ProgPower Europe 2006 - Baarlo (NL)

17.10.2006 | 00:32

29.09.2006, JC Sjiva

Samstag, 30.09.2006

Trotz leichter Folgeschäden, bedingt durch die gestrige "Aftershow-Party" im Innenhof des Kasteel de Berckt, machen wir uns erwartungsvoll auf den knapp halbstündigen Fußweg zum Jugendzentrum Sjiva. Unser Weg führt uns an zahlreichen typisch holländischen Vorgärten vorbei, in denen jede auch noch so kleine Hecke akkurat gestutzt, jedes Zierbäumchen mit einem kugelrund beschnittenen Blätterdach versehen ist. In Holland ist irgendwie alles klein und niedlich, nicht nur die fingerhutgroßen Bierbecher ...
[Elke Huber]

ANOTHER MESSIAH
Fuck yeah! So stelle ich mir den idealen Auftakt für einen perfekten Musik-Tag vor: Gerade eben noch mit COMMUNIC, die ganz entspannt mit ihren Tour-Kumpanen von SCAR SYMMETRY direkt neben dem Jugendzentrum in ihrem kultigen Bus hausen, am Schnacken gewesen, da zieht mich die Musik schon magisch nach drinnen: Growls, schöne Rhythmusarbeit, fette Gitarren, aber auch cleaner Gesang. Und was ist das? Schräge Keyboardtöne? Nein, Sänger Robbie überrascht die von Beginn an begeisterten Zuschauer mit zabuerhaften Klängen aus einer Oboe - wenn das nicht Eigenständigkeit pur ist, dann weiß ich auch nicht. ANOTHER MESSIAH sind genau diese neue Prog-Generation, von der ich in der Einleitung schrieb: Ein bisschen Brachialität, eine Menge Gefühle, großartiges Songwriting und eine ganze Bandbreite an Einflüssen. Da das Quartett recht rhythmusorientiert arbeitet, kommen einem zunächst Truppen der Marke MESHUGGAH oder MASTODON in den Sinn, aber auch ruhigere Bands wie ISIS scheint man in Holland gerne zu mögen. Die oftmals recht doomigen Stücke begleitet Robbie mal flüsternd, bedrohlich grunzend, fies keifend oder leicht grungig angehaucht - wobei festzustellen bleibt, dass der Gute heute nicht seinen besten Tag zu haben scheint. Das klingt auf Platte doch deutlich souveräner. Während Drummer Christiaan hinter seinem minimalistischen Drumkit (dürfte ca. 1/20tel von Mike Portnoys größenmäßig ausmachen) die abwechslungsreichen Takte angibt, spielt sich insbesondere Klampfer Martijn mit verträumten Effekspielereien in den Vordergrund - neben der brachialen Riffwand zaubert der Rauschebart scheinbar spielend Klangwelten, für die so manche Band ein Keyboard benötigt hätte. Und wenn dann wieder Robbies Oboe erklingt, begleitet von wohldosierter Aggression, dann ist die Prog-Welt zum ersten Mal an diesem Wochenende nur noch unbeschreiblich schön. Fabelhaft!
[Rouven Dorn]

CHAOSWAVE
Oh, Mann es fällt echt schwer, einen objektiven Bericht über CHAOSWAVE zu schreiben, wenn man diese knuddeligen Italiener einmal persönlich kennengelernt hat. Da tut es fast weh zu sagen, dass ich anfangs etwas wie der Ochs vorm Berg stehe ob des wirklich extrem matschigen Sounds (vor allem nach dem tollen Opener ANOTHER MESSIAH), bei dem ich anfangs nicht einmal die Songs erkenne. Und ich habe das Debutalbum "The White Noise Within" weiß Gott oft gehört. Somit war die Gesamtsituation zunächst nicht zufriedenstellend, zumal die auf Platte phänomenalen Gesangsharmonien des Duetts Georgia und Fabio gar nicht zusammen passen. Aber CHAOSWAVE fangen sich und werden von Minute zu Minute besser, selbstbewusster, souveräner, weil auch das Publikum sehr positiv reagiert. Das sympathische Stageacting und die positive Attitüde tun da ihr übriges, und Songs wie 'Indifferent' oder 'Mirror' sind unter allen Umständen geil, obwohl sie manchmal so schnell runtergezockt werden, daß ich denke, ein Riesen-Fingermonster (mehr dazu siehe an anderer Stelle des Berichtes) wäre hinter den armen Italienern her. Scheiß drauf, am Ende wollte ich jedenfalls nicht, dass es aufhört.
[Thomas Becker]

