Im Rückspiegel: IN FLAMES - "Lunar Strain" - "Reroute To Remain"

10.02.2023 | 22:58

Mit "Foregone" erscheint dieser Tage das vierzehnte Studioalbum der schwedischen Melodic-Death-Urväter IN FLAMES und wie immer stellt sich für viele Fans die Frage, ob der Fünfer zu seinen Wurzeln zurückkehrt oder doch den zuletzt eingeschlagenen Alternative-Metal-Weg beschreitet. Doch wo liegen eigentlich die Ursprünge der Band und wie sind wir überhaupt beim 14. Langspieler angekommen? All diese Fragen wollen wir beantworten, wenn wir im Rahmen unseres Rückspiegels auf beinahe 30 Jahre IN FLAMES zurückblicken.

Lunar Strain (1994)

Am 01.04.1994 erschien das erste Studioalbum von IN FLAMES. Und nicht nur stilistisch lässt sich "Lunar Strain" nicht mit dem heutigen Sound der Göteborger vergleichen. Auch die Bandbesetzung hat sich seit dem Release vor fast 20 Jahren mittlerweile komplett geändert. Damals saß zum einen der spätere Lead-Gitarrist Jesper Strömblad am Schlagzeug und am Mikro stand nicht Anders Fridén, sondern der heutige DARK TRANQUILLITY-Fronter Mikael Stanne. Und wie gesagt, auch stilistisch schlug IN FLAMES auf "Lunar Strain" in eine deutlich andere Kerbe als heute. Das Album, das damals über Wrong Again Records veröffentlicht wurde, bietet räudigen Melodic Death Metal im AT THE GATES-Stil. Gleich der Opener 'Behind Space' zeigt die Band von der besten Seite und bietet schöne Gitarrenläufe. Dazu passte im Zusammenspiel mit dem eher rumpeligen Albumsound der fiese Gesang von Mikael Stanne, der schon fast als Black-Metal-Vocals durchgehen könnte, perfekt. Aber schon hier zeigte sich erstmals das Gespür der Schweden für melodische Gitarrenlinien und es ist nicht umsonst einer der wenigen Songs, der bis heute noch Einzug in die Konzert-Setlisten der Truppe findet. Aber auch der Titeltrack, 'Dreamscape' oder 'Upon An Oaken Throne' waren schöne Songs und zeigten eine hoffnungsvolle neue Band mit Potential, die noch deutlich am Beginn ihrer Reise war und für die es nicht abzusehen war, wo die Reise sie tatsächlich hinbringen würde.

[Mario Dahl]

The Jester Race (1996)

Das zweite IN FLAMES-Album "The Jester Race" bringt 1996 einige entscheidende Änderungen im Vergleich zum Debüt mit sich. So hat Jesper Strömblad bereits für die vorangegangene EP "Subterranean" das Schlagzeug gegen die Gitarre eingetauscht und wird für die neue Scheibe von Björn Gelotte - ja richtig gelesen - am Drumkit ersetzt. Ebenso gibt Anders Fridén seinen Einstand auf voller Albumdistanz als Fronter, nachdem er bereits als Gast das IRON MAIDEN-Cover 'Murders In The Rue Morgue' eingesungen hat. Gerade Strömblad und Fridén drücken dem neuen Material dabei ihren Stempel auf, verpassen dem melodisch angehauchten Todesstahl des Debüts eine gehörige Portion Eingängigkeit und erschaffen so zahlreiche Hits, die man heute mit Fug und Recht als Melodic-Death-Klassiker bezeichnen muss. Über allem strahlt für mich dabei das wunderschöne 'Artifacts Of The Black Rain', das mich im Alter von 16 Jahren zum Fan des Genres machte. Ebenso überragend ist aber auch der Opener 'Moonshield' mit seiner großartigen Melodieführung, während 'Dead Eternity' und 'Dead God In Me' eher die Todesmetall-Wurzel heraufbeschwören, dennoch unverschämt eingängig aus den Boxen donnern. Gerne übersehen wird das großartige 'December Flower', das für mich bis heute einer meiner Lieblinge im Katalog der Schweden ist. Gleiches gilt für das verträumte und wunderschöne 'The Jester's Dance', das mit seinen akustischen Gitarren einen herrlichen Gegenpol zwischen den massiven Gitarrenwänden bietet und die sehr eigentümliche und fast schon folkige Melodieführung zur Schau stellt, die zu einem entscheidenen Markenzeichen des Bandsounds werden wird. Das detailverliebte und ikonische Artwork aus der Feder von Andreas Marschall tut schließlich sein übriges dazu, um "The Jester Race" zu einem rundum perfekten Album zu machen, das jeder Fan von melodischem Todesstahl in seinem heimischen Regal stehen haben muss. Am besten übrigens als Re-Release, dem die folgende "Black-Ash Inheritance"-EP beiliegt, die nicht nur einen Ausblick auf die weitere Karriere des Fünfers gibt, sondern mit dem großartigen 'Acoustic Medley' auch einen absolut grandiosen Track zu bieten hat, der sonst auf keiner regulären Platte erschienen ist.

