Perlen der Redaktion: Julian Rohrers Highlights 2022

11.01.2023 | 22:26

Lieber Metal-Gott, vielen Dank für dieses tolle Musikjahr. Gespickt mit schönen Überraschungen und einem dicken Stinkefinger in Richtung Genre-Polizei - ausgerechnet ausgestreckt aus Deutschland!

Welcome to the otherworld! Willkommen im Eskapismus. Lasst uns das Jahr 2022 nehmen als das, was es war: Eine willkommene Einladung, in andere Welten abzutauchen. Trotz aller geopolitischer Fatalitäten gab es auch Highlights. Im Privaten. In der Musik. Vor der Bühne. Ihr habt das sicher auch gespürt: Live-Musik nach Monaten der Enthaltung war purer Sex für die Ohren. Auf das Highlight komme ich später zu sprechen.

Platz 1: ARENA - "The Theory Of Molecular Inheritance"

Apropos Ohren: Da gab es in diesem Jahr einiges Großartiges! Fangen wir mit einer handfesten Überraschung an: Eine meiner Lieblingsbands ARENA mit einem meiner Lieblingssänger: Damian Wilson (bekannt unter anderem durch THRESHOLD). Diese Ankündigung versetzte mich in Ekstase. Die verkopfte Geschichte, der Hang zum musikalischen Drama, die wunderbaren Melodiebögen, die rockige Musical-Stimme Wilsons – besser wurde Prog in diesem Jahr nicht gespielt. "The Theory Of Molecular Inheritance" ist ein Album zum Eintauchen und nicht mehr Auftauchen.

Platz 2: BIRTH - "Born"

Für Platz 2 reisen wir nach San Diego: Das krautrockigste Album des Jahres, das trotzdem nicht aus Deutschland kommt, stammte von BIRTH. Auf den Spuren früher KING CRIMSON, YES und PINK FLOYD sowie Prog Bands deutscher Couleur der 1970er buk BIRTH ein wunderbar verträumtes, mit kosmischen Melodieperlen verziertes Gesamtkunstwerk. "Born" steht seinen Vorbildern in nichts nach. Eine psychedelisch-melancholische Achterbahnfahrt für eure Nostalgie-Synapsen.

Platz 3: LUZIFER - "Iron Shackles"

Ich liebe ja Musik, die in der Muttersprache gesungen wird. Das trieb mich in der Vergangenheit immer wieder in kauzige musikalische Hinterhöfe abseits des Mainstreams. Und ließ sicher auch meine Liebe zu (deutschsprachigem) Krautrock entflammen. Deswegen hat mich die absolute Mitsing-Hymne 'Hexer (In Dreiteufelsnamen)' von LUZIFER sofort mitgerissen. Was für eine geile Kombi aus 70er-Okkulthymnen und Heavy Metal der alten Schule – für mich der Song des Jahres! Übrigens ist genau diese Kombination etwas, das der Band von ewiggestrigen Szenepolizisten angekreidet wurde. Es wäre schade, wenn die Band ihr Alleinstellungsmerkmal auf dem Altar der Genrereinheit opfern würde. Bitte weiter so!

PS.: Ganz herzlichen Dank an Christian Schwarzer, der mich auf diese Perle aufmerksam gemacht hat.

Platz 4 & 5: WILDERUN & DAUTHUZ

Gleich zu Beginn des Jahres wurden Progressive-Fans mit dem neuesten Opus von WILDERUN beglückt. Härte trifft Folk, Vielschichtigkeit auf bombastische Melodiewände. Für Fans alter OPETH und mancher DEVIN TOWNSEND-Alben. Einen völlig überraschenden Rückgriff auf die Musik meiner ersten Metal-Jahre erlaubte sich DAUTHUZ mit dem rein in melodischem Gesang gehaltenen "Vom schwarzen Schmied: Bergkgesænge" - eine Neueinspielung ihres Black-Metal-Albums aus dem Vorjahr. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Album dieser Couleur im Fahrwasser alter MENHIR oder BERGTHRON noch ins Jahr 2022 passt. Tut es aber! Ein dunkelschwarzes Kleinod, das gerne ausgegraben und gehört werden möchte. Und wie gemacht für Menschen, die gerne Black Metal hören würden, aber am Kreischgesang scheitern. Sollte es die geben, *hust* Frank *hust* ...

