FULL FORCE XXVI - Gräfenhainichen

17.07.2019 | 20:47

28.06.2019, Ferropolis

Zum dritten Mal beehrt der selbsternannte härteste Acker Deutschlands die Stadt aus Eisen: Drei Tage in beeindruckendem Ambiente mit Bands wie PARKWAY DRIVE, ARCH ENEMY und LIMP BIZKIT.

Vormittags erwacht im viel zu heißen Zelt, das Thermometer klettert langsam Richtung 40 Grad. Die leichte Brise unterm Pavillon erweist sich als lauwarmes Lüftchen, man erwischt leider keinen der wenigen klimatisierten Shuttlebusse und erreicht das Festivalgelände schweißgebadet. Im Zelt der Tentstage staut sich die Luft, vor der Hauptbühne erhitzt sich der Beton immer mehr und wird im Laufe des Tages auch nicht mehr abkühlen. Da wird die Seebühne doch zur absoluten Lieblingsstage. Eine frische Seebrise weht herüber, nebenan locken Cocktails. Während sich die Meute in den wenigen Schatten drängt, den jene Bühne spendet, auf der gerade HARAKIRI FOR THE SKY aufspielt. Deren melancholisch düsterer Post Black Metal mag zwar eigentlich nicht so ganz in dieses Karibikszenario passen, aber hey – hier geht es um große Kunst und die Fans gehen mit! Zunächst erschallen die ruhigeren Klänge von 'Heroin Waltz', ehe es schlagartig und treibend richtig losgeht. Volle Konzentration auf die Instrumente, denn für Ansagen ist hier wie immer kein Platz. Was anderen Bands als Arroganz oder mangelnde Fannähe ausgelegt würde, passt hier einfach zum Gesamtkonzept. Zumal die Wiener und Salzburger während den Songs immer wieder das Publikum anfeuern und Sänger J.J. inbrünstig inklusive hingebungsvollem Hinknien alles gibt. Im Hintergrund weht das Backdrop mit dem aufgespießten Hirsch – Baratheon-Assoziation, anyone? Egal, alle verfügbaren Teufelshörnchen hoch, auch wenn ich persönlich live leider noch nicht in den Genuss meines absoluten Favoriten 'Fire, Walk With Me' gekommen bin. Beim nächsten Gastspiel bitte nachholen!

Dann ist es Zeit für die einzige Melodic-Death-Metal-Band – abgesehen von den Finnen AMORPHIS vielleicht – des Festivals, und zwar bitte im urigen Original: Mit AT THE GATES marschieren die Urväter des Genres bei ihrer Force-Premiere zum melodisch-dramatischen 'Der Widerstand'-Intro auf die Mainstage und legen sogleich mit dem aktuellen 'To Drink From The Night Itself' los. Drückend, kantig, kompromisslos – die Schweden sind ihrem Stil seit ihrer Gründung Anfang der Neunziger treu geblieben. Das merkt man auch gleich beim zweiten Song der Setlist, dem Klassiker 'Slaughter Of The Soul', wie immer eingeläutet von Tomas Lindbergs 'Go!'-Schrei. Der abseits der Bühne eher schüchterne, aber auf selbiger stets aus sich herausgehende Sänger tritt wie immer mit Baseballmütze und angesichts der tiefstehenden Sonne heute auch mit Sonnenbrille auf. Drei Songs dauert es, bis er das Publikum willkommen heißt, dann geht's auch schon ohne viel Gerede im hohen Tempo weiter. Seine Saitenkollegen holen alles aus ihren Instrumenten heraus, während der Drummer im eher nach Stockholm statt Göteborg gehörenden Takt auf sein Schlagzeug eindrischt. Der größte Jubel brandet auf, wenn dabei alte Gassenhauer wie 'Cold' oder 'Blinded By Fear' herauskommen. Hier wird ganz bodenständig und ohne jeglichen Glamour sehr melodische Kunst geboten. Lindberg verlässt dann mit Kusshand als erster die Bühne, während seine Bandkollegen das Finale von 'The Night Eternal' zu Ende zocken.
[Carsten Praeg]

