China Blue bei Tag und Nacht
- Regie:
- Ken Russell
- Jahr:
- 1984
- Genre:
- Drama
- Land:
- USA
- Originaltitel:
- Crimes of Passion
1 Review(s)
20.08.2003 | 17:18Regisseur Ken Russell war schon immer gut für den ein oder anderen Skandalfilm. 1984 schockte er sein Publikum mit dem Film „China Blue“, der – durchsetzt mit exzessiver Vulgärsprache, gewagten Sexszenen und einer offenen Thematisierung des Tabuthemas Sexualität – bei der amerikanischen MPAA (vergleichbar mit der deutschen FSK) einiges an Federn lassen musste, um noch eine für die kommerzielle Auswertung wichtige Jugendfreigabe zu erhalten.
Nach elf Jahren Ehe ist das Sexualleben von Bobby (John Laughlin) und Amy Grady (Annie Potts) der Tristesse des Alltags zum Opfer gefallen. Um wenigstens finanziell besser dazustehen, nimmt Bobby einen zusätzlichen Job an, in dem er die Modedesignerin Joanna Crane (Kathleen Turner) beschatten soll, die im Verdacht steht, Stoffmuster an die Konkurrenz zu verhökern. Der Verdacht bestätigt sich nicht, doch Bobby findet heraus, dass Joanna des Nachts unter dem Decknamen China Blue auf den Strich geht. Nach und nach unterliegt er ihrem rätselhaften Charme. Doch auch der selbsternannte Reverend Shayne (Anthony Perkins) hat ein Auge auf China Blue geworfen. In seinem psychopathischen Wahnsinn beschließt er, ihre Seele zu retten, was zwangsläufig mit ihrem Tod einhergehen würde.
Schon die Eröffnungssequenz macht klar, worum es Russell geht: In einer Gruppentherapie werden sexuelle Probleme erläutert, wobei man kein Blatt vor den Mund nimmt und sich auch zu derben Sprüchen hinreißen lässt. Bobby, der einen Freund zu der Therapie begleitet, hält sich bedeckt, um ja keine seiner Probleme thematisieren zu müssen, wird schließlich aber doch von den Kommentaren der anderen Therapieteilnehmer aus der Reserve gelockt.
Neben den beiden Extremen der Sexualität, die durch die erzwungene Keuschheit und Selbstgeißelung sowie die damit einhergehenden Gewaltphantasien des Reverends und auf der anderen Seite durch China Blues unbedingtes Ausleben jeglicher sexueller Phantasien verkörpert werden, interessiert Russell vor allem die Thematisierung der gemäßigteren, „normalen“ Sexualität. Diese wird in Form des Sexuallebens in der Ehe von Bobby und Amy dargestellt, die schon aufgrund der Unehrlichkeit dem jeweils anderen gegenüber sowie dem Unwillen bzw. der Unfähigkeit, sexuelle Themen zu besprechen, zum Scheitern verurteilt ist. Erst Bobbys Ausflug in die bunte Phantasiewelt von China Blue zeigt diesem neue Wege auf, dem Alltagstrott in seiner Ehe entgegen zu treten.
Besonders beeindruckend ist dann auch die Szene, in der in einer langen Einstellung ein Gespräch zwischen dem Ehepaar gezeigt wird, als diese im Bett liegen. Initiiert durch Bobby, um einmal über das offensichtlich vorher nie ernsthaft angesprochene Thema Sexualität zu reden, wird schnell klar, dass Amy unfähig ist, mit diesem Thema umzugehen und ihre eigene Sichtweise zu erörtern. Das Gespräch führt schließlich zum wohl unvermeidbaren, aber auch nötigen Bruch zwischen beiden. Diese vergleichsweise ruhige Szene macht auch deutlich, worum es Russell letztendlich geht: nämlich zu zeigen, dass das A und O eines harmonischen und erfüllten Sexuallebens Aufrichtigkeit und Offenheit zwischen den Partnern ist.
