Session 9
- Regie:
- Anderson, Brad
- Jahr:
- 2001
- Genre:
- Horror
- Land:
- USA
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17.06.2006 | 20:05Fünf Handwerker übernehmen einen schwierigen Job: Gordon Fleming und seine Kollegen sollen in einem seit Jahren leer stehenden Sanatorium für Geisteskranke Asbest und andere giftige Bausubstanzen entsorgen. Die Anlage ist gigantisch, ein gotisches Gruselschloss aus dem 19. Jahrhundert, die Mauern getränkt mit den Leiden der unzähligen Menschen, die hier mit den jeweiligen Methoden ihrer Zeit "behandelt" wurden, was allzu oft zweifelhafte Methoden wie Lobotomie oder Zwangsjacke bedeutete.
Die Männer sind nervös; ihre Arbeit ist gefährlich, die Zeit knapp. Um den Auftrag zu bekommen, musste man die Konkurrenz unterbieten. Jetzt schuftet man gegen die Uhr. Als zweifelhafte "Verstärkung" hat Gordon seinen tumben Neffen angeheuert. Streit flackert auf und eskaliert; ausgerechnet Gordon, sonst ein Fels in der Brandung, zeigt Anzeichen von starkem Stress.
Das Gebäude selbst sorgt für eine Verschärfung der Unruhe. Überall schimmelt und tropft es, ständig fällt der Strom aus und isoliert die Männer in dunklen Gewölben und Kammern. Außerdem hat es den Anschein, dass sie nicht allein sind. Einbrecher und Vandalen könnten es sein, die durch die Gänge schleichen, doch wieso sieht Gordon ausgerechnet seinen Stellvertreter Phil mit zwei Jungstrolchen sprechen, was er später ebenso energisch wie erfolglos abstreitet?
Der besonnene Mike findet in einem Kellerraum alte Patientenunterlagen. Ihn faszinieren vor allem neun Tonbandrollen, auf denen ein Arzt im Gespräch mit Mary Hobbes zu hören ist. Sie hat in den 1970er Jahren ihre Familie ausgelöscht, will oder kann sich jedoch nicht an die Tat erinnern: Mary leidet unter einer mehrfach gespaltenen Persönlichkeit, die der Arzt im Rahmen der Therapie zusammenfügen möchte. Mike verfolgt gebannt, wie sich die mörderische Seite in Mary dem widersetzt. Das Ende der Geschichte erwartet er auf der letzten Rolle, welche die neunte Sitzung aufzeichnet. Er wird sie jedoch nicht mehr hören, was schade ist, denn es hätte ihm den entscheidenden Hinweis darauf geben können, welches mörderische Drama sich inzwischen in den oberen Etagen des Asyls anbahnt ...
Mit kleinem Aufwand großen Erfolg erzielen: Dies ist vor allem in Hollywood ein nicht gerade häufiges Konzept. Dabei zeigen schmal budgetierte Filme wie "Session 9" sehr schön, wie auch im phantastischen Genre klug nach gezieltem Nachdenken eingesetzte Drehorte und Effekte für den schlaffen Geldbeutel das Publikum in ihren Bann ziehen können.
"Session 9" gehört in die Sparte der Mystery-Filme. Seltsames geht vor auf der Leinwand, doch man sieht es nur an den Bildrändern umher huschen und muss sich ständig fragen, ob man sich das Gesehene etwa nur eingebildet hat: Das Grauen kommt nicht Geifer & Blut spritzend aus dem Off gesprungen, sondern bleibt in der Regel dort, wo es womöglich die ganze Zeit gesessen hat: im Kopf, wobei dieser ebenso einem Schauspieler wie einem Zuschauer gehören kann. "Session 9" gehört zu den Filmen, die man sich eigentlich zweimal anschauen muss. Erst dann erschließen sich die zahlreichen, gut in die Handlung integrierten und daher täuschend unauffälligen Hinweise auf das, was sich hinter den Kulissen abspielt.
