STRATOVARIUS: Interview mit Timo Kotipelto, erster Teil

04.03.2013 | 07:55

Das mit Spannung erwartete 14. Studioalbum der Power Metal-Institution STRATOVARIUS steht frisch in den Regalen. Kurz vor dem Release trafen wir uns mit Sänger Timo Kotipelto in Berlin, der sich gerade gemeinsam mit Keyboarder Jens Johansson auf Promotion-Tour für "Nemesis" befand.

Noch vor dem Release wurden Timo und Jens von ihrem Label losgeschickt, um europaweit für die neue Platte die Werbetrommel zu rühren. Nachdem die kleine Journalisten-Schar im Gibson Showroom in den Genuss eines exklusiven Akustik-Gigs kam, durften wir Timo für eine halbe Stunde in Beschlag nehmen, woraufhin der finnische Ausnahmesänger gleich unbefangen drauflos plaudert: "Wir mussten heute zeitig in Helsinki aufbrechen; letzte Nacht hatte ich noch einen Gig, ich habe gerade diese Akustik-Tour-Sache in Finnland mit Janni Liimatainen am Laufen (ex-SONATA ARCTICA, TK). Ich spielte auf der Hochzeit eines Freundes letzte Nacht, entsprechend habe ich nicht allzu viel geschlafen... Und heute geht’s mit unserer Promotion-Tour los, wir werden in Deutschland, Spanien, Frankreich, New York, und schließlich London auftreten. Es ist also eine relativ große Sache. Wenn man sieht wie sich der Markt zurzeit bezüglich CD-Verkäufe verhält, bin ich wirklich beeindruckt, was unser Label Ear Music für die Band macht. Ich bin bislang wirklich glücklich mit ihnen."

Ein klein wenig wurden Jens und Timo aber von den Plänen ihrer Plattenfirma überrascht. Auf meine Frage, wie denn das Standard-Programm eines solchen Promotiontages aussehe, erwidert Timo achselzuckend: "Also, eigentlich war das heute so gar nicht geplant. Wir wussten überhaupt nichts davon, dass wir hier auftreten sollten. In Madrid werden wir für den größten Radiosender des Landes spielen, davon wussten wir, aber... Weißt du, Jens lebt in Schweden, ich in Finnland, wir hatten keine Zeit zu üben. Wir haben also gerade nur eben ausprobieren können wie es klingt. Aber, es macht trotzdem Spaß, auf jeden Fall." Keine Frage – Gänsehaut ist garantiert, wenn Jens am Klavier sitzt und Timo dazu die neue Single 'Unbreakable' sowie den Klassiker 'Black Diamond' zum Besten gibt.

Doch in erster Linie soll es heute um das neue Album und den aktuellen Zustand der Band gehen. Nach weit über 20 Jahren im Geschäft, wo befinden sich STRATOVARIUS heute? Und wie steht es nach den turbulenten 00er Jahren um die Band? "Das ist eine gute Frage. Wenn du mich vor vier oder fünf Jahren gefragt hättest, dann hätte ich geantwortet, wir sind zwar noch irgendwie da, aber es ist nicht mehr so das Gelbe vom Ei... Aber jetzt, mit "Nemesis" habe ich das Gefühl, dass wir wieder im Geschäft sind. Natürlich hängt viel davon ab, wie die Fans das Album annehmen. Mehr als zuvor bin ich wirklich gespannt und auch etwas aufgeregt, wie die Platte ankommen wird. Es ist harte Arbeit, so ein Album aufzunehmen, und wenn es dann endlich fertig ist, denkt man zunächst einfach nur: "Puh, wir haben's geschafft". Aber gestern habe ich mir das Album wieder im Auto angehört, und ich mag es wirklich, ich bin sehr zufrieden."

