Gruppentherapie THULCANDRA - "Hail The Abyss"

31.05.2023 | 22:55

DISSECTION-Klon oder auf eigenem Thron?

Dass zwei Mal Black Metal an der Spitze eines Soundchecks steht, ist zumindest überraschend für unsere werte Crew. Warum IMMORTAL an der Spitze steht, wurde schon ausführlich in der Gruppentherapie zu "War Against All" erörtert. Nun haben wir auch Stimmen zum Silberalbum "Hail The Abyss" von THULCANDRA gesammelt, die das euphorische Hauptreview von Tobias Dahs ergänzen. Natürlich spielt dabei die Nähe zu DISSECTION eine Rolle, doch für viele sind die Münchner mittlerweile auch eine ganz eigene Marke, on par mit IMMORTAL oder gar besser?

Ich liebe die Atmosphäre auf diesem Album! Und die Tatsache, dass es die Mannen aus München schaffen, den 1990er Werken von DISSECTION sehr geschmackvoll Tribut zu zollen ohne als billige Kopie herzuhalten. Nein, THULCANDRA versteht es, sehr viel Eigenständigkeit in den Sound zu integrieren. Obwohl also eine regionale Ferne zwischen der bayrischen Landeshauptstadt und Schweden besteht, könnte der Spirit kaum ähnlicher sein. Nach nur anderthalb Jahren nach "A Dying Wish" hätte ich mit "Hail The Abyss" oder besser: mit dieser Klasse der neuen Scheibe wahrlich nicht gerechnet. Das Artwork ist gewaltig, strahlt eventuell etwas mehr Wärme aus als "Storm Of The Light's Bane" von 1995, hat einerseits gemeinsam mit dem Sound der Scheibe aber einen solch klirrend kalten und frostigen Unterton, andererseits aber so viel Feuer und Leidenschaft inne, dass mir richtig warm ums Herz wird. Für diesen wütenden, intensiven Flächenbrand sind das Titelstück, 'On The Wings Of Cosmic Fire' und 'As I Walk Through The Gateway' absolute Paradestücke: Old School, düster und aggressiv einerseits, andererseits zeitlos, episch, heroisch und auch mal im mittleren Tempo wohlfühlend. Somit ist "Hail The Abyss" ein Album, auf dem sich Gegensätze anziehen, das in sich aber so stark und stimmig daherkommt, dass es nicht verwundert, weshalb es im Soundcheck so weit oben gelandet ist.

Note: 8,5/10
[Marcel Rapp]

Die Sehnsucht nach DISSECTION ist groß. Offenbar riesengroß, denn sonst kann ich mir nicht erklären, dass THULCANDRAs fünftes Album "Hail The Abyss" sowohl von meinen Kollegen unserer Redaktion als auch von Kollegen anderer Magazine so abgefeiert wird, dass es für Top-Platzierungen in verschiedenen Soundchecks reicht. Wenn man bedenkt, wie viele Bands auf dieser Welt schon kritisiert wurden, weil es ihnen an Eigenständigkeit und eigenen Ideen mangele und man zu sehr wie Band XY klänge, ist es für mich nicht nachvollziehbar, wie man dann eine Band so feiern kann, die nie etwas anderes vor hatte, als der Band DISSECTION zu huldigen, sie zu ehren, oder anders ausgedrückt, zu kopieren. Denn nichts anderes macht THULCANDRA. Angefangen bei den Album-Coverartworks auf allen ihren Alben über Songwriting und Produktion ist alles Jon Nödtveidt nachempfunden. Eigenständigkeit, wie sie Marcel und Tobias heraushören wollen, kann ich auf "Hail The Abyss" nirgendwo finden. Der Opener 'Acheronian Cult' beginnt mit einem typischen DISSECTION-Intro und auch 'At Night' ist ein typisches Gitarren-Intro zu 'Blood Of Slaves'. Was THULCANDRA auf "Hail The Abyss" spielt, ist handwerklich natürlich über jeden Zweifel erhaben, schließlich sind hier Profis am Werk. Aber mein Problem mit diesem Album ist, neben der fehlenden Eigenständigkeit, dass ein entscheidendes DISSECTION-Trademark fehlt: die Atmosphäre! Marcel nimmt sie offensichtlich wahr, mir fehlt diese kalte, düstere Grundstimmung eines "Storm Of The Light's Bane" auf "Hail The Abyss" komplett. Das hat THULCANDRA auf vorherigen Alben selber schon deutlich besser hinbekommen. Okay, nicht alles auf diesem Release erinnert an DISSECTION, denn das Drumming und das Tempo in 'The Final Closure' ist dem Song 'The Final Chapter' von HYPOCRISY nachempfunden. Das sorgt zwar für Abwechslung, aber gibt leider keinen Kreativitätsbonus.