EPHEL DUATH
Firr! Wo ich eigentlich bin, das weiß ich insbesondere während, aber auch nach dem Gig der Gaga-Italiener nicht so wirklich. Das war doch schon fast zu viel an musikalischer Finesse und Nicht-von-dieser-Welt-Spielereien in einer Stunde. Fast. Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, wie die Stiefelländer denn so auf der Bühne sind. Immerhin manifestiert sich der Ausdruck "Studioprojekt" beim Anhören von Jazz-Death-Durchknalleinheiten wie "The Painter's Palette" oder "Pain Necessary To Know" recht schnell im Hirn des Hörers - so etwas kann man eigentlich gar nicht live spielen. Eigentlich. Das Quartett um Fronter und Exzentriker Luciano George Lorusso belehrt alle Anwesenden natürlich eines Besseren. Was fast ein Leichtes ist, da man mit Sergio Ponti am Schlagzeug einen Musiker hat, der selbst Peart oder Portnoy noch im Halbschlaf perfekt zocken könnte. Der Gute liest seine Parts während der Songs von Notenblättern ab (!), hat laut Aussagen der Band gerade einmal zwei bis drei volle Proben mit dem Rest von EPHEL DUATH absolviert und wird von nun an fest dabei sein. Keine Frage: Einen technisch beeindruckenderen Fellgerber habe ich persönlich noch nicht bewundern dürfen. Dazu trägt auch sicherlich das Musikstudenten-Aussehen von Herrn Ponti bei. Klampfer Davide überzeugt hingegen mit Bubifrisur und Hemd mitsamt Krawatte, während Bassist Fabio so aussieht, als hätte er vor dem Gig mal ausgiebig holländische Spezialitäten genascht. Im Zentrum des wahnwitzigen Geschehens aber stets Luciano, Meister der Mimik und Gestik, allem Anschein nach angetreten, um zum legitimen Nachfolger von Mike Patton ernannt zu werden. Zwischen seinen Gesangsparts steht er still wie eine Statue auf der Bühne, den irren Blick stets ins Leere gerichtet, nur um dann plötzlich vollkommen auszurasten, zum kreischenden Berserker zu mutieren, der seine teils philosophischen (und stets misanthropischen) Texte in die Welt hinausschreit. Was für ein Frontman! Und was für Musiker: kaum ein Part gleicht dem anderen, EPHEL DUATH schalten mühelos zwischen wirren Frickel-Death-Abfahrten und entspanntem Lounge-Jazz hin und her, Davide verknotet sich die Finger auf dem Griffbrett und erfreut die Meute vor der Bühne mit gefühlten 456275 verschiedenen Effekten, Tieftöner Fabio steht dem in fast nichts nach - ich hätte nicht gedacht, was man mit einem simplen Viersaiter und einer Phalanx an Effektgeräten so alles anstellen kann. Wahnsinn. Fast schon eingängig wird's dann bei 'The Passage' von "The Painter's Palette", welches beim ohnehin schon austickenden Publikum jubelnd aufgenommen wird. Wenn mir vor dem Gig jemand erzählt hätte, dass bei EPHEL DUATH die Leute in der ersten Reihe ausgelassen Tanzen, im Takt (!) mitklatschen und eine riesige Party feiern, so hätte ich ihm den Vogel gezeigt. Jedoch herrscht vor der Bühne eine extrem ausgelassene Stimmung, die scheinbar selbst Menschenfeind Luciano nicht kalt lässt, der immer weniger mürrisch ein "Thank you" über die Lippen bekommt. Und als die Jungs dann auch noch als einzige Band auf dem gesamten Festival eine Zugabe spielen müssen/dürfen, habe ich schon längst vergessen, wo hier eigentlich unten und oben ist. Neudefinition des musikalischen Universums, sozusagen. Das einzige, was noch gefehlt hat, war das tolle Saxophon. Trotzdem: Sa-gen-haft.
[Rouven Dorn]

