ELUVEITIE: Interview mit Chrigel Glanzmann

22.02.2012 | 16:01

Kurz nach der Veröffentlichung des neuesten Albums "Helvetios" von den Schweizern ELUVEITIE schnappen wir uns Chrigel Glanzmann zum Interview. Er erzählt uns über Randale in Indien, abholbereite Jägermeister-Zapfanlagen und warum der Gitarrensound so wichtig ist.

Julian Rohrer:
Das dürfte das mittlerweile dritte oder vierte Interview sein, das ich mit dir mache – deswegen lass mich gleich so beginnen: Noch mit Leidenschaft dabei?


Chrigel Glanzmann:
Wieso nicht? Ich denke, wenn du bei irgendeiner Sache, die du tust, die Leidenschaft dazu verlierst, ist es höchste Zeit, aufzuhören.

Es ist fast auf den Tag genau zwei Jahre her, dass ihr euer letztes Album veröffentlicht habt. Erzähl doch mal, was ist in der Zwischenzeit passiert.

Waren zwei ziemlich arbeitsame Jahre. Einerseits beendeten wir im vergangenen Dezember den Tour-Zyklus zu unserm letzten Album, welcher uns durch unzählige Länder auf drei Kontinenten führte. Zum andern haben wir eine sehr intensive Zeit der Erschaffung von "Helvetios" hinter uns.

Wenn ich mir die neuen Promofotos anschaue und sie mit den Wald- und Wiesen-Fotos der "Spirit"-Phase vergleiche, stelle ich fest, dass ihr euch ganz schön verändert habt. Wie fühlt man sich als Rockstar mit Pilotenbrille und Minirock?

Wald- und Wiesenfotos hatten wir seit jeher und haben wir auch heute noch. Aber eigentlich nicht aus irgendwelchen bescheuerten Image-Gründen oder so, sondern einfach, weil wir Shootings bislang immer dort hatten, wo wir zu Hause sind und wo wir uns wohl fühlen: Draußen, in der Natur und nahe der Alpen. Verändert? Ja, ein bisschen wohl, aber nicht wesentlich. Wir waren ja nie eine Band, die extrem auf "Fasching" macht und sich als irgendwelche Heiden-Krieger der Antike verkleidet. Ist nicht unser Ding. Für ein Promoshooting Keltengewandung zu tragen macht dich nicht keltischer (grinst). Wir leben heute und wir geben uns genau so, wie wir sind. Echt, roh und ehrlich - kein Schnickschnack. Auf Promofotos sind wir genauso in unseren Alltagsklamotten zu sehen wie auf der Bühne. Was die Rockstar-Frage angeht: Keine Ahnung, kann ich dir nicht sagen - da müsstest du schon einen Rockstar fragen. Ich kann dir höchstens erzählen, wie es sich anfühlt, 220 von 365 Nächten in einer Tourbus-Kajüte zu pennen, wo die Decke nur 20 cm über deinem Gesicht hängt.



Ihr seid eine echte Tourband geworden – schon vor Jahren. Nun steht eure erste Headliner-Tour in Europa an. Aufgeregt – was erwartet euch auf Tour?

Warum aufgeregt? Wir freuen uns auf die Tour, das Line-Up ist schon ziemlich cool. Aber stimmt, in Europa wird das ja tatsächlich unsere erste Headliner-Tour - anders als in den USA, wo wir sowas schon seit längerem machen. Na ja, wie gesagt, wir freuen uns auf die Paganfest-Tour. Ich glaube, die Besucher dürfen Konzertabende erwarten, welche sie nicht so schnell wieder vergessen werden.

Was hat sich von "Everything Remains..." hin zu "Helvetios" verändert, was bietet ihr aus eurer Sicht auf dem neuen Album?

Wir haben uns in produktionstechnischer Hinsicht auf jeden Fall weiterentwickelt und klar verbessert. Zum andern ist es unser erstes Konzeptalbum. Und da wir den konzeptionellen Inhalt nicht nur lyrisch, sondern auch mit der Musik ausdrücken wollten, ist es auch ein enorm vielfältiges Album geworden.

Ihr habt im vergangenen Jahr zum ersten Mal euer eigenes Festival gestartet. Erzähl doch bitte ein bisschen darüber, wie es war, so etwas zu organisieren, wie die Leute darauf reagiert haben und was alles so passiert ist.

Die Idee eines "Eluveitie & friends" Festivals hatten wir schon lange. Im vergangenen Jahr hatten wir dann zum ersten Mal die Möglichkeit, sowas wirklich umzusetzen. Ja, es war toll! Das Festival war mit 2200 Besuchern restlos ausverkauft und die Stimmung war großartig - ich glaube, alle Konzertbesucher hatten genau soviel Spaß, wie die auftretenden Bands. Ist etwas, was wir dieses Jahr auf jeden Fall wiederholen werden.

Wie war es, in Indien zu spielen – ich habe etwas von Polizeieskorten gelesen...

