NEGLECTED FIELDS: Interview mit Sergejs

25.06.2006 | 20:12

NEGLECTED FIELDS aus Lettland sind aus meiner Sicht eine der interessantesten und musikalisch stärksten Bands im Bereich des technischen, progressiven Death Metals. Dass sie dabei trotz aller Komplexität nie die Atmosphäre und den Song als solchen aus den Augen verlieren, zeichnet sie gegenüber vielen artverwandten Kapellen nur noch umso mehr aus. Daher hab ich nach der Besprechung ihres tollen aktuellen Albums "Splenetic" Kontakt zu Gitarrist und Sänger Sergejs aufgenommen. Der Gute hat trotz der vielen Arbeit mit der CD-Präsentation die Zeit gefunden, sich meinen Fragen zu stellen und weiß durchaus Interessantes zu erzählen. Doch lest selbst:

Rüdiger:
"Mephisto Lettonica" kam ja schon 2000 heraus, und sechs Jahre sind im Business eine lange Zeit? Warum habt ihr für "Splenetic" so lange gebraucht, und was habt ihr sonst all die Jahre getrieben?

Sergejs:
Erstmal haben wir von diesen sechs Jahren fast ein ganzes gebraucht, um ein Label zu finden. Jetzt kann man sagen, dass sich die Situation von derjenigen der letzten Jahre grundlegend unterscheidet. Zwei weitere Jahre wurden von Line-up-Problemen und organisatorischen Fragen aufgerieben. Alles in allem hatten wir nur drei Jahre für das Komponieren des Albums, und das ist für diese Art von Musik gar nicht mal so lange, glaube ich. Außerdem ist wichtig, dass wir nie wirklich aufgehört haben und immer so viele Shows wie möglich gespielt haben. Überall! Nun, leider nicht in Deutschland.

Rüdiger:
2002 ist eines eurer Gründungsmitglieder ausgestiegen. Weißt du, was Herman heute macht, und hat sein Ausstieg die Band stark beeinträchtigt? War es schwer, einen passenden Ersatz zu finden?

Sergejs:
Natürlich hatten wir Probleme, als er ausstieg. Der Kerl war von Anfang an bei NEGLECTED FIELDS und hatte viel mit dem Komponieren der Musik zu tun, also suchten wir lange nach einem Ersatz. Das war in Lettland mit seiner eher kleinen Metalgemeinde besonders schwierig, also sahen wir diverse Gitarristen kommen und gehen. Derjenige, den wir schließlich genommen haben, ist ein alter Freund von mir und witzigerweise auch einer meiner ersten Schüler. Vor langer Zeit, als ich noch stärkere Nerven hatte als heute, arbeitete ich zwei Jahre lang als Gitarrenlehrer. Und Sergej alias Filth war einer der ersten, die ich unterrichtete. Sieht so aus, als hätte ich das gut gemacht, hehe.
Aber zurück zu Herman: Sein Problem ist, dass er überhaupt kein Interesse mehr an Metal-Musik hat. Er ist ein guter Freund von mir, und ich respektiere seine Entscheidung. Momentan spielt und produziert er für eine Band namens CREATIVA AOR-Pop-Rock mit weiblichem Gesang - und das eigentlich sehr gut, ich mag das Material.

Rüdiger:
Ich hab eure vorherigen Alben leider nicht gehört, aber von einem Kollegen hab ich gehört, dass ihr früher weniger progressiv geklungen habt. Was hat sich im Laufe der letzten Jahre am eurem Sound konkret verändert?

Sergejs:
Hmm. Ich kann nicht bestreiten, dass NFs neuestes Album ein bisschen aggressiver ist, aber ich fürchte, dass das kaum mit der Progressivität zu tun hat. Jedenfalls ist "Splenetic" viel reifer als die Vorgängeralben. Außerdem haben wir versucht, all die technischen Elemente anders einzusetzen als früher. Wir haben es so gestaltet, dass es leichter anzuhören ist, aber trotzdem noch progressiv genug, um dir die Finger zu brechen, wenn's ans Spielen geht. Ich denke, dass das die größte Veränderung ist.

Rüdiger:
War das eine natürliche, unbewusste Entwicklung, oder habt ihr mit "Splenetic" ganz bewusst neue Wege beschritten?

Sergejs:
Wir haben uns immer von Album zu Album verändert, einfach so, wie wir es als richtig empfanden. Es ist nie jemand in die Probe gekommen und hat gesagt: "Wir müssen schnellere Musik spielen." oder "Das Album muss dunkler werden.". Nichts dergleichen. Weißt du, die Leute verändern sich, und so verändern auch wir uns. Die aktuelle Stimmung ist der Maßstab.

