine Gruppe von Gymnasiasten in der Pariser Banlieue den Widerstand, glaubt an einen politischen Systemwechsel. Die jungen Leute erstellen Flugblätter, besprühen die Schulmauern, diskutieren nächtelang. Als sie bei einer ihrer Aktionen einen Wachmann schwer verletzen, bricht die Gruppe langsam auseinander. Jeder sucht einen für sich eigenen richtigen Weg - künstlerische Kreativität, Drogen, Anarchismus oder fernöstliche Philosophien." (Ciao.de)
Der Gymnasiast Gilles engagiert sich mit seinen Freunden für eine neue, gerechtere Gesellschaftsordnung, Er liest Marx und Mao, aber nicht unkritisch. Dabei lernt er Christine kennen, die für die gleiche Sache kämpft, und verliebt sich in sie. Sie will Filme machen, die die harte, versteckte Realität der Ausbeutung zeigen. Er entdeckt die Malerei für sich, als sich Laure von ihm trennt, und fährt mit Christine nach Italien. Zerrissen zwischen vielen Beziehungen, Strömungen und Interessen sucht er seinen eigenen Weg, der ihn zu einem Ort führt, den er nie erwartet hätte: die Pinewood Film-Studios bei London...
Filminfos
O-Titel: Apres Mai (F 2012)
Dt. Vertrieb: NFP
VÖ: 5.12.2013
EAN: 4009750395516
FSK: ab 12
Länge: ca. 121 Min.
Drehbuch / Regisseur: Olivier Assayas
Darsteller: Clément Métayer, Lola Créton, Félix Armand, Carole Combes, India Salvor Menuez, Hugo Conzelmann u.a.
Handlung
In der Schule predigen die Lehrer die Vergänglichkeit des Lebens, wie sie Blaise Paswcal im 17. Jahrhundert sah. Doch draußen auf der Straße tun die Kids was dagegen. Gilles hat sich mit Jean-Pierre zusammengetan, um linke Plakate aufzuhängen, Graffiti zu sprayen und Flugblätter zu verteilen, die die Ausbeutung der Arbeiter und die Unterdrückung der Jugend anprangern. Gilles verteilt ein linkes Blatt namens "Tout" und erhält den Tipp, dass eine Demo auf der Place Clichy steigen werde.
Als die Demo losgeht, ist die Spezialeingreiftruppe der Pariser Polizei jedoch ebenfalls bereit. Die Cops greifen sich die jungen Demonstranten und schlagen sie von ihren Motorrädern aus zusammen. Allenthalben werden Tränengasgranaten abgefeuert, gegen die es kaum Schutz gibt. Gilles und seinen Freunde finden Zuflucht auf der obersten Etage eines Treppenhauses. So lernt er Christine kennen.
Eigentlich zeichnet Gilles gerne und trifft sich mit der gleichaltrigen Laure zu gemeinsamen Liebes- und Kunstkritikstunden im Wald unweit seines Dorfes im Pariser Umland. Aber diesmal heißt es Abschied nehmen: Ihr Vater zieht nach London, wo die Action ist. Das gibt Gilles freie Hand, die Bekanntschaft mit Christine zu vertiefen.
Es kommt zu einer folgenschweren nächtlichen Protestaktion. Auf der Flucht vor den Bauarbeitern, die das beklebte und besprühte Gymnasium bewachen sollen, wirft einer der Jugendlichen einem Arbeit einen schweren Sack Zement auf den Kopf. Der Arbeiter liegt Monate lang im Koma, danach leidet er unter Beeinträchtigungen seiner Gehirnfunktionen. Jean-Oierres Name ist als einziger gefallen, und sein Schulbuch mit seinem Namen darin wird gefunden. Der Rektor relegiert ihn und ein Disziplinarverfahren wird eröffnet. Er soll sogar vor Gericht gestellt werden....