Ja, diese Indien-Show! Es war unser erstes Konzert in Indien. Und ich glaube, "brainfuck" ist noch ein viel zu seichtes Wort, um auszudrücken, was wir erlebten. War wirklich ziemlich surreal. Da wir ja noch nie zuvor in Indien spielten, hatten wir keine Ahnung, was uns dort erwarten wird. Gibt es eine Metalszene? Kennt uns dort jemand? Haben wir sogar Fans? Keine Ahnung. Was wir dann antrafen, überstieg jedoch unsere kühnsten Vorstellungen. Erstens mal war das Publikum ziemlich eindrücklich - irgendwas zwischen 20'000 und 25'000 Konzertbesucher, welche offenbar auch größtenteils unsre Songs kannten (praktisch jeder Song wurde lauthals mitgesungen). Daneben gab es das komplette "Star-Programm": Von sechsköpfiger Polizei-Eskorte für jeden von uns (uns war untersagt, ohne diese das Hotel zu verlassen), über Limo-Shuttle vom Hotel zum Backstage (obwohl das nur ca. 300 m waren), über roten Teppich bis hin zu persönlichem Butler vor dem Hotelzimmer. Das Publikum war mit Abstand das frenetischste und ausgelassenste, das wir je hatten. Etwa in der Mitte des Sets (wir beendeten gerade 'Inis Mona'), kamen plötzlich bewaffnete Militärs auf die Bühne gerannt, zerrten uns vor der Bühne und brachten uns in den Backstage, welcher wiederum von bewaffneter Garde umringt war. Natürlich hatten wir alle erst mal ziemlich Schiss - wir hatten ja keine Ahnung, was da vor sich ging. Umgehend wurde uns dann erklärt, dass dies eine Sicherheitsmaßnahme sei. Das Konzert müsse unterbrochen werden, bis man die Lage im Publikum wieder unter Kontrolle habe. Offenbar bestand ein ernsthaftes Sicherheits-Risiko, weil das Publikum zu ausgelassen wurde und die enorme Menschenmasse begann, Barrikaden nieder zu reißen. Nach ca. ner halben Stunde wurden wir dann wieder auf die Bühne gelassen. Du siehst, schon n' ziemlicher Brainfuck. Aber einer der besten und eindrücklichsten, den wir je erlebten (lacht).

Die zahlreichen Auftritte in verschiedensten Kulturen, die Eindrücke, die Erfahrungen – erweitert sich ELUVEITIE von einer helvetisch-keltischen Band hin zu einer World Metal Band (beispielsweise der 'Epilogue' schielt ein bisschen nach Afrika)?

Wieso soll es so eine Entwicklung geben? Ist mir jetzt absolut ein Mysterium. Ne, natürlich keine solche Entwicklung. Und wo 'Epilogue' nach Afrika schielt, ist mir auch ziemlich schleierhaft. Das Stück besteht aus einem traditionellen keltischen Tune und endet mit einem gallischen (also alt-keltischen) Chor.



Erzähl doch bitte etwas über das Konzept von "Helvetios".

Das Album erzählt die Geschichte des gallischen Krieges und dies eben aus gallischer und insbesondere helvetischer Sicht. "Helvetios" geht im Prinzip chronologisch durch die Geschehnisse des gallischen Krieges. Was mir beim Schreiben der Texte jedoch sehr wichtig war, ist das Ganze mit Menschlichkeit und Emotion auszudrücken. Wer sich mit Geschichte auseinandersetzt, ist meist primär mit "harten Fakten" konfrontiert - knappe, sachliche Informationen wie "Krieg XY begann im Jahr XY und endete im Jahr XY". Aber man darf niemals vergessen, dass es immer Individuen waren, die diese Ereignisse durchlebten - Menschen wie du und ich, die die Geschichte schrieben. Diesem Umstand tragen die Lyrics Rechnung. Ebenso wollten wir, wie erwähnt, die Geschichte nicht nur mit den Texten erzählen, sondern auch musikalisch ausdrücken. So gibt es einen geschlossenen Spannungsbogen über das ganze Album. "Helvetios" ist vielleicht ein kleines Bisschen sowas wie ein Soundtrack zum gallischen Krieg.

Der Einsatz von mehr weiblichem Gesang hat der Musik echt gut getan. Ist das möglicherweise der größte Evolutionsschritt ELUVEITIEs in den letzten Jahren? Wie kam es dazu?

Die Beurteilung von "Evolutionsschritten" und dergleichen überlassen wir getrost euch, den Presseleuten (lächelt). Wir selbst machen uns über so'n Kram herzlich wenig Gedanken, ehrlich gesagt. Wir entwickeln uns als Band und als individuelle Musiker stetig, aber sehr organisch, intuitiv und natürlich. Was den Einsatz von Annas Stimme angeht: Wenn ich die Songs für ELUVEITIE schreibe, dann setze ich die Instrumente - und ich zähle hier die menschliche Stimme auch dazu - immer Song-dienlich ein. Es geht immer und ausschließlich darum, was ein Song ausdrücken soll, was für eine Atmosphäre er haben und was für Emotionen er ausstrahlen soll. Insofern war gerade bei 'A Rose For Epona' und 'Alesia' von Anfang an klar - Annas Gesang musste hin.