Rüdiger:
Es sieht aus, als würde euer Keyboarder George eine sehr wichtige Rolle im aktuellen NF-Sound spielen. Es hört sich für mich an, als würde er eine Menge dazu beitragen, dass jeder Song einen sehr speziellen Charakter bekommt, ohne dabei den Synthesizer zu dominant werden zu lassen. Das ist songdienlich, macht die Stücke aber auch unterscheidbarer. Siehst du das auch so?

Sergejs:
Absolut! George ist nicht der einzige, der mit den Keyboards befasst ist. Manchmal leiste ich auch meinen Beitrag und in manchen wichtigen Momenten ist es die ganze Band. Und ja, wir suchen nach speziellen Sounds und Motiven, welche in jedem Song eine andere Atmosphäre erzeugen. Das einzige Hauptkonzept hinter den Synthesizern bei NF ist Grimmigkeit, die Aura morbider Lust. Etwas, das mich an das Gefühl erinnert, das die Leute in einem mittelalterlichen Zirkus mit all seinen Freaks und grausamen Attraktionen suchten.

Rüdiger:
Insgesamt denke ich, dass jedes Mitglied der Band es schafft, den Kompositionen und der Band als solcher zu dienen, ohne dabei der Angeberei und den Egotrips zu verfallen. Das ist etwas, dass ich vielen anderen technischen Death-Metal-Bands vorziehe. Es ist nicht Geschwindigkeit und Technik um ihrer selbst willen, sondern darum, die Songs interessanter zu gestalten. Wie schwierig ist es für euch, die ihr offensichtlich alle sehr gute Instrumentalisten seid, eure Fähigkeiten dem Songwriting unterzuordnen?

Sergejs:
Wow, Rüdiger, vielen Dank! Solche Komplimente höre ich wirklich gerne! Und ich fürchte, dass ich deinen Worten nicht mehr viel hinzufügen kann. Ja, das Hauptziel der Band ist das Songwriting, und da wir seit vielen Jahren zusammenspielen, haben wir uns daran gewöhnt, das Ego zu zügeln. Das hängt sehr von den Leuten ab, aber wir sind es gewohnt, als Band zu agieren. Man kann kein Gitarrensolo einbauen, wenn es nicht passt, nur weil man es haben will. Es zerstört die Harmonie des Songs. Da gäbe es dann vier Leute, die dir an die Gurgel gehen und dein Blut trinken, wenn du das versuchst. Hahaha!

Rüdiger:
Welche anderen technischen oder progressiven Death-Metal-Bands findest du gut, und welche gehen für NEGLECTED FIELDS als Einfluss durch?

Sergejs:
Das waren natürlich vor allem CYNIC, ATHEIST und DEATH, daneben vielleicht auch NOCTURNUS, PESTILENCE und SADIST, die uns am Anfang bewegten. Aber seit knapp sieben Jahren suchen wir im eigenen Genre nicht mehr nach irgendwelchen Einflüssen. Damals merkten wir, dass wir nur originell sein können, wenn wir Inspirationen aus dem Non-Metal-Bereich beziehen, und diesem Weg versuchen wir zu folgen. Damit meine ich nicht, dass wir einst ein Treffen hatten, und beschlossen haben, dass wir so zu handeln hätten. Es ist einfach nur logisch, und deshalb kann ich dir auch nicht viel über die heutigen Progressive-Death-Bands sagen. Gut, ich hör mir schon neue Alben an, aber meistens neue Alben alter Bands. Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss.

Rüdiger:
Keineswegs. Viele Musiker, die schon eine Weile dabei sind, dürften das ähnlich sehen.
Auf dem Album gibt's auch eine ganze Menge jazziges Material, einige schräge Takte und massenweise Breaks. Vor allem auf Stücken wie 'Confusion' und 'Khert Neter'. Wie stark seid ihr dem Jazz und anderen kompliziert strukturierten Musikrichtungen verbunden? Werdet ihr darauf weiter aufbauen, oder erwarten uns in Zukunft wieder straightere NF-Alben?

Sergejs:
Wir haben unserer Musik schon immer ein wenig Jazz beigemischt. Angefangen hat das mit dem Stück 'Eschatological' auf dem Album "Synthinity"; aber nur beigemischt. Zu viel Jazz würde unsere Musik zerstören und in Avantgarde verwandeln, was nicht unser Ziel ist und nicht die Gefühle berührt, die wir behandeln. Jazzige Passagen sind aber nötig, um die 4/4-Popstrukturen zu zerstören, die schon vor zwanzig Jahren totgedudelt worden sind. Der Vier-Viertel-Takt wurde in Europa erfunden und scheint mir das Langweiligste zu sein, was es in der Musik gibt. Wenn man den Takt zerbricht, dann bereichert das die Musik und macht den Leuten mit schlechtem Geschmack Angst. Jau, damit werden wir auch auf dem nächsten Album fortfahren, aber wir werden es wieder sanft machen, ohne in den Abgrund der Dissonanz zu stürzen.

