GENESIS: 25. Geburtstag von "Calling All Stations"

17.09.2022 | 22:13

Was soll denn das? Das fragt ihr euch sicher, denn warum bloß sollte man den Geburtstag eines Albums feiern, das von vielen als schwächstes der Diskografie des Prog-Titans und späteren Pop-Schwergewichts GENESIS angesehen wird? Nun, weil ich der festen Meinung bin, dass "Calling All Stations", das als einziges Album der Briten mit Ray Wilson am Mikrofon aufgenommen wurde, viel zu oft übersehen wird und einige echte musikalische Perlen zu bieten hat.

Aber fangen wir erst einmal vorne an: 1992 befindet sich GENESIS auf dem Höhepunkt des kommerziellen Erfolgs. "We Can't Dance" hat sich überall in den Charts festgesetzt, das unheimlich komische Video zum quasi-Titeltrack 'I Can't Dance' hat MTV erobert und die Single läuft im Radio rauf und runter. Dazu gibt es eine massive Welttour, die zum vollen Erfolg wird und an deren Ende sich das Trio bestehend aus Mike Rutherford, Tony Banks und Phil Collins erst einmal eine ausgedehnte Pause gönnt. Collins selbst nutzt selbige, um seine Solokarriere wieder aufzunehmen und mit "Both Sides" ein sehr persönliches, intimes und für ihn wichtiges Album aufzunehmen. Mit großen Auswirkungen für seine Hauptband, denn als sich Banks, Rutherford und Collins im Jahr 1993 für einen einmaligen Charity-Gig zusammen finden, fühlt sich der Frontmann so, als würde er auf der Bühne eine Rolle spielen müssen. Die Erfahrung muss so unangenehm gewesen sein, dass Collins im Sommer 1995 Bandmanager Tony Smith eröffnet, dass er die Band verlassen möchte. Die Nachricht, die erst im März 1996 öffentlich gemacht wird, schockt damals die Fangemeinde und beendet den unheimlich erfolgreichen Lauf, der dem Trio seit dem selbstbetitelten Album "Genesis" aus dem Jahr 1983 zahlreiche Charterfolge bescherte.

Nun stehen Rutherford und Banks plötzlich alleine und vor allem ohne die Stimme und das Gesicht der Band da, doch ans Aufgeben denken die Beiden nicht. Wie schon nach den Abgängen von Peter Gabriel nach "The Lamb Lies Down On Broadway" und Steve Hackett nach "Wind & Wuthering" gehen die Beiden stattdessen ins Studio und schreiben Songs, um herauszufinden, ob es eine Zukunft für die Band geben kann, die schon so oft für tot gehalten wurde, nur um am Ende stärker und vor allem erfolgreicher wieder aus der Asche empor zu steigen. Die Kompositionen, die so ab dem Januar 1996 entstehen, stellen die beiden verbliebenen Mitglieder so sehr zufrieden, dass sie mit der Suche nach einem neuen Frontmann beginnen. Der Kreis der Kandidaten besteht dabei schnell nur noch aus dem Engländer David Longdon von der Band BIG BIG TRAIN und dem Schotten Ray Wilson, der zuvor mit seiner Grunge-Combo STILTSKIN für Aufsehen gesorgt hat. Wilson macht schlussendlich das Rennen und stellt mit seiner herben und rauen Stimme eine deutliche Abkehr von Collins Stimmfarbe dar, was sich später noch rächen soll.