PS.: Das auf dem Foto rechts bin übrigens ich. Wollte niemanden schon zu Beginn des Artikels verschrecken ;)

Platz 6 & 7: LONELY ROBOT & MARILLION

Von einem der besten Songschreiber im modernen Prog, dem wunderbaren ARENA-Gitarristen John Mitchell, kam ein sehr persönliches AOR/Prog-Soloalbum: "A Model Life" ist duchaus gitarrenorientiert, aber vielleicht weniger als vermutet, denn Multi-Instrumentalist Mitchell beweist mit LONELY ROBOT, dass er viel mehr kann als die Sechssaitige! MARILLION lieferte erwartungsgemäß ein düsteres, zum Nachdenken animierendes Album ab. "An Hour Before It’s Dark" tut manchmal weh, so ehrlich ist es. Ein bisschen Zuversicht und Hoffnung stecken auch drin. Und diese Mischung reißt mit. Für meinen Arbeitgeber konnte ich dieses Jahr Steve Hogarth interviewen - herausgekommen ist ein für mich sehr eindrückliches Gespräch.

Platz 8 & 9 & 10: CATHERINE RUSSELL & DISILLUSION & SIGH

Die Grammy-Gewinnerin CATHERINE RUSSELL lieferte eine wunderbare Verbeugung vor den Helden des Swings. "Send For Me" lädt zum Tanzen ein. "Ayam" von DISILLUSION überraschte mich – ich hatte die Band nicht auf dem Schirm. Was für ein dunkelgothisches Metal-Monument! SIGH verkopfte sich erwartungsgemäß großartig verspult auf "Shiki" - unglaublich, dass dieser Signature-Sound Album für Album neue Facetten beinhaltet. Ohne jemals langweilig oder gar berechenbar zu werden.

Platz 11 bis 14

SAXON bewies mit "Carpe Diem" erneut, wieviel Kraft in den alten Knochen steckt. JOE SATRIANI lieferte ein äußerst gut hörbares Gitarren-Kunststück. KREATOR hasst mal wieder alles und alle und riss einfach alles ab – inklusive der zahlreichen fast guten Thrash-Epigonen dieser Zeiten.

KAMALAs "limbo666" war eine schwerelose Reise durch den psychedelischen Kosmos – mit Zwischenstop auf der Neon-Tanzfläche einer Space-Western-Bar im Pferdekopfnebel. Mehrstimmig, folkig, vielschichtig, dunkelpoppig, rockig, norwegisch: OAKs "The Quiet Rebellion Of Compromise" beinhaltete mehr überraschende Twists als die Serie "Dark". Weiterer Pluspunkt: Das Ende ist bei OAK besser. Pure Rock’n’Roll-Freude mit der richtigen Portion Wahnsinn versprühte THE NEPTUNE POWER FEDERATION mit "Le Demon de L'amour".

Platz 15 bis 20

Zu früh gegangen ist Albin Julius. Der BLUTHARSCH-Mastermind starb am 4. Mai 2022. Zusammen mit dem Dark-Country-Musiker King Dude veröffentlichte er den dunkelsten Western des Jahres. "Black Rider On The Storm" von KING DUDE & DER BLUTHARSCH AND THE INFINITE CHURCH OF THE LEADING HAND ist tief abgründige, dunkle, tolle Musik. RIP!

Wir bleiben abseitig: LAIBACHs Musical "Wir sind das Volk" war genau so verstörend, wie wir das erwarten durften. Zerbrechlich, großartig, trippig sind die Damen von WARPAINT zugange. "Radiate Like This" hat mich positiv überrascht, habe ich die Band doch einige Jahre aus den Augen verloren. Den Abschluss meiner Liste lieferte der Hassbatzen PANZERFAUST: "The Suns Of Perdition - Chapter III: The Astral Drain" ist dreckig, fies, geil!

Auch GRAVE DIGGER, PATTERN SEEKING ANIMALS, DEVIN TOWNSEND, MAGNUM, AVATARIUM, ARTHUR BROWN, AETERNAM, AMORPHIS, STAR ONE, ELDER, GGGOLDDD, H.E.A.T., STRYPER, LORNA SHORE, BLIND GUARDIAN, SINNER, SHINEDOWN und viele weitere Bands lieferten tolle Alben ab, was nur zeigt, wie gut dieses Musikjahr war!

