KRAFTWERK - Leipzig
21.12.2025 | 15:2111.12.2025, QUARTERBACK Immobilien ARENA
Musikgeschichte: So macht Nachsitzen Spaß.
Selbst wenn das eigene Herz in erster Linie für härtere Gitarrenriffs schlägt, gibt es sie immer wieder: Bands, die musikalisch eigentlich weit außerhalb der eigenen Komfortzone liegen und dennoch regelmäßig ihren Weg in die persönlichen Playlists finden. Manch einer mag das für ein Phänomen der letzten Jahre halten, dabei ist diese Offenheit keineswegs neu. Und damit meine ich nicht die 1990er, sondern gehe tatsächlich noch weiter zurück, bis in die 1970er Jahre.
Just in jener Zeit mogelte sich, womöglich zwischen "Burn" von DEEP PURPLE und "Sabbath Bloody Sabbath" von BLACK SABBATH, eine LP mit dem zunächst eher skurril anmutenden Namen "Autobahn" in die heimischen Plattensammlungen. Zu gern hätte ich Mäuschen gespielt, um herauszufinden, ob die Generation der Heavy-Babyboomer diese bahnbrechende Platte von KRAFTWERK heimlich in den eigenen vier Wänden hörte, oder ob sie vielleicht sogar gemeinsam abgefeiert wurde, so wie es ihr späterer Kultstatus eigentlich verlangt hätte. Fest steht jedenfalls: Der Einfluss dieser deutschen Elektronik-Pioniere ist längst nicht mehr zu leugnen. Selbst in unseren musikalischen Dunstkreis hat er nachhaltig hineingewirkt, und sogar die eingeschworensten KEEP-IT-TRUE-Anhänger können sich heute auf diesen elektronischen Exkurs einigen.
Genau dieses Bild spiegelt sich an diesem Abend auch in der Quarterback Immobilien Arena in Leipzig wider. Um mich herum stehen Menschen mit BLOOD-INCANTATION-Shirts, RAMMSTEIN-Tour-Merch, DEPECHE-MODE-Klassikern aus den 1990ern oder sogar kompletten Metal-Kutten.
Gleichzeitig fallen zahlreiche Shirts aus den Bereichen EDM, Techno und anderen elektronischen Spielwiesen ins Auge. Mein direkter Nachbar entpuppt sich als glühender PAUL-KALKBRENNER-Fan und ist von der ersten Minute an vollkommen in den Klangwelten verloren. Mit dem konkreten Songmaterial sei er gar nicht so vertraut, erklärt er mir. Braucht man bei dieser Art von Musik ja auch nicht wirklich. Wenn der Flow erst einmal einsetzt, lässt man sich einfach treiben.
Da ich selbst zwar einen Großteil der Songs kenne, aber keineswegs sattelfest bin, bin ich entsprechend gespannt, ob ich ähnlich schnell in diesen mantraartigen Rausch gerate.
Ehrlicherweise steht für mich zunächst auch ein ganz anderer Punkt im Vordergrund: meine persönliche Bucket List. Ein Flaggschiff wie KRAFTWERK gehört dort schlichtweg dazu. Hinzu kommt natürlich die Erwartung eines immersiven Gesamterlebnisses und genau hier liefert die Band kompromisslos ab.
So hüftsteif die einzelnen Protagonisten auf ihren Podesten auch agieren mögen, so beeindruckend und mitunter überwältigend ist die Licht- und Bühnenshow im Hintergrund. Die visuellen Reize kommen stellenweise derart geballt daher, dass man sich fast aktiv um festen Stand bemühen muss und zumindest bei mir sorgt das während einiger Songs kurzzeitig für Schwindel.
Der Matrix-artige Einstieg mit 'Nummern' ist dabei schlichtweg großartig und setzt die Leitplanken für den restlichen Abend. Der retrofuturistische Ansatz, der sich unmittelbar bei 'Heimcomputer' fortsetzt, passt perfekt zu dieser musikalischen Zeitreise.
Bei 'Spacelab' fühle ich mich, als stünde ich direkt auf der Brücke der "Raumpatrouille Orion". Dass zum Ende des Songs ein wunderbar pixeliges UFO direkt aus der Render-Hölle vor der Arena landet, sorgt folgerichtig für den ersten großen Applaus des Abends.