SCAR SYMMETRY
Ein klassischer Fall von "zu früh gefreut": Nachdem mich SCAR SYMMETRY-Sänger Christian Älvestam auf dem Summer Breeze davon überzeugen konnte, dass er im Gegensatz zu so manchem Genrekollegen sehr wohl in den Lage ist, von "Rülps" auf "Träller" in 0,3 Sekunden umzusteigen, ohne sich dabei zu blamieren, hat der Gute heute arge Probleme mit den hohen Tönen. Vielleicht liegt's an dem offenbar nicht ganz optimalen Monitorsound auf der Bühne, denn bereits CHAOSWAVE brauchten zwei drei Songs, bis alles im Lot war. Seine Leistungen in der ersten Hälfte des Sets sind jedenfalls äußerst grenzwertig - kaum dass eine klare Passage zu meistern ist, presst er sich die Hand ans Ohr und versucht angestrengt, die richtige Tonlage zu treffen, wobei sein wenig begeisterter Gesichtsausdruck dabei Bände spricht. Die Setlist ist im Gegensatz zum Breeze-Auftritt noch um einige weitere Songs des mir unbekannten ersten Albums angereichert, die sich stilistisch kaum von dem aktuellen Werk unterscheiden, und das geniale 'The Illusionist' gibt's erst am Schluss, dafür aber mit inzwischen akzeptablem Gesang. Ich bin gespannt, wie sich die Schweden auf der Tour mit COMMUNIC schlagen - bisher steht's leider fifty-fifty betreffend die Frage, ob SCAR SYMMETRY live besser sind als SOILWORK & Co. ...
[Elke Huber]

Setlist:
Calculate The Apocalypse
Slaves To The Subliminal
Chaosweaver
Abstracted
Mind Machine
Reborn
Underneath The Surface
Retaliator
Veil Of Illusions
Obscure Alliance
The Illusionist

TEXTURES
Als wäre dieser Tag nicht schon endlos geil genug gewesen - jetzt kommen auch noch TEXTURES auf die Bühne, die ich beim ProgPower unbedingt mal livehaftig erleben wollte. Bereits mit dem "Polars"-Demo konnte die blutjunge Truppe anno 2003 für ordentlich Aufsehen in der Szene sorgen und ergatterte damit fast sofort einen Deal. In diesem Jahr legte das Sextett mit dem famosen "Drawing Circles" nochmals ordentlich nach und katapultierten sich aus dem Stand an die Spitze der modernen Proggie-Bewegung. Ein bisschen MESHUGGAH, 'ne Prise FAITH NO MORE, ein Happen OPETH und Konsorten sowie eine dicke Menge Eigenständigkeit machen klar, wieso dem so ist. Und auch auf der Bühne sind die Holländer eine wahre Macht, ständig in Bewegung, spielfreudig, aggressiv und schlichtweg mitreißend. Sänger Eric gibt für mich den sympathischsten und charismatischsten Fronter des gesamten Festivals ab, während die Saitenfraktion über die Bretter tobt und einige Kilometer abspult. Natürlich knallen die rhythmusorientierten, heftigen Parts besonders gut, zu denen Eric passend wie ein Flummi über die Bretter turnt. Aber auch dir ruhigen, verträumten, mit mehrstimmigen Gesängen versehenen Teile der Songs wissen zu überzeugen: Hier sind wahre Meister am Werk, die nicht nur im Studio wie ein Diamant mit tausend Facetten glitzern können.'Regenesis', 'Denying Gravity', 'Stream Of Consciousness' oder 'Polars' häuten Gänse, zerstören Nackenwirbel, erschaffen akustische Traumwelten und verzaubern ganz nebenbei mit musikalischen Meisterleistungen en masse. Hätten mich EPHEL DUATH nicht zuvor sensibilisiert hinsichtlich dessen, was technisch alles möglich ist, so würde ich jetzt beim Gig von TEXTURES so langsam sämtliche räumliche Orientierung verlieren. MESHUGGAH, zieht euch warm an - die Jungs sind euch ganz, ganz dicht auf den Fersen und haben dabei erst angefangen ...
[Rouven Dorn]