Das Drehbuch lässt uns die notwendige Ruhe. "Session 9" ist ein Film von heutzutage ungewöhnlicher Langsamkeit. Viel Zeit wird darin investiert, uns den Schauplatz vorzustellen. Der hat es allerdings in sich und verdient solchen Aufwand: Das alte "Danvers State Asylum" ist ein ebenso staunenswertes wie bedrückendes Gebirge aus bröckelndem Stein. Bald wird uns klar: Diese Geschichte kann nur an diesem Ort spielen, der zum weiteren Darsteller wird - ein Moloch mit Geschichte und Eigenleben, der Gordon und seine Leute buchstäblich verschlingt. Die Kamera weiß dies nachdrücklich zu unterstreichen. Obwohl nur wenige Szenen in der Nacht spielen, wirkt das alte Asyl sogar am Tage unheimlich. Das Sonnenlicht betont die Dunkelheit im labyrinthischen Gewirr der unzähligen Räume.
Ohne zu viel von der Auflösung zu verraten, sei doch angemerkt, dass der Trick der beiden Drehbuchautoren darin besteht, ihr Publikum vor allem in einem Punkt zu täuschen: Nicht das "Danvers State" ist das Problem, sondern höchstens Katalysator; der eigentliche Zündstoff wird von außen importiert. Dies ist freilich auch der Punkt, an dem die Rechnung nicht mehr aufgehen will: "Session 9" ist ein wunderbar entwickeltes Geheimnis, dessen Finale nicht wirklich funktioniert. Man sucht die einfache Lösung: Ist es Mary Hobbes, die im "Danvers State" umgeht? Genau aus diesem Grund entfernte Regisseur Anderson eine Nebenhandlung, die sich um eine im Hospital versteckte Obdachlose drehte, welche in Vertretung des Zuschauers die Ereignisse in den Gängen und Tunneln beobachtete.
Die Erklärung dafür, wer oder was "Simon" ist oder was er darstellt, ist eigentlich gelungen. Schade, dass die Drehbuchautoren Anderson und Grevedon ihrer eigenen Idee nicht trauten und das Filmende als Orgie der Gewalt inszenieren, für die es außer nacktem, sinnfreiem Wahnsinn keine wirklich überzeugende Erklärung gibt als das Bedürfnis, schließlich doch mit ein wenig Horror-Action zu dienen.
Exkurs: Ein realer Ort des Schreckens
"Session 9" ist wie gesagt ein möglichst kostengünstig gedrehter Film. Dass man ihm dies niemals ansieht, verdankt er primär seiner großartigen Kulisse, die nicht etwa eigens errichtet, sondern so vorgefunden wurde. In den Jahren 1874 bis 1878 wurde das "Danvers State Insane Asylum" weit außerhalb der Stadt Boston gegründet. Der Architekt Nathaniel J. Bradlee gestaltete es zeittypisch als irrwitzige Mischung aus historisierender Gotik und viktorianischem Zuckerbäckerstil. Die gigantische Anlage, die im Laufe der Jahrzehnte 17 separate Komplexe umfasste, gehörte zu den modernsten Sanatorien seiner Epoche. Es sollte sich ausdrücklich von den lange üblichen "Irrenanstalten" unterscheiden, in denen die Insassen gefangen gehalten, aber nicht wirklich behandelt wurden. Diesem hehren Anspruch konnte das "Danvers State" nur wenige Jahre gerecht werden. Anfang des 20. Jahrhunderts kam es allmählich zur Massenverwahrungsstation für geistig Kranke herunter. Eine der grausamsten "Heilungsmethoden" überhaupt wurde hier entwickelt: die Lobotomie, bei der dem Patienten eine Art Eispickel ins Gehirn geschoben und ein Stirnlappen gekappt wurde. Das Ergebnis: ein lammfrommer Zombie, der vor allem eines nicht mehr war - ein kostenintensiver Insasse.