Zu Recht, wie ich finde, schließlich fällt auch das Presseecho zu "Nemesis" so positiv aus wie schon lange nicht mehr. Kann man die neue Scheibe mit den Klassikern der Band vergleichen? "Oh ich habe das Gefühl, dass es das beste STRATOVARIUS-Album seit "Infinite" sein könnte“, meint Timo. "Vielleicht ist es sogar ebenbürtig, aber das ist schwer zu sagen. Noch schwerer ist es, "Nemesis" mit Alben wie "Visions" oder "Destiny" zu vergleichen. Es ist auf alle Fälle unser bestes Album seit vielen Jahren. Für  "Elysium" hatten wir beispielsweise gar nicht genug Zeit, denn als wir mit den Aufnahmen anfingen, waren wir bereits für die Tour mit HELLOWEEN gebucht, und wir dachten nur "Mist, wir müssen das Album echt irgendwie zusammen kriegen, so schnell wie möglich." Um das neue Album auf der Tour vorstellen zu können? "Ja, genau. Dann ging die Tour aber schon los, also konnten wir nichts dergleichen mehr machen, und die Sache wurde noch komplizierter, weil wir nicht nur die Shows spielten, sondern mit ganz anderen Dingen zu kämpfen hatten. Jörg fiel für den ersten Teil der Tour aus, weil er Krebs hatte, ich wurde unterwegs krank, es war wirklich... prächtig. Diesmal lief alles völlig anders."

Ehrliches Erstaunen meinerseits, da bereits "Elysium" ein wirklich starkes Album war, dem man das Chaos der Produktionsphase keinen Augenblick angemerkt hätte. Nichtsdestotrotz ist "Nemesis" sicherlich eine Steigerung, ein sehr geschlossenes, knackiges Album, das für mich klingt, als würde ihm eine feste Thematik, ein roter Faden zu Grunde liegen. "Nun... das ist schön zu hören, wenn du es so empfindest, aber "Nemesis" ist mit Sicherheit kein Konzeptalbum. Unser Songwriting-Prozess mag ohnehin ein anderer sein als bei den meisten Bands. Bei uns komponiert jeder mit, jeder trägt seinen Teil bei, auch wenn Rolf (Pilve, der neue Schlagzeuger - TK) diesmal noch nicht involviert war. Wir hatten mehr Lieder als die, die auf dem Album gelandet sind, entsprechend wird es auch wieder eine Special Edition geben. Diesen Eindruck, dass "Nemesis" ein roter Faden durchzieht, mag auch daher kommen, dass unser Gitarrist Matias diesmal das Album vollständig selbst produziert hat, er hat fast die ganze Arbeit gemacht, den Sound vereinheitlicht, die Songs aufeinander abgestimmt. Der ganze Prozess war einfach eine runde Sache."

Und der Albumtitel, sowie der Titeltrack – 'Nemesis' -, wird darin direkt Bezug genommen auf die griechische Mythologie? "Ursprünglich ist "Nemesis" ja ein Racheengel. Ich habe versucht, die Thematik in die Gegenwart zu übertragen und die Symbolhaftigkeit beizubehalten. Ich dachte an einen Wanderprediger, der beispielsweise mit einem Bus durch die Länder reist, die Städte aufsucht, und die Menschen kommen, um ihn zu sehen. Den guten Menschen spricht er Rettung zu, den schlechten Menschen die Verdammnis. Es ist also auch insofern eine moderne Geschichte, als dass heutzutage viele Menschen Religion "verkaufen", quer durch die Medien und sämtliche Konfessionen. Der Song handelt also weniger von der Legende, als von dieser etwas aktualisierten Geschichte."