Note: 6,5/10
[Mario Dahl]

Ja, Mario, die Sehnsucht nach DISSECTION scheint wahrlich groß zu sein, und am größten deucht sie mir bei den Jungs von THULCANDRA selbst. Deshalb ist es auch genau richtig, dass sie dieser Sehnsucht nachgeben, denn was gibt es denn Edleres für einen Künstler als seiner Sehnsucht zu folgen? Geht es auch mit weniger Pathos, Rüdiger? Ja, schon. Die Kritik kann ich durchaus verstehen, die Mario anbringt, denn normalerweise sind es auch für mich zuvorderst die eigenständigen Bands, die sich durch ihre Widerborstigkeit von allen anderen abgrenzen, die es mir besonders angetan haben. Doch THULCANDRA konnte mich tatsächlich von Anfang an begeistern, obwohl es - reden wir nicht darum herum - mit der Eigenständigkeit nicht so weit her ist. Dass indes immer alle nur von DISSECTION sprechen, und andere stilistisch ähnlich gelagerte Black/Death-Bands aus Schweden außen vor lassen, liegt am Ende mehr an der gewählten Ästhetik mit den blauen Sensenmann-Artworks, als an den Songs an sich, denn hier finden sich, wenn man ehrlich ist, mindestens ebenso viele Referenzen an UNANIMATED, A CANOROUS QUINTETT, NAGLFAR, DECAMERON, SACRAMENTUM oder GATES OF ISHTAR. Was mich indes in diesem Fall trotz der Vorwürfe der Generik gleichwohl zu fesseln vermag, ist, dass es den Münchnern Mal um Mal gelingt, eine Sage weiter zu spinnen, die von längst verblichenen Ahnen des Genres ersonnen wurde, und dass sie eine denkbare Antwort darauf geben, wie es mit DISSECTION hätte weitergehen können, wäre es nicht gekommen, wie es anscheinend kommen musste. Befänden wir uns im Bereich der Literatur, wäre es wohl Fan Fiction, aber es ist halt richtig gute Fan Fiction, denn man merkt den Musikern, der Musik, dem Sound, den Artworks und der Stimmung an, dass vieles von dem verinnerlicht wurde, was den Reiz der Vorbilder aus den Neunzigern ausgemacht hat. So wichtig Originalität in der Musik sein mag, so schön ist es eben bisweilen auch zu sehen, wenn dafür brennende Fans eines Stils die Fahne aufheben und unbeirrt weiter tragen, wenn derjenige fällt, der vor ihnen in der Reihe stand. Daher geht meinerseits der Daumen nach oben, für THULCANDRA und für ihre unverkennbare Verehrung und Hingabe an ein Phänomen, das auch mir die Neunziger unvergessen gemacht hat.

Note: 8,0/10
[Rüdiger Stehle]

Yeah – Jackpot. Ich darf im Rahmen einer Gruppentherapie etwas zu einer neuen Schwarzmetall-Scheibe nach Rüdiger schreiben. Somit kann mein Notizzettel direkt mal in die Tonne, denn unser Black-Metal-Großwesir hat mir mal alle Argumente vorweggenommen, welche belegen, warum THULCANDRA nun mal einfach klasse ist. Ob nun bei dem wunderbaren Vergleich mit der Fan-Fiction (im Endeffekt machen doch Ikonen wie Quentin Tarantino auch nichts anderes) oder dabei, dass sich die Münchener durchaus auch etwas breiter aufstellen und Einflüsse von NAGLFAR (ebenfalls bockstark) zulassen, in vielen Punkten teile ich Rüdigers Einschätzung. Dabei bin ich weiterhin der Meinung, dass andere Bands aus diesem Genre die noch größeren Hits oder stärkeren Einzelsongs im Repertoire haben, aber bei kaum einer Stilrichtung geht es mir so sehr um die Gesamtatmosphäre, und hier ist auch auf "Hail The Abyss" alles in Butter. Und im Gegensatz zu Mario muss ich diese auch gar nicht suchen, sondern werde direkt beim Opener hineingezogen und bin spätestens bei 'At Night' Bestandteil der dunkelblauen, von DISSECTION erschaffenen, Parallelwelt. Ich hoffe, er gibt diesem Album nach dem offiziellen Release noch mal eine Chance, denn die Art, wie wir Veröffentlichungen zur Verfügung gestellt bekommen und rezensieren "müssen" ist gerade beim Thema Atmosphäre oftmals, sagen wir mal so, schwierig. Ich bin mir sicher, dieses Album wird bei mir, nun mit dem richtigen Flow, nochmal zulegen und dürfte eine gewichtige Rolle in den Jahrescharts spielen.