Seit den 1960er Jahren wurde die Kritik an den Verhältnissen im "Danvers State" immer lauter. Gleichzeitig wuchsen der Verwaltung die Unterhaltskosten für die unzähligen, langsam verfallenden Gebäude über den Kopf. 1992 wurde das "Danvers State" geschlossen. Seitdem stand es leer und beflügelte u. a. die Fantasie von Drehbuchautor Steven Grevedon. 2001 wurde "Session 9" in dem verwunschenen Asyl gedreht; der Film ist auch eine letzte Dokumentation des "Danvers State": Seit 2006 werden die meisten leer stehenden Gebäude abgerissen; immerhin bleiben die ältesten Zentralgebäude erhalten. (Zum "Danvers State" gibt es eine vorzügliche Website mit einer Chronik des Hauses und vielen bemerkenswerten Bildern aus den späten Jahren:
http://www.danversstateinsaneasylum.com.)
"Session 9" wird von seiner Kulisse und seiner Schauspielerriege getragen. Spezial- und Make-up-Effekte kommen zwar vor, fallen aber dezent aus und unterstreichen das Geschehen nur, ohne jemals zu seinem Element zu werden. Gleichzeitig verträgt die Geschichte keine Solo-Auftritte - die Männer um Gordon Fleming sind aus Gründen, die hier wiederum nur vorsichtig angesprochen werden, um potenziellen Zuschauern die Filmspaß nicht zu verderben, mehr als eine Arbeitsgruppe, ein Team: Sie personalisieren verschiedene Persönlichkeiten einer gestörten Psyche.
Regisseur Anderson verzichtet auf Stars, sondern greift auf erfahrene Schauspieler aus der "zweiten Reihe" sowie Newcomer zurück. David Caruso genießt wohl den größten Prominentenbonus, deshalb führt er die Darstellerliste an, obwohl Peter Mullan die Hauptrolle spielt. Caruso spielte den Phil in einer eher ruhigen Phase seiner Karriere, der er kurz darauf als Horatio Kane in der Erfolgsserie "CSI Miami" einen neuen Schub geben konnte. In "Session 9" enthält er sich der Manierismen, für die er bekannt bzw. berüchtigt ist, und fügt sich überzeugend in seine Rolle ein. (Einen kurzen Gastauftritt liefert "Kollege" Paul Guilfoyle ab, der sonst im TV-Dauerbrenner "CSI Las Vegas" den Bill Brass mimt; man hat ihm und Caruso sogar die bekannten deutschen Synchronstimmen spendiert - ein Beleg für den lobenswerten Aufwand, der auch im Detail für diese DVD getrieben wurde.)
Dass mit Gordon etwas nicht stimmt, wird im Laufe der Geschichte immer deutlicher. Was es ist, bleibt bis zum Schluss verborgen. Das ist ein Verdienst von Drehbuch und Regie, aber auch ein Lob, das Peter Mullan für sich beanspruchen darf. Man kennt vielleicht sein Gesicht, doch er gehört zu den Schauspielern, deren Film- und Fernsehauftritte man nicht auflisten kann. Als heimliches Zentrum der Handlung ist genau dies wichtig, und Mullan leistet Außergewöhnliches in seiner trügerischen Unscheinbarkeit.
Auch das übrige Ensemble kann sich sehen lassen. Co-Autor Stephen Gevedon persönlich spielt den allzu ahnungslosen Mike, Josh Lucas den herrlich widerlichen und doch sympathischen Hank, Brendan Sexton III den tölpelhaften Pechvogel Jeff. Ihr Spiel komplettiert das Vergnügen an einem wohl nicht völlig gelungenen, doch spannenden und etwas anderen Grusel-/Psycho-Thriller.
Beinahe hätten wir "Session 9" in Deutschland übrigens gar nicht oder höchstens im Nachtprogramm des Privatfernsehens kennen gelernt. Fünf lange Jahre fand der bereits 2001 entstandene Film hierzulande keinen Verleih. Dann kam Regisseur Brad Anderson durch sein Meisterwerk "The Machinist" (dt. "Der Maschinist") zu Kritikerruhm, und obwohl dieser Film ebenfalls schwerlich als breitenwirksame Unterhaltung zu klassifizieren ist, konnte er auch respektable Zuschauerzahlen verzeichnen - Anlass genug zu überprüfen, was denn dieser Regisseur vorher bereits gedreht hat.
