AS I LAY DYING: Interview mit Tim Lambesis

20.07.2010 | 17:14

Das 2010er-Sommerinterview mit Frontgrenadier Tim Lambesis anlässlich des Releases von "The Powerless Rise". Dank fand man auf beiden Seiten, ist dieses Digitalgespräch doch eines der wenigen, das beantwortet zurückkam.

Markus:
Hi Tim! Nett, Dich via Mail kennenzulernen. Hoffe es ist alles im Lot. Nun… los geht's mit dem rockjournalistischen Roulette… Euer neues Album "The Powerless Rise" ist unglaublich wuchtig und prachtvoll. Meinem Standpunkt zufolge habt ihr dieses Mal euer definitives Meisterwerk vollendet, ein Stück harter Gitarrenmusik, das über jeden Tadel erhaben ist! Es scheint mir, als würdet ihr euch von jedweden Klischees freisprechen. Das ganze Werk klingt total nach einer Neubestimmung, einem Einfall wie moderner Heavy Metal heutzutage wirklich klingen sollte. Wie habt ihr das gemacht?

Tim:
Zunächst einmal vielen, vielen Dank für deine netten Worte! Wir hatten im Grunde genommen keine einzige andere Richtlinie bezüglich dieses Albums, als einfach die besten Songs zu schreiben, die wir zu schreiben imstande sind. Sonderbarerweise gab es es keine spezifische Vision oder Ausrichtung, außer sicher zu gehen, dass wir nicht das selbe Album ein zweites Mal schreiben würden. Während des Prozesses schrieben wir etwa 25 Songs und behielten die favorisierten zwölf, welche jetzt auf der Platte zu finden sind. Die anderen werden später im Verlauf des Jahres veröffentlicht.

Markus:
Wenn ihr an Releases aus der Vergangenheit zurückdenkt, welche hauptsächliche Zutat von "The Powerless Rise" wird dieses Album vom Rest abheben und warum?

Tim:
Jeder von uns ist ziemlich jung verglichen mit den meisten Musikern, die in eine vergleichbare Kerbe reinhauen und einen ähnlichen Erfolg haben wie wir, also denke ich, dass die besten Ideen ganz natürlich nach wie vor uns liegen. Jeder von uns erlangt kontinuierlich mehr Fähigkeiten an seinem Instrument, weshalb wir auch dieses Mal fähig waren, mehr Aspekte in unser Songwriting einzuarbeiten. "The Powerless Rise" hat einen wesentlich stärkeren Sinn für Melodien als andere Alben, wobei meiner Meinung nach auch die Melodien hier wiederum mehr Tiefenschichten haben und in eine etwas dunklere Richtung tendieren.

Markus:
AS I LAY DYING wird gegenwärtig als einer der brutalsten und innovativsten modernen Metal-Bands überhaupt gehandelt. Eure vorherige Platte "An Ocean Between Us" war eine atomare Sintflut musikalischer Kriegsführung und kontrollierter Energie-Explosion. Die Scheiblette wurde extrem gut von Medien und Fans aufgenommen. Denkst du, dass ihr den kommerziellen Erfolg eures Vorgängers mit dem aktuellen Album toppen könnt?

Tim:

Es ist schwierig geworden, kommerziellen Erfolg abzuschätzen, seitdem die Musikindustrie als Ganzes weniger und weniger Alben jedes Jahr zu verkaufen scheint. Ich weiß zumindest, dass unsere jüngste Tour als Support der vorherigen Platte die beste war, die wir je hatten, also denke ich, dass dies einen guten Eindruck von dem vermittelt, wie aufgeregt unsere Fans sind. Es ehrt mich, dass "An Ocean Between Us" so gut ankam. Gleichzeitig empfand ich zur selben Zeit, dass "The Powerless Rise" de facto sogar ein noch viel geileres Album ist. Ein paar Fans mussten sich dem Album über drei oder vier Durchläufe annähern, bis sie zustimmten, aber ich denke, dass wenn die Leute da draußen eine Chance bekommen, sich voll und ganz auf die Songs einzulassen, sie sich in sie verlieben werden.