Note: 8,0/10
[Stefan Rosenthal]

Als jemand, der Bands wie NECROPHOBIC, LORD BELIAL und SACRAMENTUM zu seinen absoluten Favoriten zählt, was Black Metal angeht, ist ein weiteres Album der Band THULCANDRA natürlich immer willkommen. Denn hier wird astreiner Black/Death Metal der späten 90er und frühen 00er Jahre in schwedischer Tönung zelebriert. Natürlich ist die erste Parallele, an die man beim Hören denkt, DISSECTION, was gerade auf "Hail The Abyss" aber meiner Meinung nach allzu oft am Artwork gelegen haben mag. Denn für mein Empfinden hat die Band hier und da doch den Schritt weg vom reinen Nödtveidt-Worshipping gewagt und beispielsweise mit 'As I Walk Through The Gateway' einen Song am Start, der dann doch eher an NECROPHOBIC erinnert. Ohne jetzt aber weiterhin auf irgendwelchen Assoziationen, die das Songmaterial hervorruft, zu verharren, besticht die Abgrundshuldigung nicht vorrangig durch einzelne "Hits", sondern eher durch die Gesamtatmosphäre, die durch die melancholisch-emotionalen Zwischenspiele nur noch unwiderstehlicher wirkt und mich bei jedem Durchlauf ziemlich stark mitgerissen hat. Darüber hinaus beweisen die Bayern auch ein Gespür für Abwechslung, indem man beispielsweise neben dem oft melodischen und harmonischen Songgeschehen mit 'On The Wings Of Cosmic Fire' einen garstigen, groovenden Stampfer zum Besten gibt, der sich stimmig in den Fluss des Albums einfügt. Dieser Fluss findet dann zum Schluss in 'The Final Closure', dem längsten Track, seinen Höhepunkt, in dem nochmal alle Stärken der Band in acht Minuten gepackt werden. Mich hat das Ende der Scheibe mit den Songs von 'As I Walk Through The Gateway' bis 'The Final Closure' immer besonders geplättet und damit bleibt nur noch zu sagen: Hut ab, wieder mal ein astreiner Black/Death-Metal-Brocken!

Note: 9,0/10
[Kenneth Thiessen]

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich im Winter 2015 mit THULCANDRAs Album "Ascension Lost" auf den Ohren durch eine frisch verschneite Winterlandschaft gejoggt bin. Das war einer dieser magischen Momente mit Musik. Seitdem habe ich aber THULCANDRA nicht mehr gehört. Doch das, was hier jetzt wieder durch mein Arbeitszimmer schallt, weckt einmal mehr Sehnsüchte. Ja, diese Melodien sind herrlich, die Musik ist erhaben, steckt voller Abwechslung und Details und wird mit steigender Spielzeit immer besser. Ich genieße diese Musik somit deutlich mehr als die heroische Schlachtplatte von IMMORTAL, die mir irgendwann zu redundant wird. Vielleicht sollte ich mich ja irgendwann auch mal mit den Schwarzwurzeln von DISSECTION beschäftigen, die mich bei gelegentlichen Hörproben aber nie so gefangen genommen haben wie der bunte Gemüsemix aus Bayern.

Note: 8,5/10
[Thomas Becker]

Ich persönlich kann die ganze Begeisterung um THULCANDRA hier nicht so ganz nachvollziehen. Zumindest neben wirklich großem Schwarzwurzel-Tennis, wie im selben Monat von IMMORTAL, mutet "Hail The Abyss" doch eher blass an. Meine Vorschreiber haben ja die stilistische Ausrichtung wunderbar beschrieben. Aber wenn das hier eine Fortsetzung der musikalisch grandiosen DISSECTION-Geschichte oder die Wiedergeburt einer Legende wie SACRAMENTUM darstellen soll, dann doch allerhöchstens eine blutarme, alkoholfreie Discounter-Version davon, verdünnt mit recht eindimensionalem Black-Folk-/Pagan-Tandaradei und -Hoppelgaloppel. Abgesehen von den fiesen Vocals vermisse ich das zutiefst Infernalische und Diabolische von DISSECTION ebenso wie die Intensität und Präzision von NECROPHOBIC. Hinzu kommen vielfach (zu oft!) wiederkehrende Muster im Songwriting und eine gewisse Neigung zum Spielzeitschinden. Einzelne Stücke schaffen es dann doch den hohen Ansprüchen und großen Vorbildern zu genügen und zudem auch noch eine eigene Duftmarke zu setzen, exemplarisch nenne ich hier mal 'Blood Of Slaves'. Darum ist mir mein eigener Text schon fast zu negativ, und er ist am besten als kleines Korrektiv zu den vorangehenden Lobeshymnen in dieser Gruppentherapie zu verstehen. Unterm Strich ist "Hail The Abyss" immer noch eine gut hörbare und unterhaltsame Melodic-Black-Metal-Scheibe, sehr wohl geeignet für kleinen dämonischen Hunger zwischendurch.

Note: 7,0/10
[Martin van der Laan]

Fotocredits: Grzegorz Golebiowski / Napalm Records

 

Redakteur:
Thomas Becker

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