Das "Full Force" hat im Zuge der Namensänderung einige Neuausrichtungen versprochen, musikalisch hat sich dieses Vorhaben glücklicher Weise kaum ausgewirkt. Ein alternativer Programmpunkt steht am Samstagabend mit ACLEST auf der Medusa Seebühne. Die wunderschöne Mischung aus Post Rock, Black Metal und Blackgaze (was ist das?) erzeugt eine beindruckende Atmosphäre zwischen Melancholie und Glückseligkeit, die sich perfekt mit dem allmählich einsetzenden Sonnenuntergang verbindet. Auf Platte ist ALCEST in jedem Fall eine Klasse für sich, doch auch live trägt der perfekte Sound dazu bei, dass ich mehrmals die Augen schließe. Und wenn ein engstirniger Oldschool-Thrasher dieses Fazit zieht, dann war es wohl wirklich "wunderschön".
[Chris Gaum]

Gegen halb zehn findet sich dann eine recht stattliche Menge vor der Hauptbühne ein, um allerlei Ulk aus der Bundeshauptstadt zu lauschen. Und davon hat das aufgestockte Trio KNORKATOR eine ganze Menge dabei. Keyboarder Alf Ator heute mal im weißen Gewand, Gitarrist Buzz Dee in einer Art weißem Elvis-Gedächtnisoutfit und Sänger Stumpen zunächst im gelben, äh – Bikini mit Hosenbeinen? Außerdem neben ihren beiden weiteren Bandmitgliedern im Gepäck: Der eigene Nachwuchs als Backround-Chor, natürlich inklusive Alfs Sohn Tim Tom. Der Sprössling ist inzwischen nicht nur zu einem jungen Mann mit durchtrainiertem Oberkörper herangewachsen, sondern darf sogleich oben ohne mit seinem Vater 'Böse' um die Wette grunzen. Außerdem im Schlepptau: Die Österreichischen Comedy-Kumpels DUMMESAULOL, die zuerst mit einer Panzerfaust eins in die Eier bekommen und dann von einer Leiter aus einen Tisch kaputt springen dürfen. Der älteste der Ösi-Truppe wird später noch mit einer explodierenden Kirschtorte in einen Glaskasten gesperrt und darf die klebrigen Reste beim Crowdsurfen im Publikum verteilen. Welches aber ohnehin schon abgehärtet ist, nachdem es mit einem Zwiebelhäcksler beschossen wurde. Und noch ist der Gepäckkoffer nicht leer: Der Berliner Kraftprotz RUMMELSNUFF gibt in Latzhose und obligatorischer Kapitänsmütze 'Mich verfolgt meine eigene Scheiße' zum Besten. Zum Abschluss lässt Stumpen, inzwischen nur noch mit Lackshorts bekleidet, auch noch die erste Reihe mit vorgehaltenem Mikro 'Wir werden alle sterben' schmettern. Im Lauf der Jahre habe ich zwar schon manchen Gig der Berliner gesehen, aber diesmal haben sie sich allein in Sachen Menge an Showelementen bei weitem selbst überboten.
[Carsten Praeg]

Hardbowl ist TERROR auf der Tentstage! Ebenfalls nicht zum ersten Mal (tatsächlich das achte Mal) präsentiert man feinsten New York Hardcore mit einer ordentlichen Portion Metaleinfluss. Auch wird die Full-Contact-Tanzeinlage nach einem kurzen Intro bereits zum ersten Powerakkord von 'Lowest Of The Low' eröffnet. Das Zelt vor der Bühne ist prall gefüllt und nun fällt auf, dass es in den vergangenen Jahren doch etwas geräumiger war. Fäuste fliegen und eine nicht mehr enden wollende Welle an Crowdsurfern bricht von hinten über mich herein. So gelingt es mir erst bei 'Overcome' eine halbwegs sichere Position zu finden. Yeah, genauso muss eine Hardcore-Show aussehen. Dass Sänger Scott Vogel seine Aufforderung "climb on someone ́s head" eigentlich nach jedem Song wiederholt, wird der ohnehin vollbeschäftigten Security etwas zum Verhängnis. Wenn man sich aber an alte TERROR-Shows auf dem ehemaligen Gelände in Roitzschjora erinnert (Menschen, die Zeltmasten hochklettern und aus bald vier Metern Höhe in die Menge springen), geht es heute noch relativ harmlos zu. Zum Geburtstag vom Gitarristen gibt es dann das Geburtstagsständchen 'This World Never Wanted Me', wobei 'Always The Hard Way' vielleicht doch besser gepasst hätte. Die selbsternannten 'Keepers Of The Faith' beenden nach knapp 45 Minuten mit dem gleichnamigen Song einen intensiven und fulminanten Gig.
[Chris Gaum]

