Die Ärzte - Leipzig

27.06.2004 | 09:25

22.06.2004, Arena

Der Boden saftet vor Bier und Schmutz. Jungs und Mädels in der eigentlichen Blüte ihrer Jugend sitzen fahl an der Wand, stecken sich zitternd Kippen in den Mund, die Flamme des Feuerzeugs findet erst nach einiger Willensanstrengung den Weg zur Zigarette. Tief inhalieren. Über die erschöpften Teenies steigen immer wieder Leute, gehen zielstrebig zu einer Tür. Ein Typ mit verwurschteltem roten Iro schreit "Fresssseee!!! Yeaaaaahhh!!" Auch vorm Klo herrscht während eines DIE ÄRZTE-Konzerts ganz schön viel Betrieb.
(Henri Kramer)

DIE ÄRZTE-Fans müssen harte Prüfungen bestehen. Ist das Absacken im dunstigen Warteraum vor dem Klo die Endstation für viele Angereiste, so bildet der generalstabsmäßige Bodycheck am Eingang der Leipziger Arena den Beginn einer Stunden währenden Via Dolorosa, gepflastert mit Schmerz und Hohn. Wer aus Überzeugung oder "nur" zum Schmuck kiloweise Nietengürtel, Stachelhalsbänder und Stahlketten angelegt hat, der wird sogleich wieder all seiner rebellischen Statements beraubt. Wer sich traut, im Eingangsbereich eine größere Menschentraube zu bilden, um zum Beispiel auf einen Freund zu warten, der wird fortgescheucht. "Einfach hören und das tun, was euch gesagt wird. Das ist wie in der Schule", erklärt ein zwei Meter großer Sicherheitsmann von oben herab. Wer nicht hört, wird geschoben. Rucksäcke sollen an Garderoben abgegeben werden, die heute gar nicht geöffnet sind. Da kommt sich der Fan schon ein wenig verschaukelt vor. Zur Ablenkung verteilen hübsche Mädchen in kurzen rot-weißen Latexkleidern Traubenzucker. Ein Fan wittert sofort das Geschäft: "Traubenzucker, kauft Traubenzucker!" Auf seinem T-Shirt steht "Ich bin nicht allein". Wer Durst hat, kann sich für 2,50 Euro plus 2,50 Euro Pfand ein Getränk im originalen DIE ÄRZTE-Becher kaufen. Wer gibt den schon zurück?! Andere Souvenirs gibt's am Merchandising-Stand: T-Shirts für 26 Euro und "Scheint die Sonne auch für Nazis?"-Poster für 5 Euro. Aber keine Aufnäher. Der treue Fan kauft und später bedanken sich DIE ÄRZTE dafür mit einem 'Lied nur für dich'. Eine kleine bissige Pointe fügt Farin noch an: "Und so wird man Millionär. Happy Birthday, Campino!"
(Wiebke Rost)

Vor das eigentliche Konzert haben DIE ÄRZTE den Verdruss gesetzt. Bela B. kündigt ihn an: TAPE. Die Band entpuppt sich als recht ausgenuddelte Kassette. Ein bisschen Groove hier, ein wenig Rock da, selbst Hip Hop. Irgendwie klingt dieses zusammengewürftelte Musikergemisch aus Chile, den USA und Deutschland wie die typische Viva2-Alternativband, auswechselbar, ohne echten eigenen Stil. TAPE setzen vor allem auf ihre Frontfrau Dacia: Die hat kurze dunkelblonde Haare und trägt ein schwarzes Minikleid, die Beine sind in schwarze Netzstrümpfe gepackt. Sex-Appeal hat sie also, aber nur bis zu einem gewissen Grad... Auch die Stimme nervt nicht sonderlich. "Make some noise!!!" ruft sie den Fans zu. Die ersten 20 von geschätzten 150 Reihen klatschen auch brav mit. Beim Bandhit 'Yeeha' sind es sogar ein bisschen mehr. Trotzdem ist niemand sonderlich böse, als Dacia vorm letzten TAPE-Song allen eine gute Nacht wünscht...
(Henri Kramer)

