Vom Westen unberührt
- Regie:
- Raymond Depardon
- Jahr:
- 2002
- Genre:
- Drama
- Land:
- Frankreich
- Originaltitel:
- Un homme sans l'Occident
1 Review(s)
23.10.2003 | 18:14Anfang des letzten Jahrhunderts traf der in der Sahara-Gegend stationierte französische Kolonialoffizier Diego Brosset in einer kämpferischen Auseinandersetzung auf den eingeborenen Jäger Alifa. Diese Begegnung mit jemandem, der vorher noch nie in Berührung mit der westlichen Kultur gekommen war, beeindruckte ihn so nachhaltig, dass er diese in seinem 1922 erschienenen Roman "Sahara, un homme sans l'occident" verarbeitete und dabei die Sichtweise Alifas einnahm. Im letzten Jahr dann nahm sich der Fotograf und Filmemacher Raymond Depardon dem literarischen Stoff an und veröffentlichte sowohl den daran angelehnten Film "Vom Westen unberührt" als auch einen Bildband zu der Thematik.
Wie durch ein Wunder überlebt der Junge Alifa (im Erwachsenenalter dargestellt von dem tatsächlichen Wüstenbewohner Ali Hamit) einen Marsch durch die Wüste, bei dem sein Vater und Onkel ums Leben kommen, und wird schließlich von einigen Jägern gerettet, die ihn in ihren Stamm aufnehmen. Dort wächst er nun selbst zum Jäger heran. Bei einem seiner Jagdausflüge rettet er zwei verirrte Männer. Es stellt sich schließlich heraus, dass einer der beiden der Sohn des Oberhauptes eines Nomadenstammes ist. Dieser ist so erfreut über die Rettung seines Sohnes, dass er Alifa zum Gemahl seiner Tochter macht und einen kleinen Trupp unter Alifas Kommando stellt. Zum ersten Mal in seinem Leben erhält Alifa so die Verantwortung über andere, mausert sich aber schnell zu einem guten Anführer und ist bald in der Gegend als einer der besten Wüstenführer bekannt. Immer mehr trauert er jedoch seiner Unabhängigkeit und Freiheit hinterher. Als er schließlich davon erfährt, dass sich französische Kolonialtruppen aus dem Norden auf seine Heimat zubewegen, beschließt er wegen einer unbegründbaren Furcht vor diesen, mit seiner Truppe allen Gefahren zum Trotz tiefer in die Wüste zu fliehen.
Nach dem einleitenden Kommentar, bei dem schon explizit auf die dem Film zugrundeliegende Literaturvorlage und deren Authentizität hingewiesen wird, wird der Zuschauer auch gleich von den ersten Bildern des Films beeindruckt. Gezeigt wird eine Aufnahme der Wüste, die wie der Rest des Films auch in schwarzweiß gehalten ist, weswegen der Wüstensand im Horizont fast nahtlos in den Himmel übergeht. Ein Gefühl von Unendlichkeit macht sich breit, wenn man diese exzellent fotografierten Aufnahmen sieht, die zeigen, dass Raymond Depardon, der Mann hinter der Kamera, seine Karriere als Fotograf begann und dieser Tätigkeit immer noch nachgeht.
Von einer derartig weitreichenden Szenerie in den Bann gezogen, kommt einem gleich der Begriff der Freiheit in den Sinn, und damit auch auf Anhieb eines der Grundmotive des Films. Doch diese Freiheit hat auch ihre Schattenseiten, wie uns das Schicksal der im Horizont erst langsam als schwarze Flecken auftauchenden Reisenden zeigt. Diese stellen sich bald als Alifa im Säuglingsalter und dessen Vater und Onkel heraus, die in den folgenden ruhigen und unkommentierten Szenen verzweifelt versuchen, ihrem Kamel noch einige Tropfen Wasser abzutrotzen, um wenigstens das Überleben des Kindes zu sichern.