Erst einmal geht es aber zurück ins The Farm Studio, das von GENESIS für die eigenen Aufnahmen gebaut wurde, um gemeinsam mit Wilson die bisherigen Song-Fragmente zum Album "Calling All Stations" zu transformieren. Wirklich massiven Input hat Wilson dabei nicht, denn auch textlich und gesanglich geben Rutherford und Banks bei den Aufnahmen den Ton an. Und hier kommt nun mein eingangs erwähnter Satz ins Spiel, denn das was da in Surrey auf Tonband gebannt wird, ist bei weitem nicht so schlecht wie sein Ruf! Trotzdem ist das Presse-Echo zu Veröffentlichung reichlich vernichtend, wobei die Rezensenten wahrscheinlich einfach nicht auf das durchaus sperrige, melancholische und phasenweise sehr rockige Material gefasst waren, das die neue Inkarnation von GENESIS hier präsentiert. Klassische Hit-Singles gibt es nämlich kaum, wobei noch das treibende und von afrikanischen Rhythmen inspirierte 'Congo' als Hit durchgeht und es in späteren Jahren sogar auf ein paar Compilations der Briten schaffen sollte. Abseits davon ist "Calling All Stations" aber immer besonders stark, wenn es ausladender und episch wird. 'The Dividing Line' ist etwa ein wunderschöner Longtrack, der sich irgendwo in der Phase zwischen "A Trick Of The Tail" und "Wind & Wuthering" gut gemacht hätte, während sich 'There Must Be Some Other Way' mit jedem weiteren Durchlauf zu einem echten Geheimtipp mausert. Balladeske Töne gelingen mit Wilsons charismatischer Stimme ebenso gut, wobei das hier oft genannte 'Shipwrecked' nicht mein persönlicher Favorit ist, denn 'Uncertain Weather' im hinteren Teil der Platte ist in meinen Ohren deutlich überzeugender und bietet vor allem Tony Banks den nötigen Platz, um Hörer und Hörerinnen mit seinen Keyboards zu verzaubern. Wer es cool groovend mag, wird ebenfalls fündig, denn 'Small Talk' ist mindestens so cool wie 'That's All' vom Erfolgsalbum "Genesis". 'Not About Us' ist dagegen wieder deutlich ruhiger und mit seinen akustischen Gitarren und einem wunderschönen Refrain ein weiteres Highlight dieser absolut unterschätzten Platte. Für mich bleibt der ungewohnt rockige, herrlich proggige und sperrige Titeltrack aber der absolute Höhepunkt, auch weil Wilson hier eine blitzsaubere und fesselnde Gesangsleistung abliefert. Ganz, ganz großes Kino ist das und einer meiner absoluten Favoriten im GENESIS-Katalog. Ja, abseits davon haben sich auch ein paar Durchhänger eingeschlichen, aber diese gab es auch in den Jahren mit Collins immer wieder, und dass mit 'Anything Now' ein absolutes Highlight als B-Seite versauern musste, hilft der Platte natürlich auch nicht.

Ebenso unhilfreich wie die schlechten Kritiken und die musikalischen Durchhänger ist es auch, dass die Fans der Platte überraschend wenig Interesse entgegen bringen. Erstmalig seit "... And Then There Were Three ..." erreicht ein GENESIS-Album im Heimatland nicht die Nummer 1 der Charts und auch auf dem übrigen Globus sind die Verkaufszahlen für die Verhältnisse der Band mehr als überschaubar. Trotzdem beginnen zeitnah die Proben für die anstehende Tour, auf der sich recht schnell zeigt, dass Wilson zwar die Collins-Songs problemlos singen kann, sie aber weit weniger charismatisch rüber bringt als sein Vorgänger. Für die Fangemeinde, die natürlich die Klassiker hören möchte, ein dicker Minuspunkt, den das Trio auch mit den fantastischen Live-Versionen der neuen Songs nicht aufwiegen kann. So ist die 47 Shows umfassende Europa-Tour nur von mäßigem Erfolg gezeichnet und lange nicht alle Arenen sind ausverkauft. Für GENESIS eigentlich undenkbar, doch noch lange nicht die Talsohle, denn die geplante US-Tour wird zum richtigen Debakel. Erst muss die Tour verkürzt und in kleinere Hallen verlegt werden, bevor auch diese geschrumpfte Variante wegen miserabler Ticketverkäufe schlussendlich komplett gecancelt wird. Für das Experiment mit Wilson bedeutet der Misserfolg gleichzeitig auch den Todesstoß, denn Rutherford und Banks legen die Band mit dem Ende der Europa-Tour prompt auf Eis bis Jahre später Collins zurückkehren sollte.

Für mich stellt sich trotzdem die Frage, was aus diesem Projekt hätte werden können, wenn Rutherford und Banks 1996 den Mut für einen kompletten Neuanfang unter neuem Namen aufgebracht hätten. Musikalisch ist die Scheibe nämlich über weite Strecken absolut großartig, auch wenn sie im GENESIS-Kosmos natürlich gerade auch im Bezug auf die Vorgänger einen absoluten Ausreißer darstellt. Vielleicht konnte ich euch mit diesen Zeilen aber ja Lust darauf machen, dem Silberling anlässlich des 25. Geburtstags noch einmal eine Chance zu geben. Es kann sich durchaus lohnen, zumindest dann, wenn man die Scheibe losgelöst vom übrigen Schaffen der Briten betrachten kann. Und falls ihr die Songs auch einmal auf der Bühne erleben wollt, Ray Wilson packt einige der Songs gerne auf seinen Solo-Touren aus und liefert mit seiner Band durchaus respektable Versionen ab.

Redakteur:
Tobias Dahs

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