Wie sieht es denn grundsätzlich mit dem Beitrag der einzelnen Bandmitglieder zum Songwriting-Prozess aus? Wer schreibt hauptsächlich die Texte, wer die Musik? Und wie fügt eine internationale Formation wie STRATOVARIUS die einzelnen Elemente zusammen? "Oh, das ist ganz unterschiedlich. Jens schreibt seine Songs und Texte, Lauri hat einen eigenen Song geschrieben, Matias schrieb 'One Must Fall', inklusive Text, sowie einen Großteil von 'Unbreakable', und für seine anderen Songs habe ich die Texte geschrieben. Dann gibt es zwei Songs, 'Out Of The Fog' und 'If The Story Is Over', die sind von mir und Jani Liimatainen. Jani ist zwar nicht Teil der Band, aber ich arbeite eben oft mit ihm zusammen. Wir schrieben also diese Songs und zeigten sie den anderen, und sie sagten, Klasse, die gehören auf die neue Platte. Jeder leistet auf unterschiedliche Weise seinen Beitrag." Also gibt es keine gemeinsamen Songwriting-Sessions? "Nein, leider nicht," bekennt Timo, "ich hätte das gerne so gehabt,  gemeinsam in einen Proberaum zu gehen und sich aufs Songwriting konzentrierten, zum Jammen und Ideen sammeln.  Aber das war nie möglich, besonders früher, mit einem deutschen Schlagzeuger und einem schwedischen Keyboarder, das hat einfach nie so funktioniert. Erst mal muss jeder für sich selbst etwas schreiben, dann tragen wir alles zusammen."


Ein Thema für sich im Hause STRATOVARIUS sind die Lineup-Wechsel der vergangenen Jahre. Mit Schlagzeuger Jörg Michael ging ein weiteres Urgestein, übrig blieben nur noch die Veteranen Timo und Jens. Die neuen Mitglieder entstammen teils schon einer ganz anderen Generation. Eine Herausforderung? "Natürlich gibt es große Altersunterschiede – Rolf ist beispielsweise erst 26 -,aber zunächst bringen die neuen Mitglieder eine Menge frischer Energie mit. Und bezüglich Rolf:  Obwohl er recht jung ist, hat er schon eine Menge Alben aufgenommen und Konzerte gespielt, umfangreiche Touren, ich kenne noch nicht einmal alle Bands in denen er gespielt hat; jetzt konzentriert er sich aber vollständig auf STRATOVARIUS. Er ist ein brillanter Schlagzeuger, ein sehr netter, bodenständiger Kerl. Dann haben wir unseren Gitarristen und unseren Bassisten. Lauri ist ca. zehn Jahre jünger als ich, und Matias wird dieses Jahr 30... Oder nächstes Jahr? Ich weiß gar nicht. Die Zeit verfliegt. Wie dem auch sei, sie sind keine Youngster mehr, auch wenn Jens und ich sie immer noch "The Young Association" nennen," lacht der routinierte Sänger. "Sie haben eben noch diese Energie, sie wollen noch losziehen und Party machen, ich bin manchmal schon zu müde für sowas und konzentriere mich auf die Konzerte. Aber es ist es ist schön zu sehen, dass der Altersunterschied keine Rolle spielt, wenn die Musik so stark verbindet. Toll war beispielsweise, als wir neue Schlagzeuger getestet haben, da merkte ich als Rolf spielte sofort "Verdammt, ich muss mit diesem Kerl schon mal musiziert haben," obwohl wir uns noch nie zuvor getroffen hatten. Das war wirklich großartig. Ja, wir hatten keine Vorgabe bezüglich des Alters, wir wollten einfach den besten Schlagzeuger Finnlands haben."