[Tobias Dahs]

Whoracle (1997)

Nur etwas mehr als ein Jahr liegt zwischen "The Jester Race" und dem Nachfolger "Whoracle", doch künstlerisch ist der dritte Silberling von IN FLAMES ein Quantensprung. Nicht nur ist der Fünfer in Sachen Songwriting noch deutlich ausgereifter unterwegs, auch textlich versucht sich Anders Fridén bei seinem zweiten Einsatz direkt an einem ausgefeilten Konzept, das eine dystopische Zukunft beschreibt, in der sich die Menschheit durch ihre eigenen Triebe zu Grunde richtet. Passend dazu ist der Titel eine Zusammensetzung der englischen Wörter für "Hure" und "Orakel" und auch Andreas Marschall greift die textlichen Ideen in seinem wunderschönen und ikonischen grünen Artwork auf. Ja selbst das großartige DEPECHE MODE-Cover 'Everything Counts', das die Schweden gekonnt in den melodischen Todesstahl transferieren, passt lyrisch in die komplexe Story. Die große Stärke der Platte ist dabei aber, dass sämtliche Kompositionen auch losgelöst vom Konzept funktionieren und zahlreiche Hits über die Trackliste verstreut zu finden sind. 'Jotun' und 'Food For The Gods' etwa präsentieren die Trademarks des Fünfers in Perfektion und liefern wuchtige Riffs und unwiderstehliche Melodien, während 'Gyroscope' mit seinem zwingenden Groove nun wirklich jeden zum rhythmischen Headbangen animieren sollte. Die instrumentalen Einschübe 'Dialogue With The Stars' und 'Whoracle' sind dagegen einfach nur wunderschön und melodisch, während 'The Hive' und das wuchtige 'Episode 666' die ungebändigte Death-Metal-Seite der Göteborger zur Schau stellen. Letztgenannter Track sollte später auch auf den Liveshows zu einer absoluten Bandhymne mutieren, die von jeder Kehle im Saal begeistert mitgegrölt wurde. Für mich ist die Scheibe damit vielleicht die prägendste Veröffentlichung des gesamten Melodic-Death-Genres, denn selten wurde die Härte von AT THE GATES so gekonnt und ausbalanciert mit IRON MAIDEN-Melodien und einer folkigen Note verheiratet wie auf "Whoracle". Alleine diese historische Bedeutung macht die Platte zu einem Pflichtkauf für interessierte Metalheads und zu einem Kapitel in der Geschichte unseres geliebten Genres, das man auf keinen Fall verpasst haben darf.