Daten
Originaltitel: Session 9
USA 2001
Regie: Brad Anderson
Drehbuch: Brad Anderson, Steven Grevedon
Kamera: Uta Briesewitz
Schnitt: Brad Anderson
Musik: Climax Golden Twins
Darsteller: David Caruso (Phil), Stephen Gevedon (Mike), Josh Lucas (Hank), Peter Mullan (Gordon Fleming), Brendan Sexton III (Jeff), Paul Guilfoyle (Bill Griggs), Charley Broderick (Sicherheitsmann), Lonnie Farmer (Stimme des Doktors), Larry Fessenden (Craig McManus), Jurian Hughes (Stimme von Mary Hobbes), Sheila Stasack (Stimme von Wendy)
Anbieter: Capelight Pictures/Alive AG
Erscheinungsdatum: 8. November 2005 (Verleih-DVD) bzw. 3. Februar 2006 (Kauf-DVD)
Bildformat: 16:9 (2.35:1) anamorph
Audio: DTS 6.1 (deutsch), Dolby Digital 5.1 EX (deutsch), Dolby Digital 2.0 Stereo (deutsch u. englisch)
Untertitel: Deutsch
DVD-Typ: 1 x DVD-9 (Regionalcode: 2)
Länge ca. 96 min.
FSK: 16
DVD-Features
Erneut muss ich in Sachen Bild- und Tonqualität auf fachkundigere Kommentatoren verweisen, die sich im Internet einfach finden lassen. Mein laienhaftes Urteil beschränkt sich auf die Feststellung, dass ich als Zuschauer auf dem Bildschirm alles Relevante erkennen konnte (auch wenn das Bild bei Bewegung und Dunkelheit manchmal verschwimmt, was freilich auch künstlerisch gewollt sein mag ...) und anständig beschallt wurde.
Was die eigentlichen Features betrifft, so gehe ich nicht auf die obligatorischen Trailer von anderen Filmen oder das animierte DVD-Menü oder die Kapitel-/Szenenanwahl ein; so etwas ist lästig bzw. Standard. Für den Filmfreund, der einen Blick hinter die Kulissen werfen möchte, ist sicherlich der Audiokommentar von Brad Anderson und Stephen Grevedon wertvoll, den ich mir allerdings erspart habe.
Interessant sind neuneinhalb Minuten entfallene Szenen sowie ein aus ihnen resultierendes alternatives Ende. Weiter oben wurde bereits auf den gestrichenen Handlungsstrang um eine im "Danvers State" hausende Obdachlose hingewiesen. Dieser hätte dem Geschehen eine deutlich andere Ausrichtung gegeben. Mit Schmerzen hat sich der Regisseur von den bereits gedrehten Szenen getrennt. Wie der Vergleich belegt, hat er jedoch die richtige Entscheidung getroffen.
Erwähnt werden sollten noch Storyboards fünf zentraler Szenen, die per Splitscreen den danach entstandenen Filmsequenzen gegenübergestellt werden. Hochinteressant ist weiterhin die Featurette "The Haunted Palace", die sich mit dem "Danvers State" als Schauplatz beschäftigt. Es entstand keines der üblichen "Hinter den Kulissen"-Filmchen, das die Crew am Drehort als große, glückliche Familie präsentiert, sondern eine Art Fortsetzung des Hauptfilms: Die Darsteller erzählen/erfinden mysteriöse Anwandlungen und Erscheinungen, die sie während der Dreharbeiten im "Danvers State" überkamen. Gleichzeitig werden weitere bizarre Innenräume dieses fremdartigen Orts gezeigt, die zum Teil künstlerisch verfremdet wurden: ein hübsches, knapp viertelstündiges "Abfallprodukt", das seinen Weg auf diese DVD gefunden hat.
- Redakteur:
- Michael Drewniok