Dabei wird beim Zuschauer derartige Neugierde geweckt, dass er gar nicht anders kann als das Geschehnis auf der Leinwand gebannt zu verfolgen, um zu erfahren, was die Protagonisten dort machen. Und dass dies alles ohne überflüssige Worte geschieht und trotzdem zu einem interessanten Aha-Erlebnis beim Beobachter im Kinosaal führt, macht erst den Reiz dieser Szene aus.
Dadurch dass die wenigen Dialoge im Original, also in der Sprache der Sahara-Stämme beziehungsweise Französisch bei den Kolonialisten, belassen wurden und der Film durch einen durchgängigen Kommentar begleitet wird, der kein Wort zuviel verliert und lieber mal die Bilder für sich sprechen lässt, haftet dem Film schon etwas Dokumentarisches an. Dies wird noch durch Szenen verstärkt, in denen man Zeuge einer Jagd oder Wasserbeschaffungs-Maßnahmen wird und die dann Erinnerungen an ethnografische Dokumentarfilme wie den Flaherty-Klassiker "Nanook of the North" von 1922 wachrufen.
Wie bei "Nanook of the North" auch konzentriert sich Depardon auf eine herausragende Persönlichkeit der Region, um dem Zuschauer das Alltagsleben und die Kultur näher zu bringen, welche dort noch kurz vor der westlichen Einflussnahme vorherrschte. Diese westliche Einflussnahme ist es aber, die zu der Zeit eine abstrakte Gefahr für die Eingeborenen der Gegend darstellt.
Nachdem Alifa nämlich in seiner Zeit als Jäger eine fast grenzenlose Freiheit genießen kann, muss er schon als Wüstenführer Abstriche machen. Nun trägt er Verantwortung für seine Untertanen, ist aber auch selbst von deren Loyalität abhängig. Mit Wehmut denkt er aber zu diesem Zeitpunkt schon an seine verlorene Freiheit zurück, die er durch das Anrücken der französischen Kolonialherren unbewusst noch mehr in Gefahr sieht. Nur so lässt sich sein Entschluss begreifen, sich weiter in die gefahrvolle Wüste zurück zu ziehen. Er hat die Wahl zwischen Sicherheit und Freiheit und entscheidet sich für letzteres.
Erstaunlich an "Vom Westen unberührt" ist vor allem der Mut des Regisseurs, in einer Kinolandschaft, in der dem Zuschauer in jedem Hollywood-Film jede Szene mindestens fünfmal erklärt wird, bis auch der letzte kapiert hat, worum es geht, die Geschichte fast ausschließlich durch die wunderbaren Bilder zu erzählen, während der Kommentator nur das Allernötigste erzählt. Man fühlt sich fast in die Stummfilmzeit zurückversetzt, in der man noch gezwungen war, eine Geschichte in aussagekräftige Bilderwelten zu packen.
Dies verlangt vom Zuschauer allerdings auch ab, dass dieser sich Zeit nimmt und sich auf den Film einlässt. Vor allem im letzten Drittel des Films wird es nämlich schwer, nicht den roten Faden zu verlieren. Da verlässt den Regisseur nämlich offensichtlich kurzzeitig sein Können, für aussagekräftige Bilder und eine nachvollziehbare Dramaturgie zu sorgen. Während der Zuschauer versucht, die mit den gleichen, alles verhüllenden Umhängen bekleideten Personen zu unterscheiden, wechseln die Gegebenheiten in diesem Teil des Films viel zu schnell, um dem noch richtig folgen zu können. An diesen Stellen wäre der ein oder andere erklärende Satz mehr sicherlich hilfreich gewesen.
"Vom Westen unberührt" ist ein faszinierender, hervorragend fotografierter Film, der das Kunststück vollbringt, über weite Strecken die Geschichte nur durch Bilder voranzutreiben. Dass diese Kunst gegen Ende jedoch etwas zum Erliegen kommt, trübt das Gesamtbild etwas. Für anspruchsvolle und geübte Kinogänger, die bereit sind, einfach mal in eine herrliche Bilderwelt und in eine für ihn fremde Kultur abzutauchen, ist er aber dennoch bestens geeignet.
- Redakteur:
- Andreas Fecher