Gilles und Christine halten es für angeraten unterzutauchen. Sie schließen sich einem sozialistischen Filmteam an, das erst in die Auvergne und dann weiter nach Kalabrien fährt. In den Schlafwagen nach Italien kommen sich Gilles und Christine erheblich näher, aber sie will wissen, ob er sie liebt. So ganz überzeugend klingt seine Antwort nicht. Selbst in Florenz werden aufklärende Filme über die Revolution in Laos gezeigt. Er kann nicht mit Christine nach Kalabrien, denn seine Aufnahmeprüfung für die Kunstakademie steht an. Nach einem Abstecher nach Pompeji kehrt er mit seinem Freund Alain nach Hause zurück. Alain allerdings hat sich mit der Tänzerin leslie und einem deutschen Esoteriker nach Kabul aufgemacht.
Gilles' Vater ist ein Filmproduzent und eingefleischter Fan von Georges Simenon und Kommissar Maigret. Er lässt Gilles' Kritik an dieser bürgerlich-kommerziellen Kunst nicht gelten. Vater kennt Laure und sagt Gilles, sie sei wieder zurück - und nehme wahrscheinlich Drogen. Das versteht Gilles als Wink, Laure wiederzusehen und mal nach dem Rechten zu schauen.
In der Tat wird die Party, auf der Laure mit ihrem Freund, einem Filmemacher, auftaucht, zu einem denkwürdigen Ereignis - aber anders, als sich Gilles das vorgestellt hat...
Mein Eindruck
Das erste, womit sich der Zuschauer auseinandersetzen muss, sind nicht die Bilder, sondern der Erzählstil. Aber wer "Carlos - Der Schakal" gesehen hat (schon jetzt ein Klassiker), der weiß, dass es Assayas nicht auf Drama und Spannung, Erotik oder Romantik anlegt, sondern dass im Mittelpunkt das reale Leben mit all seiner Banalität steht. Das einzige, was er diesem Dokustil hinzufügt, ist die Zuspitzung durch Weglassen: Alles, was nicht von belang ist, kann er weglassen, so etwa alle Szenen, die irgendwie mit dem Prozess gegen Jean-Pierre zu tun haben, der des versuchten Totschlags angeklagt ist. Diese Weglass-Methode schafft Luft für die eigentlichen Lebensläufe, die Assayas nachzeichnet.
Lebensläufe
Der Lebenslauf um Gilles, den Zeichner und angehenden Filmstudenten, bildet lediglich den Roten Faden, aber ihn zur Hauptfigur zu erheben, wäre schon zuviel gesagt. Aber wir machen Bekanntschaft mit den anderen Figuren nur dadurch, dass wir seinem Weg folgen. Da ist Laure, die völlig orientierungslos ist, was ihren eigenen Weg anbelagt, aber in den Drogenkonsum abrutscht - wie so viele ihrer Generation. Sie probiert vieles aus, aber wenigstens hat sie einen guten Geschmack.
Da ist Christine, die so ziemlich das genaue Gegenteil von Laure ist: zielstrebig, sehr engagiert, radikal. Sie tut sich mit den spzialistischen Filmemacher zusammen, doch wenn es um Gleichberechtigung geht, muss auch sie (noch) klein beigeben und zurückstecken. Die Frau muss immer noch für die Männer sorgen, nicht umgekehrt.
Da ist Alain, der ebenso kunstbeflissen ist wie Gilles, doch die Bekanntschaft mit der träumerischen Amerikanerin Leslie nach Kabul kommt, wo er andersartige Kunstformen kennenlernt: piktorale Webkunst. Alains Gegenteil ist jean-Pierre, ein beinharter Kämpfer auf der äußersten Linken, der zusammen mit einem kommunistischen Redakteur in den "bewaffneten Kampf" übergeht, also in der Terrorismus à la Rote Armee Fraktion (siehe "Der Baader-Meinhof-Komplex"). Wie das aussieht, muss Gilles nur einmal erfahren: Er steckt einen Fluchtwagen in Brand, um Spuren eines Anschlags zu beseitigen.