Zwar bleibt dies nicht der einzige solcher Momente, insgesamt ist die Stimmung jedoch eher verhalten oder treffender gesagt: introspektiv feiernd. Bei Stücken wie 'Ätherwellen', 'Neonlicht' oder 'Radioaktivität' wird tranceartig getanzt und jeder scheint auf seiner ganz eigenen Reise zu sein.
Ein absolutes Highlight bildet das mitten im Set platzierte Triple aus 'Autobahn', 'Computer Liebe' und 'Das Model'.
Während beim nostalgischen Verkehrsepos ein VW-Käfer und eine Daimler-Limousine (selbstverständlich herrlich pixelig) ein Rennen austragen, sorgen die beiden Über-Hits für spürbare Euphorie, aber auch für einen deutlichen Bruch im zuvor vorherrschenden mentalen Zustand. 'Das Model', inklusive Originalvideo, wird lautstark mitgesungen, und die Melodie von 'Computer Liebe' dürfte spätestens seit COLDPLAYs 'Talk' ohnehin fest im kollektiven Gedächtnis verankert sein. Entsprechend deutlich vernehme ich zahlreiche "La-la-la"-Chöre aus dem Publikum, während der Performance.
Der zweite kleine Einschnitt und zugleich die erste wirkliche Ansprache des Abends, folgt mit der einzigen Coverversion. Gründungsmitglied Ralf Hütter gedenkt einer wichtigen Inspirationsquelle und huldigt dem 2023 verstorbenen Ryūichi Sakamoto mit einer Interpretation von 'Merry Christmas Mr. Lawrence'. Der Hintergrund bleibt dabei bewusst schwarz, was eine ganz besondere Atmosphäre schafft. Auch inhaltlich fügt sich die Songauswahl stimmig in den zeitlichen und emotionalen Kontext der Aufführung ein.
Ab diesem Punkt erschließt sich auch endgültig die Setliste-Dramaturgie: Der zuvor platzierte Hit-Block hätte den nun folgenden Fluss nur gestört. Stattdessen darf bis zum letzten Klang von 'Musique Non Stop' durchgeravt werden und der Titel ist hier durchaus programmatisch zu verstehen.
Viele Songs gehen fließend ineinander über, ohne nennenswerte Pausen. Das Publikum feiert diese Entscheidung sichtbar, besonders bei 'La Forme', das die komplette Halle in einen beinahe meditativen Zustand versetzt.
Dabei hilft auch, dass KRAFTWERK ihr Material nicht einfach nur 1:1 reproduziert, sondern den Sound subtil, aber spürbar an das Klangempfinden des Jahres 2025 angepasst hat. Dadurch wirken die Übergänge zu modernen Techno-Ästhetiken umso harmonischer und mein Nachbar "Paule" tanzt sich förmlich die Füße wund.
Um diesen Schwung nicht abbrechen zu lassen, folgt die Zugabe beinahe nahtlos. Mit 'Die Roboter' mobilisiert die Menge noch einmal die letzten Energiereserven, bevor der Abend sein würdiges Ende findet. Was bleibt, ist eine beeindruckende Erfahrung.
Würde ich ein weiteres KRAFTWERK-Konzert besuchen? Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. So berauschend diese Einmalerfahrung auch ist, so weit entfernt bin ich musikalisch doch vom Kern des Dargebotenen. So sehr mich das Visuelle fasziniert hat, so sehr fürchte ich beim nächsten Mal einen gewissen Abnutzungseffekt. Doch als singuläres Erlebnis ist dieser Abend nahezu uneingeschränkt zu empfehlen. Manchmal ist das eben so: Manche Reisen macht man nur einmal im Leben und genau das macht sie so besonders.
Setliste: Nummern / Computerwelt / Computerwelt 2; Heimcomputer / It's More Fun To Compute; Spacelab; Ätherwellen; Tango; The Man-Machine; Electric Café; Autobahn; Computer Liebe; Das Model; Neonlicht; Metropolis; Merry Christmas Mr. Lawrence; Geigerzähler; Radioaktivität; Vitamin; Tour de France / Tour de France Étape 3 / Chrono / Tour de France Étape 2; La Forme; Trans-Europa Express / Metall auf Metall / Abzug; Planet der Visionen; Boing Boom Tschak / Techno Pop / Musique Non Stop; Zugabe: Die Roboter
Text und Photo Credit: Stefan Rosenthal
PS: Durch den krankheitsbedingten Ausfall meines Fotografen, müsst ihr leider mit meinem Handy-Pics vorlieb nehmen.
- Redakteur:
- Stefan Rosenthal