Was bedeutet Metal für dich im Jahr 2012? BLACK SABBATH haben sich vor über 40 Jahren gegründet – was kann ein Metalkünstler heute überhaupt noch bieten?

Wiederum eine Sache, bzw. eine Frage, die wir getrost der geneigten Fachpresse überlassen. Wir machen uns über solche Dinge nicht wirklich Gedanken. Wir tun einfach, worauf wir Bock haben, ohne groß nach links oder rechts zu schielen oder uns drum zu kümmern, was nun grad angesagt scheint und was nicht. Wir spielen unsere Musik, die wir lieben. Musik bedeutet für uns Leben. Und so lange wir spielen können, ist das Leben gut.

Was hattet ihr euch im Vorfeld für "Helvetios" vorgenommen und was habt ihr erreicht?

Die Geschichte des gallischen Krieges in einem Album umzusetzen und die Geschichte historisch kritisch hinterfragt wiederzugeben, das nahmen wir uns vor. Und das erreichten wir auch. Desweitern hatten wir hohe Anforderungen an den Sound. Wir wollten einen absolut transparenten Sound, wie schon auf "Everything Remains..." - aber einen roheren als auf jenem Album. Gerade in der heutigen Zeit des "Überkomprimierens", wo das meiste völlig überproduziert ist, wollten wir ein wirklich rohes, raues und ehrliches Album schaffen. Insofern mussten bereits die Aufnahmen der einzelnen Instrumente so gut wie irgendwie möglich sein. Noch nie zuvor investierten wir so viel Zeit, Mühe und Aufwand in die Aufnahmen und den Sound. Ein Beispiel: Während den ersten paar Tagen der Guitar Sessions wurde noch kein einziger Ton aufgenommen. Da ging es nur um die Sound-Findung und das Testen umfasste echt alles - von zig verschiedenen Amps, Cabinets und diversen Kombinationen davon, über Mikrophone, Mic-Positionen, über verschiedene Gitarren (und darin verschiedene Baumaterialien derselben), verschiedene Saiten, Pleks, und so weiter und so fort. Wir arbeiteten daran, bis wir genau den Sound hatten, den wir wollten. Und so gingen wir an alle Instrumente. War ein immenser Aufwand und viel Arbeit, aber es lohnte sich. Würdest du das ungemixte Album mit dem Endprodukt, welches du kennst, miteinander vergleichen, so würdest du feststellen, dass beim Mix am Ende gar nicht mehr so viel passierte: Kein künstliches "Aufpumpen" und "Fetter machen", keine zig Effekte, kein Schnickschnack - "Helvetios" wurde ein unheimlich rohes, echtes Album. Und darauf sind wir stolz.

Was schafft es heute noch, dich zu beeinflussen? Musikalisch, spirituell, philosophisch?

Alles mögliche. Über allem die Natur, logisch. Aber auch sonst, alles mögliche, eben. Eine spannende Begegnung, interessante Menschen. Oder all die alten, Guinness-getränkten Käuze Irlands, welche täglich in kleinen, charmant schäbigen Pubs kleiner Vorstädte hocken und Sessions halten (und darin aber spielen wie verdammte Götter).

Wie bleibt man auf Tour up-to-date? In eurer Heimat gibt es wichtige Debatten über Integration und ähnliches – könntet ihr dazu als Menschen, die die meisten Heimatländer der Immigranten besucht haben, da einen Beitrag zu leisten?

Internet sei Dank können wir auch auf Tour up-to-date bleiben. Integration ist in der Tat ein nicht unwichtiges und wohl auch ein nicht ganz unheikles Thema. Ich glaube, je mehr man von andern Kulturen sieht, desto mehr hat man die Chance, den Blickwinkel zu erweitern und tatsächlich zu solchen Themen wertvolle Beiträge leisten; aber ebenso lernt man den Wert von "Kultur" vermehrt schätzen - den Wert fremder Kulturen, wie auch der eigenen.

Wie geht es der Jägermeister-Zapf-Anlage im Proberaum?

Wir haben sie vor Jahren mal ausgewaschen. Sie wäre eigentlich bereit, mal auf eBay vertickt zu werden (lacht). Aber bislang kamen wir nie dazu (oder waren zu faul), dies zu tun. Also, wenn du Bock auf so eine hast - kannst gern in die Schweiz fahren und die Kiste bei uns abholen (na, wenn das mal keine Einladung für die Fans ist... – JR).

Wie sehen eure weiteren Pläne aus? Geht es jetzt wieder in die Akustik?

Im vergangenen Dezember und im Januar hatten wir nun vier Wochen Pause. Mitte Januar starteten wir nun den "Helvetios" Tour-Zyklus - erst in Südamerika und dann via Mexico/Jamaica in die USA (derweil sind wir grad in Nevada, wo wir spielen - in Las Vegas). Die "Helvetios World Tour" wird momentan immer noch geplant. Aber so, wie es momentan ausschaut, werden wir wohl mehr oder minder bis im Frühling 2013 ziemlich konstant auf Tour sein. Langweilig wird uns also nicht.

Redakteur:
Julian Rohrer

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