Zwanzig Minuten später: Großer Jubel, als zwei riesige Fahnen mit dem vielbedeutenden "ä" (mit drei Punkten) von der Decke gerollt werden. Punkt 21 Uhr verstummt die bunt gemischte Pausenmusik, der Saal wird dunkel, elektronische Klänge surren durch den Raum, ein verzerrtes böses Lachen ertönt und eine tiefe Stimme verkündet: "Ruhe bitte! In der Halle ist kein Platz mehr, hat mein Großvater immer erzählt. Mein Großvater ist Priester in Leipzig. Er hat immer gesagt, wenn kein Platz mehr in der Halle ist, dann sind die DIE ÄRZTE da." Fürwahr! 'Nicht allein' heißt der erste Song, Bella, Farin und Rod haben sich genau den richtigen Song für den Auftakt ihres zweieinhalbstündigen Konzertes ausgesucht. "Du bist nicht allein. Wir sind Millionen und wir werden noch mehr sein." So sieht's aus. Keine andere deutsche Band spielt so viele Konzerte in ausverkauften Hallen, die zehntausend Leute und mehr fassen. Kürzlich gleich dreimal hintereinander auf der Berliner Waldbühne, heute in der brechend vollen Leipzig-Arena.
(Wiebke Rost)

Ein Blick zu den Rängen, jeweils links und rechts von der Bühne. Wer hier sitzt, hat für seine Karte etwas mehr gezahlt. Dafür lässt sich hier die Faust ohne bedenklichen Luftmangel schwingen. Außerdem sieht das Meer von sich hochreckenden Armen aus wie eine Massenszene in einem großen, großen Kinofilm: Von vorn bis hinten ist die Halle rammelvoll, überall springen Leute in die Höhe und klatschen mit. Überall. In den ersten Reihen werden ohne Unterlass Diver über die Menge getragen, auch in den Songpausen. Selbst Farin scheint verwundert: "Wie konnten wir nur jemals so berühmt werden - Fehler in der Matrix?!" Denn wo anderen Bands wegen Kommerzgehabe die Fanliebe entzogen wird, dürfen DIE ÄRZTE ohne Scham rufen: "Wir wollen eure Kohle sehen." Für die 26 Euro Eintritt bekommen die Fans aber auch etwas geboten, eine komplett auf Leipzig zugeschnittene Rockshow nämlich.
(Henri Kramer)

"Hallo Leipzig! Wir sind DIE ÄRZTE aus Bärlin! Leipzig ist die Lieblingsstadt von Rod und die Geburtsstadt von Bela B.", verkündet Farin. Er ist der Mann, der alles kann und das Publikum mit seinen charmant gewitzt-arroganten Ansagen durch den Abend führt. Bela ergänzt ihn mitunter: "Und in Leipzig hat sich Farin seine Brustimplantate machen lassen!" Das sorgt für Begeisterung. Und wenn die "Leipzschor" mal zu brav dastehen, weiß der Farin sie anzuspornen: "So, nehmt doch mal die Hände hoch. Und wieder runter. Und wieder hoch. Und auseinander. Und zusammen. Und wieder auseinander. Und die Handflächen einmal nach außen drehen. Und wieder zusammen. Ja, das wollen wir sehen!" Wie in der Schule eben...
(Wiebke Rost)

Auch wissen die ÄRZTE, dass in Leipzig öfters einmal Neonazis zum Völkerschlachtdenkmal marschieren wollen. Kommentar: "Bewerft sie mit allem, was ihr habt! Pflastersteine..." Die Halle grölt. Bela muss noch schnell sein "Antifa-Bier" austrinken. Dann ertönt der 'Schrei nach Liebe', die Fans ticken aus. Hier im Osten hat wohl schon fast jeder etwas alternativ aussehende Typ Mensch einmal erlebt, wie es ist, von einem Fascho verfolgt zu werden. Gerade dieses Lied ist das Ventil für viel gesteigerten Frust. Auf dem LCD-Anzeige über der Bühne erscheint ein Hakenkreuz, es wird zerdrückt. Jubel!
(Henri Kramer)