Und wie wurde Rolf in die Band integriert? Jörg hat ja sicherlich enorm große Fußstapfen hinterlassen. "Ja, das steht außer Frage. Nun, tatsächlich war es auch Jörg selbst, der sagte, er würde sich freuen, wenn wir einen neuen, anderen Typ Schlagzeuger finden würden, keinen "Jörg Klon", und der Meinung waren wir auch. Jörg ist ein absoluter Charaktertyp, und sein Drumstil hat einen hohen Wiedererkennungswert. "Jörg II", das hätte nicht funktioniert. Wir posteten also auf Facebook, dass wir einen neuen Schlagzeuger suchen. Daraufhin bekamen wir mehr als 100 YouTube-Videos, in denen Schlagzeuger unsere Songs spielten, und es waren einige wirklich gute Leute dabei. Diejenigen, die offensichtlich versucht haben, Jörgs Stil zu imitieren, haben wir allerdings gleich aussortiert. Es blieben am Ende vier Jungs übrig, die wir zum Vorspielen einluden. Es gab übrigens auch einige sehr bekannte internationale Musiker, aber als wir mit Rolf spielten, wurde uns klar, dass wir diese Leute nicht brauchen. Es macht keinen Sinn, irgend einen Star aus Amerika zu holen, der dann nie zu den Proben kommen kann." Also ist Rolf fortan Vollzeitmitglied? "Ja, absolut."

Dennoch bleibt Jörg, obwohl er die Band verlassen hat, sozusagen Ehrenmitglied im Hintergrund. "Wir stehen weiterhin in engem Kontakt, er arbeitet im Grunde auch noch für STRATOVARIUS, mit seiner Booking Agency. Er ist immer noch irgendwie dabei, steht weiter hinter der Band. Das ist toll, ich vertraue dem Kerl einfach zu 100%, es ist großartig mit ihm abzuhängen; er wird wohl auch das Tour Management für einige unserer Gigs übernehmen." Komplett in Ruhestand scheint sich der deutsche Ausnahme-Drummer aber noch nicht begeben zu haben, wie Timo uns wissen lässt: "Soweit ich weiß spielt er immer wieder mal, hobbymäßig, bei seiner Hardrock-Band, DEVIL'S TRAIN. Als er entschied, STRATOVARIUS zu verlassen, teilte er uns dies im Übrigen bereits schon vor ca. 4 Jahren mit: Wenn der richtige Moment für die Band gekommen wäre, würde er sich zurückziehen, und nicht vorher. Das war ein feiner Zug von ihm, nicht von einem Tag auf den anderen Tag zu sagen "Hey ich verpiss mich jetzt". Entsprechend konnten wir uns in aller Ruhe darauf vorbereiten."

Dass Rolf Pilve, der kaum die Hälfte von Jörg Michaels Lebensjahren auf dem Buckel hat, seine Sache hervorragend macht, davon können sich die Fans auf "Nemesis" überzeugen. Auf die Frage, welche Erwartungen die Band an das neue Album knüpft, antwortet Timo nüchtern: "Sicher könnten wir uns vornehmen, mehr CDs zu verkaufen als mit den letzten beiden Alben, aber es wäre beispielsweise schwer, "Infinite" zu toppen, die allein über 300.000 mal verkauft wurde. Weißt du, Musiktrends kommen und gehen. Seit 2000 ist Power Metal im Niedergang begriffen, es sind im Grunde nur noch HELLOWEEN, wir, und noch ein paar andere Bands übrig, die noch Power Metal spielen, die einst in den 90ern groß waren. Aber wir sind zuversichtlich, was "Nemesis" angeht. Mein persönliches Ziel für die nächsten Jahre ist schlicht, diese Songs live zu spielen und die Shows zu genießen. Alles, was darüber hinausgeht, ist ein Plus. Ich bin schon so viele Jahre in diesem Geschäft und erwarte nicht, dass wir in den USA Platin holen, oder in Deutschland, das wird sicherlich nicht passieren. Aber wenn wir ein paar gute Shows spielen, die Leute Spaß haben, mit zufriedenen Gesichtern nach Hause gehen, haben wir unser Ziel erreicht, und ich glaube "Nemesis" wird seinen Teil dazu beitragen."

Auf der im Frühjahr beginnenden Tour sind STRATOVARIUS neben AMARANTHE Co-Headliner. Im März startet dieses Melodic-Metal-Package  seine Reise in München.

Redakteur:
Timon Krause

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