Rüdiger:
Euer Schlagzeuger Karlis blastet nur sehr selten richtig extrem. Er zermalmt die Songstrukturen nicht, sondern erweitert sie. Wie würdest du seinen Stil beschreiben, und warum meinst du, dass so viele andere Bands sich viel zu sehr auf pures Blasten konzentrieren, statt ihrem Schlagzeugspiel Variablität zu verleihen?

Sergejs:
Wahrscheinlich, weil es immer einfacher ist, geradlinige Rhythmen zu spielen. Es hängt auch davon ab, was du mit der Musik ausdrücken willst. Glaub mir, wenn Karlis einfache Musik spielt, dann macht er das ganz anders. In NEGLECTED FIELDS versuchte er schon immer, seine Schlagzeugparts auf andere Strukturen aufzubauen als die Gitarren. Diese Linien dienen dann dazu, die Gitarren zu ergänzen, nicht dazu, sie zu unterstreichen. Das klingt anders, macht die Kompositionen aber nicht chaotisch. Es ist in der Tat ein einzigartiger Drumstil. Der Mann gehört zu den besten Schlagzeugern hier.

Rüdiger:
Außerdem finde ich es sehr positiv, dass Sergejs Bass im Gesamtmix sehr gut hörbar und präsent ist. Ich denke, dass ein Bassist, der seinen eigenen Weg geht, statt nur den Gitarren zu folgen, sehr viel zum "kompletten" Sound eines Albums beitragen kann. Warum meinst du, dass so viele Bands diesen Aspekt vernachlässigen und den Bass im Endmix ertrinken lassen. Keine guten Bassisten und Ideen für das Bassspiel, oder nur ein Sounddefizit?

Sergejs:
Nun, ich muss wiederum feststellen, dass es auch nicht für alle Bands so sein muss. Außerdem ist es gar nicht so leicht, ein gutes Resultat, mit dem man zufrieden ist, zu bekommen. Es ist bei uns eine gut ausgearbeitete Kombination von Basslinien, die von den Gitarren abweichen, und außerdem ein spezieller Sound für den Bass. Wenn du im Mix nur den Bass lauter drehst, dann hast du ihn als Lead-Instrument, und das ist zu bizarr für den Zuhörer. Das wird definitiv schräg klingen. Was den Bass auf "Splenetic" angeht: Wir sind einen langen Weg gegangen, um das hinzubekommen, und es ist das erste von unseren drei bisherigen Alben, bei dem all das wirklich gut heraus gekommen ist. Der Dank dafür gebührt Sergejs großartigen Fähigkeiten auf dem Instrument und der tollen Arbeit unseres Produzenten TT Oksala!

Rüdiger:
Einige Worte über die Gitarrenarbeit von dir und Filth: Ihr arbeitet viel mit mehrschichtigen Leads und Harmonien, aber auch mit schneidenden Riffs, schrägen, disharmonischen Stimmungen usw. Wer übernimmt dabei welche Parts, und wie würdest du eure Zusammenarbeit insoweit charakterisieren?

Sergejs:
Wie alle Instrumentalteile, werden die Gitarren nicht nur von den Gitarristen arrangiert. Ich meine, es fängt natürlich mit den Riffs an, die wir in den Proberaum mitbringen, aber dann werden sie durch den Filter der Vorstellungen aller Bandmitglieder geprägt. Rhythmische Verbesserungen unseres Bassisten Sergej, Georges verrückte Kenntnisse über die Harmonienlehre (Er ist Doktor der Musik, wusstest du das? Er hat vor ein paar Jahren eine seiner Thesen verteidigt!). Am Ende bekommen wir dann manchmal was ganz anderes, als das, was wir am Anfang hatten. Was die Spezialisierung zwischen uns beiden angeht: Ich befasse mich vor allem mit den Leads, Filth ist dafür noch etwas zu jung. Außerdem ist er mein Schüler, nicht wahr? :-)

Rüdiger:
Wie teilt ihr das Songwriting allgemein untereinander auf?

Sergejs:
Wie gesagt, es fängt alles mit den Gitarrenriffs an. Dann machen wir die Drums, es folgt der Bass, so wie es in einer Rhythmussektion sein muss, sowie die Keyboards und der Gesang. Natürlich werden manche Teile mit besonderem Akzent auf einem speziellen Instrument auch mal anders arrangiert, aber normalerweise läuft es nach diesem Schema sehr gut. Ich hab ja schon gesagt, dass alle Arrangement aller Instrumente das Ergebnis gemeinsamer Arbeit sind, und das ist die Wahrheit. Nun gut, die Soli sind die Ausnahmen. Keiner versucht eines zu verbessern, wenn die Band entschieden hat, dass es an diese Stelle muss. Auch die Stimme - die mach ich meistens selbst. Sie ist bei NF mehr ein rhythmisches, als ein melodisches Instrument.