Was überzeugte auf der Bühne?

Live riss mich ARENA mit einem perfekt singenden Damian Wilson aus den Prog-Birkenstock-Sandalen. Für mich eines der besten Konzerte der letzten (HAHA!) Jahre - und ein wunderbarer Fanboy-Moment, wie das Foto mit Damian zeigt. In unserem Forum schrieb ich dazu: "Live konnte ich ARENA mit rund 100 anderen Begeisterten Anfang Oktober in München sehen: war ein wunderbares, sehr intimes Konzert mit einem sehr nahbaren Sänger, der sich seiner Rolle als 'der Neue' zu Beginn sehr bewusst war, sich davon aber schnell lösen konnte und abgeliefert hat wie ein junger Gott. Auch der Rest der Band ist natürlich begnadet."

SPITFIRE zeigte auf einem kleinen Festival in Schwaben, dass es keine große Bühne braucht, um abzureißen (übrigens ist "Nightmares" ein tolles Album geworden!). Vielen Dank an den lieben Kollegen Rüdiger Stehle und seine Mann-/Frauschaft für die Organisation des wunderbaren "Gas gäba"-FestivalsSAXON ist einfach ein Phänomen: Zusammen mittelhoch dreistellig alt, hinterließen die Metal-Senioren nur Schutt und Asche. Das beste auf CD/Vinyl gepresste Live-Erlebnis lieferte übrigens ALAN PARSONS mit "One Note Symphony: Live In Tel Aviv" ab. Es ist überraschend, wieviele Melodien und Songfragmente man von dem Veröffentlichungsweltmeister doch kennt. Und: Besser geht symphonischer Live-Rock nicht.

Es gab auch Enttäuschungen ...

Die Enttäuschung des Jahres lieferten gleich mehrere Bands: DARKTHRONE (besser aufhören, als sich immer wieder neu schlecht zu kopieren), THRESHOLD (ein überraschend unrundes Album für die ehemaligen Meister des Prog-Metals – sehr schade!), BEHEMOTH (warum zum Teufel wird dieser biedere Sound Album für Album so abgefeiert?) und GHOST (mehrfach versucht, nie hat es Klick gemacht – ist also offiziell schlecht 😉 ).

In eigener Sache

Wenn ihr es bis hierhin geschafft habt, danke ich für die Aufmerksamkeit und wünsche euch ein wundervolles Jahr 2023 voller guter Musik! Ein letzter Hinweis in eigener Sache: Auch meine Band ANGSTKVLT hat 2022 mit 'Iconoclast' einen Song veröffentlicht – als digitale Single. Aus meiner Sicht ist das der bis dato reifste und musikalisch vielschichtigste Song in unserem Schaffen, was mich sehr stolz gestimmt hat. Es würde mich sehr freuen, wenn ihr ein Ohr riskiert: Viel Spaß beim Reinhören!

Coverartwork des Jahres

Und zum Schluss das Coverartwork des Jahres. Das lieferte DAUTHUZ mit einem naiv-künstlerischen, wunderbar nostalgischen Cover zu "Vom schwarzen Schmied: Bergkgesænge", das als physisches Produkt einiges hermacht:

Die Liste

Rang

Band Album
01. ARENA The Theory Of Molecular Inheritance
01. BIRTH Born
03. LUZIFER Iron Shackles
04. WILDERUN Epigone
05. DAUTHUZ Vom schwarzen Schmied: Bergkgesænge
06. LONELY ROBOT A Model Life
07. MARILLION An Hour Before It's Dark
08. CATHERINE RUSSELL Send For Me
09. DISILLUSION Ayam
10. SIGH Shiki
11. SAXON Carpe Diem
12. JOE SATRIANI The Elephants Of Mars
13. KREATOR Hate über Alles
14. KAMALA limbo666
15. OAK The Quiet Rebellion Of Compromise
16. THE NEPTUNE POWER FEDERATION Le Demon de L'amour
17. KING DUDE & DER BLUTHARSCH AND THE INFINITE CHURCH OF THE LEADING HAND Black Rider On The Storm
18. LAIBACH WIR SIND DAS VOLK – Ein Musical aus Deutschland
19. WARPAINT Radiate Like This
20. PANZERFAUST The Suns Of Perdition - Chapter III: The Astral Drain

Redakteur:
Julian Rohrer
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