Markus:
Lass uns als kleinen Seitensprung über das allgemeine Wesen von Musik nachdenken. In diesem Kontext habe ich ein interessantes Zitat von Ludwig van Beethoven, der sagte: "Musik – der eine immaterielle Zugang zu einer höheren Welt des Wissens, welche die Menschheit umschließt, aber welche die Menschheit nicht verstehen kann." Mikael Akerfeldt von OPETH sagte zu mir, dass, wenn Beethoven heute noch leben würde und er sich eine BRITNEY SPEARS-Platte reinziehen würde, hätte er niemals etwas Derartiges von sich gegeben. Was denkst du?

Tim:

Das sehe ich genau so. Moderne Pop-Musik fordert den Zuhörer überhaupt nicht heraus und trägt ihn nicht in tiefere Orte und Bedeutungsebenen. Gleichwohl versuche ich, mich nicht zu sehr darüber aufzuregen, da Musikgeschmack persönliche Präferenz bedeutet. Viele Amerikaner bevorzugen ungesundes und günstiges Fast Food, aber letzten Endes sind sie doch diejenigen, die daran zu Grunde gehen und nicht ich. Ich möchte die Leute natürlich darüber aufklären, wenn draußen etwas Besseres existiert, jedoch sind sich viele Menschen meist über alternative Optionen bewusst und trotzalledem versuchen sie, sie unnachgiebig zu ignorieren.

Markus:
Obgleich wir neue Entwicklungen und Bewegungen – wie etwa dem Deathcore oder dem mehr in Richtung Retro tendierendem Slude-Metal-Sound aus der amerikanischen Metalszene – wahrnehmen können, seid ihr von AS I LAY DYING eurem Sound treu geblieben. Was, denkst du, macht eure Musik so besonders, dass ihr all diese gegenwärtigen Trends überlebt, ohne Zugeständnisse an irgendwen oder irgendjemanden zu machen?

Tim:

Darüber habe ich mir vorher nicht wirklich viele Gedanken gemacht. Menschen haben die Tendenz, das zu schreiben, was ihnen am nächsten liegt oder natürlich aus ihnen herauskommt. Für mich persönlich kommt der AS I LAY DYING-Sound erst zustande, wenn ich anfange, Musik zu schreiben, also denke ich, dass ich noch nicht einmal imstande wäre, den Sound an die gegenwärtigen Trends anzupassen, selbst wenn ich es versuchen würde.

Markus:
Ihr Jungs könnt eine ganze Fülle von eingängigen melodischen Riffs in euren Songs euer Eigen nennen, sodass ihr auch oft mit IN FLAMES verglichen werdet. Obendrein kann man auf eurem neuesten Output auch noch zahlreiche Classic-Rock-Momente ausfindig machen, besonders bei den Gitarrensoli. Das macht ihr ziemlich brillant! Würdest du sagen, dass ihr von populärem melodischem Rock oder dem Göteborg-Sound überhaupt beeinflusst seid?

Tim:
Ich denke, dass beide Strömungen einen Einfluss auf unsere Musik ausüben. Unser Sinn für Melodien hat sich zu einem mehr und mehr differenzierten entwickelt, als es auf unseren ersten Metal-Blade-Veröffentlichungen noch der Fall war. Es gibt auf "The Powerless Rise" definitiv ein paar Songs, die um einiges heavier und thrashier sind, als das, was zum Beispiel eine Band wie IN FLAMES bisher veröffentlicht hat, aber das heißt noch lange nicht, dass sie nicht ebenso ein paar unglaublich schnelle und heftige Parts haben. Ich will damit nur zum Ausdruck bringen, dass der Göteborg-Sound generell einen gewissen Einfluss geltend macht, während der amerikanische Thrash wiederum in anderen Bereichen eine Reihe von Inspirationen hinterlässt. Wir schreiben Songs in beide Richtungen. Darüber hinaus hörst du dann an manchen Stellen eben noch die mehr am Classic Rock orientierten Melodien. Es klingt nach wie vor alles irgendwie komplett nach Metal, aber die Vielfältigkeit ist eben dieses gewisse Etwas, das dazu beiträgt, dass jedes Album sich in eine andere Richtung entwickelt.