Rüdiger:
Zu eurer heimischen Szene: Ich hab den sehr deutlichen Eindruck, dass immer mehr baltische Bands mehr und mehr Respekt in der internationalen Metalszene ernten. Nicht als Exotenbonus, sondern weil sie qualitativ hochwertige Musik machen, sowohl rein musikalisch, als auch soundtechnisch. Außerdem habt ihr viele originelle Bands. Was denkst du über die baltische und spezifisch die lettische Metalszene?

Sergejs:
Meiner Meinung nach wachsen beide, die lettische und die baltische Szene. Und ja, manche Bands aus dieser Gegend sind wirklich gut und originell. Mindestens vier bis fünf Acts aus jedem baltischen Staat verdienen Beachtung. Das blöde ist nur, dass wir nur einen kleinen lokalen Markt für Metal-Musik haben. Die Gesamtpopulation im Baltikum beträgt wenig mehr als sieben Millionen; der lettische Anteil daran beträgt 2,3 Millionen. Daraus folgt, dass wir keine echte Musik-Infrastruktur mit Clubs, Magazinen haben, die so ausgeprägt wäre, wie sie überall in Europa etabliert ist. Die Bands leiden unter einem Mangel an Aktivität und Promotion. Die Situation wird zwar jährlich besser, aber sehr langsam, und manch talentierter Musiker verliert dann einfach das Interesse und hört auf.

Rüdiger:
Glaubst du, dass es für das Baltikum irgendwann ein Stil-Markenzeichen wie "Bay Area Thrash" oder "Italo-Power-Metal" geben wird?

Sergejs:
Ja klar, Latvian Wave of Progressive Death (LWoPD), hahaha! Klingt schräg, und ich glaube nicht, dass genau das passieren wird. Das ist nicht der Stil, dem man einfach so folgt, obwohl es bei uns ein paar Bands gibt, die von NEGLECTED FIELDS inspiriert sind. Aber, offen gesagt, diese Art von Trademark gibt es bereits. Man könnte es Baltic Pagan Metal nennen, und ich weiß, dass es immer populärer wird. Hier in den baltischen Staaten haben wir starke folkloristische Traditionen, und die beeinflussen manche Bands sehr stark. Das macht ihren Sound sehr eigenständig gegenüber all den anderen, rund um den Globus!

Rüdiger:
Ja, aus dem Bereich mag ich auch einige Bands sehr gerne, aber zurück zu euch: Was habt ihr aktuell für Live-Pläne? Kommt ihr demnächst mal nach Deutschland?

Sergejs:
Wir wollen im Herbst touren, unser Label arbeitet gerade mit einigen Booking-Agenturen daran. Ich hoffe das klappt, dann kommen wir noch dieses Jahr nach Deutschland! Außerdem wurden wir eingeladen, am 16. September auf der "Nebelmond Metal Party" in einer Stadt namens Georgsmarienhütte bei Osnabrück zu spielen. Ich hoffe, das wird eine gute Show dort!

Rüdiger:
Wie lange werden wir auf den Nachfolger zu "Splenetic" warten müssen? Hoffentlich nicht wieder sechs Jahre?

Sergejs:
Wer weiß? Vielleicht sieben? :-) Wenn wir keine Line-up-Wechsel haben, dann glaub ich, dass wir es in zwei Jahren schaffen können. Wir schreiben bereits neue Stücke, und ich kann schon sagen, dass sie wirklich interessant klingen... und anders! Mal sehen, was passieren wird. Es hängt so viel von den Ideen ab. Wir spielen keine kommerzielle Musik, also ist es besser, wenn man ein gutes Album in sechs Jahren macht, finde ich.

Rüdiger:
Sicher, das sehe ich auch so. Jedenfalls besser, als ein halbgares Scheibchen jedes Jahr! Das war's, Sergej. Ich wünsch dir und der Band alles Gute für die Zukunft! Wenn du noch was los werden willst, dann schieß los!

Sergejs:
Rüdiger, vielen dank für das tolle Interview! Du hast genau die Fragen gestellt, die ich mir manchmal selbst stelle, und ich habe unsere Musik mit keinem Magazin bisher so intensiv diskutiert. Danke! Tut mir leid, wenn meine Antworten manchmal kürzer waren, als die Fragen. :-) Jeder, der das hier liest: Hört mal rein, wenn ihr mal etwas anderes hören wollt. Wir sehen uns auf Tour!

Rüdiger:
Ja, hoffentlich! Wir danken für das Gespräch!

Redakteur:
Rüdiger Stehle

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