MERCENARY
Was habe ich mich auf MERCENARY mit neuem Album im Gepäck gefreut! Und die Hoffnung, dass die neuen Songs live mindestens genauso genial rüberkommen wie die "11 Dreams"-Übernummern bestätigt sich schon nach wenigen Minuten, denn die Dänen starten gleich mal mit ein paar neuen Stücken in ein energiegeladenes Set. Und was ich hier erlebe, kann ich fast als eine der besten MERCENARY-Shows ever bezeichnen, denn die Jungs sind heute so gut drauf, so spielfreudig und so perfekt, dass es mir fast die Freudentränen in die Augen treibt - und auch die anderen Fans scheinen dieser Meinung zu sein. Die Halle ist nach TEXTURES zwar nicht mehr ganz so voll, doch die Stimmung ist immer noch bestens, und vor allem in den ersten Reihen geht die Post ab. Gerade bei Songs wie 'Firesoul', bei dem alle mitsingen (und mir Georgia von CHAOSWAVE in der ersten Reihe Gesellschaft leistet) oder bei '11 Dreams' haben MERCENARY die vollste Aufmerksamkeit des Publikums. Die neuen Songs sind bei den eingefleischten Fans natürlich schon im Gedächtnis, doch geht die Stimmung hier eindeutig etwas zurück. Schade, denn wie schon erwähnt haben die Songs von "The Hours That Remain" mit ihren eingängigen Refrains das absolute Hitpotential, was sich vor allem beim schon etwas bekannteren 'Soul Decision' zeigt.

Rene ist als neuer Bassist mittlerweile bestens in die Band integriert und übernimmt neben Mikkel viele Ansagen, kaspert ab und zu etwas rum und hat endlos viel Spaß auf der Bühne. Wo haben sie den bloß so lange versteckt? Der Kerl ist nämlich nicht nur was das Entertainment angeht ein großes Talent, sondern ist vor allem auch musikalisch auf höchstem Niveau. Seine tiefe Stimme, die bösen Grunzer und sein tightes Bassspiel lassen keine Zweifel aufkommen, dass Rene der beste für diesen frei gewordenen Posten am Bass war und die Band mit ihm einfach eine Bereicherung erfährt.

Unfreiwillig komisch wird es, als Rene einen Song ankündigt und den Titel dazu nicht weiß, doch Mikkel springt schnell ein und kündigt den Übersong 'Loneliness' an, der von fast allen Anwesenden sehnsüchtig erwartet wird. Immerhin haben MERCENARY die Nummer erst bei den letzten Festivals ins Programm genommen, und auch heute kommen wieder viele Fans in den Genuss einer Premiere. Wie ich später erfahre, war die Verwirrung um die Songtitel so nicht geplant, doch hatte man den Jungs vor dem Auftritt die eben auf der Bühne verteilten Setlisten aus versehen wieder weggenommen (die Crew dachte wohl, es wäre die Setliste von TEXTURES). Mit dem Wissen macht es natürlich Sinn, dass Mikkel nach jedem Song schnell in Richtung Drumkit flitzt, um die in letzter Minute zusammengebastelte Setliste zu lesen. Sympathiepunkte sammeln die Jungs noch mit ihrer herzlichen Bühnen-Verabschiedung und später mit einer absolut lustigen Aftershowparty im kleinen Club. Ein würdiger Headliner für den ersten Tag!
[Caroline Traitler]

Nach der feucht-fröhlichen Aftershowparty in der Bar des Jugendzentrums (MERCENARY-Goldkehlchen Mikkel begießt dort seinen Geburzum) machen wir uns auf den Heimweg zum Kasteel, wo noch bis in die Morgenstunden mit Besuchern aus aller Herren Länder gelacht, getrunken und gefeiert wird - Rülps!
[Rouven Dorn]

Redakteur:
Caroline Traitler

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