[Tobias Dahs]

Colony (1999)

Gerade einmal gute fünf Jahre nach der Veröffentlichung des Debütalbums "Lunar Strain" legte IN FLAMES mit "Colony" bereits das vierte Studioalbum vor. Das ist umso beachtlicher, wenn man überlegt, dass die Band diverse Besetzungswechsel hinter sich hatte und zudem mit "Subterranean" und "Black-Ash Inheritance" zwei EPs veröffentlicht hatte. Und es ist unglaublich, welche Entwicklung diese Band bis zu diesem Zeitpunkt schon genommen hatte. Hat sich IN FLAMES auf "The Jester Race" und "Whoracle" in Sachen Songwriting schon massiv weiterentwickelt, hörte dieses stetige Streben nach Verbesserung des eigenen Sounds auch auf "Colony" nicht auf. Auch wenn die stilistischen Änderungen im Vergleich zum Vorgängerwerk nicht so massiv ausgefallen sind, so präsentierte man sich in Sachen Produktion in viel besserer Klangqualität. Der Sound war viel sauberer, druckvoller und gleichzeitig moderner. Vielleicht liegt es daran, dass "Colony" nicht nur mein Erstkontakt mit IN FLAMES, sondern auch mein Erstkontakt mit extremeren Metal-Genres war, dass ich dieses Album auf ewig als das beste IN FLAMES-Album aller Zeiten titulieren werde. Vielleicht liegt es wirklich daran. Vielleicht aber auch einfach an dem Umstand, dass 'Embody The Invisible', 'Ordinary Story', 'Scorn', der Titeltrack, 'Zombie Inc.', 'Resin' (diese Gitarrenmelodie ist einfach zum Niederknien) oder die Neuaufnahme des Klassikers 'Behind Space' in meinen Ohren zeitlose Melodic-Death-Granaten sind, an denen ich mich nicht satthören kann. Gleichzeitig ist es das letzte Album von IN FLAMES, das ich ausnahmslos großartig finde.

[Mario Dahl]

Clayman (2000)

Es kam damals schon etwas überraschend, dass IN FLAMES bereits 2000 den Nachfolger zum überragenden "Colony" eingetütet hatte. Sollte denn etwas mehr als ein Jahr ausreichen um erneut zu demonstrieren, wer der Platzhirsch im Melodic Death Metal ist? Nun ja, der Rest ist Geschichte. Für viele Fans ist "Clayman" auch heute noch das Magnus Opus der Band oder zumindest der Konsens, auf den sich Fans der späteren und früheren Werke einigen können. Dabei ist es weniger der nun noch stärkere Einsatz von Clean-Vocals, der das zukünftige Songwriting nachhaltig verändern sollte, und auch nicht der nun noch variablere Einsatz von Samples, Loops und sphärischen Parts, vielmehr ist es der deutlich stärkere Fokus auf Gesangslinien und die damit gesteigerte Eingängigkeit des neuen Songmaterials. Wurden Melodien und Harmonien bisher zumeist über die Lead-Gitarrenarbeit transportiert, wurde jetzt auf einmal dem Gesang in den Strophen und vor allem in sehr deutlich herausgearbeiteten Refrains der Raum gegeben um von nun an die zentrale Figur im Schaffen von IN FLAMES zu werden, ohne aber die Kernkompetenz komplett über Bord zu kippen. Das führt zu einem der stärksten Eröffnungstriple der harten Musikgeschichte. Ja, kleiner habe ich es nicht im Angebot, aber Songs wie 'Bullet Ride', 'Pinball Map' und 'Only For The Weak' verdienen jeden greifbaren Superlativ. Besser hat diese Musikrichtung vorher und nachher nicht mehr geklungen. Dass der Rest des Albums nur marginal unter diesem Niveau einzuordnen ist, zeigt dann die wahre Klasse dieses Referenzwerks. Mit 'Square Nothing' hatte man plötzlich den Song an der Hand, mit dem man die Legionen an aufkeimenden HIM-Fans erst umgarnen und ab der Hälfte des Tracks dann vollständig in Richtung "ordentlicher" Musik ziehen konnte und eine Ballade wie 'Satellites And Astronauts' wäre bis zu diesem Zeitpunkt völlig undenkbar gewesen. Meine persönlichen Highlights kommen dann tatsächlich erst im letzten Drittel des Langdrehers und hören auf die Namen 'Suburban Me' und 'Swim'. Während Erstgenannter die Band nun auch erstmalig von einer fast unverschämt rockigen Seite zeigt (inklusive Weltklasse-Melodie und fantastischem Gastsolo von Christopher Amott), ist 'Swim' auch heute noch mein Lieblingslied von IN FLAMES und der erste polyphone Klingelton, den ich mir für mein damaliges Nokia im Jamba-Sparabo besorgt hatte. Somit ist "Clayman" für mich die klare Empfehlung, falls irgendjemand bisher noch keine Berührungspunkte mit dieser Band gemacht hat und etwas mit der perfekten Balance aus Eingängigkeit und Härte hören möchte. Eines der besten Alben der 2000er.