Utopie und Radikalität
Die Entwicklungsbewegung dieser Generation mag heutige Zeitgenossen durch ihre Gespaltenheit verwirren. Einerseits radikalisiert sich der Protest der 68er-Generation in der Jugend: Sie geht auf die Straße, sie agitiert statt zu in den Institutionen zu überzeugen (das machten dann die Grünen zehn Jahre später), doch als dies nichts ändert, gehen die führenden Köpfe in den Untergrund, siehe "Carlos - Der Schakal". Entscheidend ist, wie Assays, sagt: Diese Generation glaubte noch an eine Zukunft, die sie mitgestalten konnte.
Utopie und Selbsterfahrung
Die andere Entwicklung geht nicht nach außen, sondern innen: "Ändere erst dich selbst, bevor du versuchst die Welt zu retten", lautet das Motto. Esoterische Literatur, psychedelische und multimeediale Kunstformen (die Lightshow in den Extras ist ein gutes Beispiel) und vor allem Drogen und Meditation wurden in der Alternativen Kultur (die ich noch selbst miterleben durfte) als Wege betrachtet, um mehr über sich selbst zu erfahren als einem die autoritäre Elterngeneration vermitteln konnte.
Kaum äußert Gilles ein bisschen Kritik an Simenon, Maigret und einem Schauspieler, bügelt sein Vater diese Meinungsäußerung sofort nieder, ohne irgendwie zu Argumenten bereit zu sein. Die Jungen haben zu kuschen, sonst nichts. Aber dieses Prinzip gilt nicht mehr, und der Philosoph jean-Paul Sartre der im Mai 1968 mit den revolutionären Studenten mitmarschierte kündigte diesen Generationenvertrag auf: Es war die Botschaft seines Existentialismus, dass der Mensch seinen eigenen Lebensweg entwerfen soll.
Diese Vorgabe wurde nicht nur auf Jugendliche, sondern auf alle Ausgebeuteten und Unterdrückten der Welt angewendet. Dass die Amerikaner in Südostasien ganze Landstriche entvölkerten, entfachte nicht nur in USA, sondern auch in Westeuropa erhebliche Proteststürme. Diese zu kennen, setzt der Regisseur allerdings voraus. Er will ja kein Weltpanorama entwerfen, sondern nur vier oder fünf Lebenswege verfolgen. Gilles' Weg ist der eines angehenden Independet-Filmemachers im Stile von Jim Jarmusch oder des frühen Pedro Almodóvar.
Musik
Wichtig ist auch die Musik. Einiges davon findet man auf dem SONY-Sampler "Pure... Psychedelic Rock" (ca. 2011) wieder. Es kam damals aufs Verspielte, Erforschende an, nicht auf die Verkündung einer Botschaft. Die Entwicklung, die etwa "Pink Floyd" durchlief, ist symptomatisch: erst verspielt (ab 1967), dann verträumt (ca. 1969), schließlich (ab 1973) knallhart und kritisch mit "Dark Side of the Moon". Aber natürlich gab es auch Folk-Songs, die den Protest in die Studentenkreise trugen. Politparolen sind nur in den eingeflochtenen Dokufilmen zu hören.
Die Blu-ray
Technische Infos
Bildformate: 1,85:1 (anamorph)
Tonformate: D und Französisch in DTS-HD 5.1
Sprachen: D, Französisch, Italienisch, Englisch
Untertitel: D
Extras:
- Trailer
- Making-of
- Lightshow
- Trailershow
Mein Eindruck: die Blu-ray
Obwohl die Bildsprache keineswegs anspruchsvoll ist, bietet die Blu-ray natürlich Bild und Ton in Bestqualität, sofern man über eine entsprechende Anlage verfügt. Die DVD tut's aber auch. Die Ausstattung mit Extras und Originalsprachen ist die gleiche wie auf der Blu-ray.
EXTRAS
1) Making-of (16:00 min)
Zwischen kommentarlos gezeigte Drehszenen wurden Interview-Statements des Regisseurs geschnitten. Der Meister behauptet, die zeit nach 1968 sei vom Kino noch nicht richtig aufbereitet worden, was seinem Film natürlich eine Daseinsberechtigung verschafft. Er gibt offen zu, dass seine eigene Biografie eine wichtige Grundlage war und dass Begegnungen in dieser Zeit ihn zu den Figuren inspiriert hätten.