 


Markus:
Lass uns nun zum Privaten übergehen. Wie sahen deine Gefühle aus, als du das allererste Mal mit Hard'n'Heavy-Musik in Berührung gekommen bist? Kannst du dich daran erinnern? Empfindest du das Bedürfnis Erinnerungen wieder aufleben zu lassen?

Tim:
Es war eine bestimmte Art von Aufregung, Neugierde und Energie, die mich urplötzlich befiel, als ich das erste Mal als Kind METALLICA im Radio hörte. Damals gab es noch nicht die Möglichkeit, Musik aus dem Internet abzurufen, und ich selbst war noch zu jung, um Musik für mich selbst zu kaufen. Da das Radio ganz selten mal was spielte, was heavy genug war, wartete ich einfach den ganzen Nachmittag darauf, bis sie gelegentlich mal METALLICA, MEGADETH oder was auch immer spielten, was groß genug war, damit man es im Radio spielen konnte. Selbst GUNS N'ROSES waren mehr als gut genug, um meinen Adrenalinfluss am Laufen zu halten.

Markus:
"The Powerless Rise" hat einen sehr spirituellen und weltanschaulichen Touch, etwas einer alternativen Ideologie gleichkommend, verdichtet in schreienden Texten und Aussagen. Kannst du uns die zentralen Ideen hinter der Skizzierung erklären? Wie könnte jemand ganz praktisch den genannten Beispielen folgen?

Tim:
Einer der zentralen Gedanken von "The Powerless Rise" ist, dass wir denjenigen Ideen mehr Aufmerksamkeit zuwenden müssen, die aus der Sicht einer wohlhabenden Gesellschaft als "powerless", als schwach und machtlos gelten. Um ein Beispiel zu geben: Ich bin überzeugt davon, dass Schlichtheit besser ist als ständig und unnachgiebig mehr materiellem Gewinn und Exzess hinterherzujagen. Das ist zum Beispiel eine Idee, die in dem Song 'Upside Down Kingdom' zur Geltung kommt. Des Weiteren behandelt 'Without Conclusion' die Vorstellung, dass wir niemals den Punkt des Erfolgs im Leben anpeilen können, der uns nachhaltig andauernde Erfüllung beschert. Anstelle dessen müssen wir ein Gespür, eine wache Wahrnehmung für Frieden und Glück während der gesamten Reise unseres Lebens hochhalten. Einer der brutalsten straight forward Songs ist 'Condemned', der hauptsächlich darauf hinweist, dass wir die Mehrzahl der hilflosen Menschen in unserer Welt verurteilen, beziehungsweise verdammen, in dem wir einfach ihre verheerenden Umstände ignorieren. Dieser Streitpunkt liegt mir sehr am Herzen, denn ich habe ein zunehmendes Interesse an Waisenbetreuung.

Markus:
Wenn du einen repräsentativen Song vom neuen Album herauspicken müsstest (der natürlich die Mentalität hinter diesem repräsentieren sollte), welcher würde das sein und warum?

Tim:
Ich denke 'Beyond Our Suffering' katapultiert den Hörer sofort und unmittelbar in die richtige Richtung und spiegelt die Mentalität, die durch eine Vielzahl der anderen Songs sich wie ein roter Faden zieht, am besten wieder. Der Song erinnert mich daran, dass meine Probleme trivial erscheinen im Angesicht der wirklichen Probleme in weiten Teilen unserer Welt. Wenn ich meine Energie darin investiere, den Bedürftigen zu helfen, statt selbstsüchtig nur auf mich bedacht zu sein, dann ist meine ganze Haltung auf den Kopf gestellt. Es ist dennoch sehr befreiend und motivierend darüber nachzudenken.

Markus:
Einer der Tracks trägt den Namen 'The Only Constant Is Change'. Das klingt für mich, als ob der Song einer taoistischen oder buddhistischen Weisheit entlehnt wurde. Woher stammt der Titel und worum geht es thematisch in dem Song?