[Stefan Rosenthal]

Reroute To Remain (2002)

Neue Wege finden, um weiterhin zu existieren? Na, wenn das nicht mal ein passender Titel für das sechste Studioalbum "Reroute To Remain" ist, das im September 2002 erschien und den schönen Untertitel "Fourteen Songs Of Conscious Insanity" trägt. Hatte sich auf "Clayman" bereits eine Neuorientierung des Fünfers aus Göteborg angedeutet, dann wird dieser Kurswechsel auf dem Nachfolger nun konsequent durchgezogen. Das heißt: Die sägenden Death-Metal-Gitarren müssen sich das Rampenlicht von nun an mit einigen Synthesizern teilen, die Songstrukturen werden kompakter und eingängiger und Anders packt neben seinen Growls und Screams vermehrt auch mal seinen zerbrechlichen Klargesang aus. Und auch wenn das Metalcore-Genre schon lange vorher brodelte, könnte man "Reroute To Remain" dennoch als Geburtsstunde des modernen Metalcores bezeichnen, den heute so viele Bands zelebrieren. Dass die Platte für viele Musiker und Musikerinnen so prägend war und die Schweden plötzlich zu einer Größe im Metal-Mainstream machte, liegt primär am unheimlich zwingenden Songwriting von Jesper Strömblad, Björn Gelotte und Anders Fridén, die sich mal locker zahlreiche Hits aus dem Ärmel schütteln. Überstrahlt wird dabei natürlich alles vom Überhit 'Cloud Connected', der mit seinem stampfenden Rythmus und einer unverschämt einprägsamen Melodie wohl am perfektesten auf den Punkt bringt, was die "neuen" IN FLAMES ausmacht. Dabei ist die Nummer nur das Finale eines Eröffnungsschlags, der mit dem wuchtigen Titeltrack, 'Drifter', dem von wunderbarer Gitarrenarbeit garnierten 'Trigger' und dem heimlichen Hit 'System' gleich fünf absolute Volltreffer zu bieten hat. Gerade die letztgenannte Nummer ist mit dem überraschend ruhigen Pre-Chorus und dem folgenden wuchtigen Refrain mein ganz persönlicher Liebling auf dieser Scheibe. Hinten raus finden sich dann allerdings auch einige Füller und die Höhenflüge der ersten Halbzeit werden nicht mehr erreicht, weswegen "Reroute To Remain" auch nicht zu meinen persönlichen Highlights im IN FLAMES-Katalog gehört, auch wenn ich die Scheibe gerne wegen der angesprochenen Glanzlichter immer wieder einmal auflege. Für die Band und deren weitere Karriere war der Langspieler aber ein ganz entscheidender Schritt, der den Fünfer zum uneingeschränkten Platzhirsch im Melodic-Death-Sektor machte.

[Tobias Dahs]

So viel zum ersten Teil unseres Rückspiegels. In Teil 2 lest ihr dann, wie es nach dem zwischenzeitlichen Karriere-Höhepunkt "Reroute To Remain" weiterging und natürlich auch, wo sich denn nun "Foregone" in der Diskografie der Schweden einsortiert.

Redakteur:
Tobias Dahs

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