Ein Shitstorm und recht eigenes Verhalten in einem Foto-Rechtsstreit zum Jahreswechsel hat ihrer Popularität nicht geschadet: Nach dem großen Auftritt beim "Rock am Ring" setzen die Schweden ARCH ENEMY mit gigantischen Feuerbällen noch einen oben drauf und sorgen für Gänsehautmomente. Zunächst läuft als Intro erstmal 'Ace Of Spades' und erinnert ein wenig an das einst ungeschriebene Gesetz, dass bei jedem Force MOTÖRHEAD, SLAYER oder SOULFLY zu spielen haben. Wird zumindest bei Zweien wohl leider nicht mehr der Fall sein. Doch zurück zu ARCH ENEMY: Das Quintett legt mit 'The World Is Yours' mächtig los. Die hübsche Sängerin Alissa White-Gluz trägt heute ein mit Fledermaus-Ärmeln verziertes Lederjäckchen (hoffentlich kein Anlass zum nächsten Fotostreit), heizt das zahlreiche Publikum an und lässt die blauen Haare fliegen. Crowdsurfer schwimmen gleich reihenweise auf die Bühne zu, während Alissa die schwarze Bandflagge schwenkt. Taktgenau Feuerwände zu den Echolot-Klängen von 'My Apocalypse', große Gitarrenduelle, dann hakt die Frontröhre bei den Fans nach: "You feel good? Proof it!" Es folgt kollektives Springen zu 'No Gods, No Masters' und reihenweise "One for all!"-Mitgrunzen beim abschließenden 'Nemesis'. Eines muss man den Schweden plus Kanadierin lassen: Großartige Konzerte können sie!
[Carsten Praeg]

Beim "Saturday Night Fever" steht eine Zeitreise in die Siebziger an: KADAVAR aus Berlin zelebriert psychedelischen Hard Rock von der Haarspitze bis in den Rauschebart. Das Zelt ist wirklich gut gefüllt und mit der genialen Mischung aus Metal und Krautrock kann man den Ikonen BLACK SABBATH oder PENTAGRAM durchaus das Wasser reichen. 'Doomsday Machine' und 'Goddess Of Dawn' entfalten eine berauschende Wirkung (oder liegt's an den Unmengen Bier?). Da das Trio viel Vintage-Equipment benutzt, ist der Sound authentisch und für eine Liveshow überraschend gut. Vielleicht war auch die Qualität des alten Equipments einfach besser. KADAVAR legt in jedem Fall eine fulminante Show hin, so dass nicht nur auf, sondern auch vor der Bühne die Matten geschüttelt werden. Immer wieder staunt man über die Martial Arts-Einlagen vom Schlagzeuger. Wie man dermaßen kunstvoll eine Bewegungschoreographie aufführen kann und nebenbei so tight und druckvoll den Rhythmus hält, habe ich bis jetzt noch nicht verinnerlicht. KADAVAR schafft es, Hardcore- und Metalfans mit 'Die Baby Die' gleichermaßen zu begeistern und so sind die Publikumsreaktionen geradezu euphorisch. Es bleibt eine überragende Performance und damit für mich die extrem positive Überraschung des Festivals.

Weiter geht’s mit ORANGE GOBLIN aus Großbritannien, die im Vergleich zu KADAVAR die Stoner-Rock-Elemente deutlich in den Vordergrund stellen. Obwohl es etwas leerer im Zelt geworden ist, gelingt es mit 'Sons Of Salem' und 'Saruman's Wish' nochmal ein Ausrufezeichen zu setzen. Da die Band aufgrund von Verspätungen wohl mehrere Stunden am Flughafen zugebracht hat, kann man sich glücklich schätzen, dass sie es zu später Stunde überhaupt noch rechtzeitig nach Gräfenhainichen geschafft hat. Unbeeindruckt von den Reisestrapazen gleicht der Gig einer wilden Party. Dreckig, feuchtfröhlich und laut lässt ORANGE GOBLIN den Samstag ausklingen und auch wir verlassen das Festivalgelände in Richtung der Party Area. Die ist dieses Jahr mit Sand und mehreren Lichttürmen richtig ordentlich hergerichtet, während die feierwütige Meute zu allerlei Achtzigerkonserven mitgrölt. Bis hin zu Blödsinn wie SPLIFFs 'Carbonara'. "…e una Coca-Cola!"
[Chris Gaum]

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Redakteur:
Carsten Praeg

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