Tim:
Sowohl auf einer sehr persönlichen als auch auf einer weiter gefassten Ebene glaube ich, dass es nur Wachstum oder Verfall gibt. Als Individuen wachsen wir, bilden uns selbst stetig weiter, schreiten voran oder wir werden selbstgefällig, schwächer und rückfallend. In der Natur äfft unsere Welt dies nach. Unsere Gebäude beginnen, zu zerfallen, wenn sie nicht instand gehalten werden, es bedarf nach wie vor einer konstanten Anstrengung, unsere Gemeinden und Gemeinschaften aufrecht zu erhalten. Jene Idee ist nicht einmal zwangsläufig religiös, ganz gleich ob sie nun christlich, taoistisch oder buddhistisch ist. Wie auch immer, all diese Religionen haben wahrscheinlich etwas über dieses Thema zu sagen. Persönlich erinnert mich das einfach an etwas, das mehr aus sich selbst heraus wächst, als dass es in seiner Entwicklung zurückfällt oder gar zerfällt.

Markus:
In einem Interview mit Brian Slagel auf YouTube sprichst du von einer "anderen Form der Stärke", über die "Schlichtheit des Lebens". Kannst du diese Gedanken noch einmal gesondert konkretisieren? Wie können wir das Rad neu erfinden oder wie kann jemand deiner Meinung nach seine Sicht ändern, um eine neue Sichtweise auf die Dinge zu erlangen?

Tim:
Ich erfinde nicht wirklich das Rad neu, geschweige denn, dass ich mit einer neuen Idee daherkomme. Aber ich verweise auf eine Vorstellung von Stärke, die wesentlich näher der demütigen und bescheidenen Stärke ist, welche von Jesus Christus gelebt und zur Schau getrage wurde, im Gegensatz zur eingebildeten und nutzlosen Stärke, die berühmt wurde durch Konsumismus oder nationalen Stolz. Schlicht und einfach zu leben, ist ein Weg, der der Gemeinschaft die Möglichkeit eröffnet, sich selbst zu helfen, mehr als dem Militär beizutreten oder einen Wettkampf zu starten, um herauszufinden wer den meisten Klunker trägt.

Markus:
Letzte Frage: Welche Zukunftspläne gibt es mit AS I LAY DYING?

Tim:
Unsere Zukunftspläne decken sich so ziemlich mit denen, die in Verbindung mit den vorherigen Alben standen, soweit es das Touring betrifft. Jedes Mal, wenn eine neue Platte das Licht der Ladentheken und Online-Stores erblickt, sind wir darum bemüht, jede Großstadt zumindest einmal "abzuspielen". Das wird uns für eine ganze Weile beschäftigen und danach werden wir wieder mehr Musik scheiben. So einfach ist das.

Markus:
Okay, nunmehr habe ich genug von deiner Zeit in Anspruch genommen. Ich hoffe, du hattest dein Vergnügen mit diesem Interview. Danke für die Beantwortung all meiner Fragen. Und natürlich alles Gute für eure demnächst anstehende Tour. Bitte vergesst nicht, mal in Deutschland vorbeizuschauen (ganz besonders den Alten Schlachthof in Lingen dürft ihr nicht vergessen!). Wir sind alle begierig, euch wieder live zu sehen.

Tim:
Wir lieben es, in Deutschland aufzutreten, und sehen freudig der Zukunft entgegen, euch ebenfalls alle wieder zu sehen! Deutschland ist das Zuhause einiger unserer größten Die-Hard-Fans. Obendrein möchte ich mich bei dir bedanken für all die wohldurchdachten Fragen, die du gestellt hast. Ich habe dieses Interview im Gegensatz zu den meisten anderen wirklich genossen, denn es scheint mir, dass du dir wirklich richtig Zeit genommen hast, tiefer in unsere Band und unsere Songs zu schauen. Ich danke dir vielmals!

Redakteur:
Markus Sievers

Login

Neu registrieren