Dennoch sei der Film eine Fiktion, eine persönliche Verarbeitung jener Zeit, mit der Hinzufügung von Musik und Poesie. Da Filmen aber ein Abenteuer sein sollte, so Assayas, ließ er viele Szenen offen und überließ den semiprofessionellen Schauspielern, den Ausgang zu gestalten. Auf diese Weise gab der Film auch allen daran Beteiligten etwas für ihr Leben: eine Erfahrung, um daraus zu lernen. Das gilt letzten Endes auch für den Zuschauer: Er muss sich einbringen, um den Film zu erschließen. Dies ist also kein Film für die Selbstberieselung, sondern für die Bewusstwerdung.
Natürlich versucht er auch, die Mentalität jener zeit zu beschreiben: Utopie und Selbsterfahrung, der heute primäre Materialismus war damals verachtet und völlig sekundär. Auf der anderen Seite der Utopie entwickelt sich eine radikale außerparlamentarische Opposition (APO).
2) Trailer (1:35 min)
Das Appetithäppchen konzentriert sich auf die drei bis vier Hauptfiguren, ihre politischen Aktionen und ihre Kunst. Effekthascherei sieht anders aus.
3) Lightshow für "Fille Qui Mousse" (2:28 min)
In einem Uni-Hörsaal findet ein Rockkonzert statt, und Gilles besucht es ebenso wie Christine. Aber es ist ein Rockkonzert, wie man es heute nicht mehr zu sehen bekommt. Eine multimediale, mit primitivsten Mitteln (Gilles) à la Pink Floyd (ca. 1967) zusammengebastelte Lightshow ergänzt die psychedelisch angelegte Musik. Zu sehen sind also in der puren Lightshow schrille Farben, Ausschnitte aus alten Stummfilmen, Politplakate und Botschaften. Das Bewusstsein soll auf mehreren Ebenen angesprochen werden. An diesem Punkt setzt Gilles an, um experimentelles Kino zu machen.
4) Programmhinweise
a) Carlos - Der Schakal (siehe meinen Bericht)
b) Beware of Mr Baker (gemeint ist der Drummer Ginger Baker)
c) Chasing Ice (Naturdoku über das Verschwinden der Gletscher)
d) Hannah Arendt (Biopic)
e) Laurence Anyways (ein Mann wird eine Frau - und alle stehen kopf)
f) Lunchbox (indische Liebesromanze ohne Kitsch)
g) The Human Scale - Bringing Cities to Life (Doku über Städteplanung)
Unterm Strich
Der Film ist vom historischen, biografischen Standpunkt aus betrachtet sehr interessant, ähnlich wie "Carlos - Der Schakal". Dramaturgisch gesehen sind jene Szenen am interessantesten, in denen die Gymnasiasten ihre eigene Schule mit Graffiti besprühen, plakatieren und Flugblätter verteilen. Auch die actionreiche Demo auf der Place Clichy sorgt für ordentlich Tempo.
Mit sinnlichen Liebesszenen holt der Regisseur den Zuschauer weiter in seine Geschichte: Laure, Christine und Leslie bilden drei Aspekte des weiblichen Engagements in jener Zeit, mal politisch, mal künstlerisch, mal opportunistisch. Schließlich kulminiert der Erzählstrang um Laure (s.o.) in einem Drama, das ich übertrieben fand. Aber es wird nur dadurch möglich und entschuldbar, weil viele Teile des Films so unspektakulär sind.
Die Blu-ray
Die DVD tut's auch. Die Ausstattung mit Extras und Originalsprachen ist die gleiche wie auf der Blu-ray. Wer aber auf beste Qualität hinsichtlich Bild und Ton aus ist, besorgt sich die Blu-ray.
Michael Matzer (c) 2013ff
- Redakteur:
- Michael Matzer