Zu befürchten ist allerdings, dass diese Aussage in der überwiegend grellen, abgedrehten Inszenierung, die kontrastreich zwischen harten und zarten, lauten und leisen Szenen wechselt, untergeht. Oftmals gewinnt man als Zuschauer auch den Eindruck, dass Russell allzu sehr versuchte, den Film auf skandalös zu trimmen.
Dafür entschädigt dann aber die wirklich gelungene Machart. Die Szenen mit China Blue bestechen durch ihre bunte Farbgebung - wobei aufgrund der Szenerie Rot-Töne überwiegen - und einfallsreich zweideutige und pointierte Dialoge, die glücklicherweise durch eine gekonnte Synchronisation auch in der deutschen Fassung erhalten bleiben. Außerdem platzierte Russell in Zwischenschnitten symbolträchtige Gemälde und Zeichnungen von Künstlern wie René Magritte und Aubrey Beardsley.
Szenen, in denen der Reverend zu sehen ist, erhalten im Gegensatz dazu einen eher düsteren Touch, in dem Kälte und manchmal auch Brutalität vermittelt wird. Die Szenen mit Bobby und Amy, aber auch die mit Joanna Crane in ihrer Wohnung, sind dagegen erfrischend normal und ohne übertriebene Stilisierung. So ist der Film manchmal witzig und frivol, manchmal kalt und leer, meist aber auch herrlich abgedreht.
Abgedreht ist auch der anfangs sehr gewöhnungsbedürftige, an Antonín Dvoráks 9. Symphonie angelehnte Musikscore von Rick Wakeman, der die jeweils vorherrschende Situation des Films zwar exzentrisch, aber dennoch passend mitträgt. Dabei pendelt er auch zwischen lauten Tönen und welchen, die eher sleazig-sanft, ja sogar schon richtiggehend sexy sind.
Auch bei den Schauspielern gelangen einige regelrechte Glücksgriffe. Kathleen Turner in einer ihrer frühen Rollen weiß sowohl schauspielerisch als auch visuell zu gefallen, auch wenn es ihr nicht immer ganz gelingt, in den doch ziemlich verworrenen Charakter von China Blue respektive Joanna Crane Klarheit zu bringen. John Laughlin ist die perfekte Verkörperung des gewöhnlichen, manchmal etwas blassen Charakters des treusorgenden Familienvaters, während Anthony Perkins in seiner Rolle als Psychopath ein eher zweischneidiges Schwert ist. Konnte er sich von seinem Image als schüchterner, geistesgestörter Serienmörder in Hitchcocks „Psycho“ (1960) nie so recht befreien, so verkörpert er hier auf nicht immer ganz überzeugende, aber spaßige Weise einen total durchgeknallten Irren. Allerdings wirken die mit seiner Figur einhergehenden Thriller-Elemente eher aufgesetzt und können auch aufgrund ihrer Spannungsarmut nicht überzeugen.
Wirkt der Film auf den ersten Blick vielleicht etwas verworren, so entschädigt er dennoch durch einige unvergessliche Szenen und seine rauschartige, einfallsreiche Inszenierung, die den Zuschauer stellenweise an einen regelrechten Drogentrip erinnert. Allerdings ist der Film weniger für sensible Gemüter und prüde Zeitgenossen geeignet, auch wenn die anfangs erwähnten Zensurmaßnahmen in den USA heute eher komisch anmuten. Allen anderen jedoch, die sich auch für Filmexperimente jenseits des Mainstreams begeistern können, kann ich diese außergewöhnliche filmische Therapiestunde in Sachen Sexualität nur wärmstens ans Herz legen.
Die bei e-m-s erschienene DVD zeigt den Film in seiner ungekürzten Fassung mit erstaunlich guter Bild- und Tonqualität und bietet neben dem Originalton auch zahlreiche Deleted Scenes, die mit einer Gesamtspielzeit von über 20 Minuten einige Szenen und Charaktere des Films noch vertiefen.
- Redakteur:
- Andreas Fecher