Und noch etwas ist anders in "Leipzsch": Alte Punksongs wie 'FDJ-Punks' spielen DIE ÄRZTE im Westen nicht. In sächsischem Dialekt, der ja repräsentativ für ganz Ostdeutschland ist {entrüstete Widerworte vom Lektor!}, singt Farin von Lumpi und Anneliese Schmidt. Die jungen Fans können mit dem Song nicht ganz so viel anfangen und verhalten sich ruhig. Farin überbrückt "die Leipziger Stille" so: "Ein sehr altes Lied. Ein Lied aus der Zeit, als wir noch alt waren. Dem würde lauter Applaus gar nicht gut tun." Eher wohl ein wilder Pogo. Ein überschaubar kleiner Strudel im großen Fanmeer pogt tatsächlich unermüdlich das gesamte Konzert durch, auch bei etwas unbekannteren Klassikern à la 'Sommer, Palme, Sonnenschein'. Für die anderen haben DIE ÄRZTE auch Verständnis. Wieder nimmt Farin die Rolle des Lehrers ein und weist die Meute an: "Leipziger sind total höflich. Pogo? Was ist das eigentlich?" Jetzt bekommt hier jeder erst mal drei Minuten Trockenpogo verordnet und die Leute auf den Rängen eben einen Sitzpogo bei 'Nie wieder Hütchen spielen'. So ganz überzeugt von der Punknatur seiner Fans ist der Farin noch immer nicht. "Leipzig! Ihr seht gepflegt aus und seid charmant, gut gekleidet, wortgewandt, jeder Einzelne hier ein Held und ihr habt die klügsten Männer der Welt." Der politische Teil des Abends hat begonnen. Am Ende vom Lied heißt es: "Vielen Dank Edmund! Vielen Dank Otto! Vielen Dank Angela, denn auch du bist ein Mann! Vielen Dank Georgy Porgy, denn du bist der Chef der klügsten Männer der Welt."
(Wiebke Rost)

Was haben die Ärzte denn so für Songtypen? Aus Metal-Sicht lassen sich vier Kategorien ableiten. Da ist einmal der gemeine Punk-Song wie 'Ich bin ein Punk'. Hier kann der Metalhead nur mit Bauchschmerzen mitsingen, denn so ein Bekenntnis rührt schon ganz massiv an der heiligen Rocker-Ehre. Dann gibt es den Love-Song der Marke 'Nichts in der Welt', bei dem die halbe Bühne in roten Flammen zu stehen scheint - manchmal ist es ein schmaler Grat zwischen Kitsch und Ironie, auf dem die Berliner wandeln. Ähnlich ist es beim ÄRZTE-Polit-Song wie 'Die klügsten Männer' - manchmal ein Tick zu plakativ, zu dolle von hinten herum mit dem ironischen Vorschlaghammer... Doch die Mehrzahl des Publikums ist jung und (noch) rebellisch, die ausverkaufte Halle frisst gierig jeden Takt in sich hinein. Doch besonders leidenschaftlich wird die Schar bei jedem Nonsens-Song der ÄRZTE, etwa 'Richtig schön evil'. Leider fehlen aber gerade von der neuen Scheibe solche Knaller wie 'Schneller leben' oder 'Jag Älskar Sverige!'...
(Henri Kramer)

DIE ÄRZTE singen von einer Welt jenseits von Fußballs, ohne Kriege, wo alle Männer Mädchen wären und über Blumenesser. Sie widmen ihre Songs allen Tieren, die eine dicke fette Frau schon verspeist hat und Rudi Völler. Aber am schönstens ist es doch, wenn sie über das Eine singen: "SEX, ein Wort mit drei Buchstaben", gesungen von drei Männern. Farin, der Boss mit der Frisur mit dem größten Windwiderstand, bekennt: "Fesseln muss nicht unbedingt dazugehören. Aber schön ist es schon!" Über der Bühne werden zwei überdimensionale Gwendolines entrollt, keine fleischlosen Skelette mehr, sondern mit wohlgeformten Kurven dran. Da vergessen die Leipziger ihre Höflichkeit und auch beim Sex mit der fetten 'Elke' gibt es kein Halten mehr. Bela, der zu alt ist fürs Regieren, McDonalds an Cuba verschenkt hat und auf dessen Grabstein "I am the Rock" stehen wird, singt in einer Herz zerreißenden Unplugged-Version von Frauen, Schmerz und blauen Augen: 'Manchmal'. Die Hälfte der Zeilen grölt Leipzig selbst. Der König der Herzen aber ist Rod. Er ist fürs Versilbern zuständig. Früher hieß er Karl Lagerfeld. Heute macht er alle betrübt. "Fällt uns denn keine Lösung ein?" Doch, eine 'Ballade'! Edel, der Rod. Ein Frauentyp. Melancholie macht sich breit. Auf Zuruf erhellen schlagartig tausende Feuerzeuge und Handy-Displays die in blaues Licht getauchte Halle. Leipzig ist schon wieder stumm. Abermals weist Farin sie an: "Ihr müsst frenetisch schreien, klatschen und durchdrehen. Dann spielen wir für euch. Und hört auf zu ficken, wenn eure Freundin stöhnt!" 'Unrockbar' lässt Leipzig ganz gewaltig rocken.
(Wiebke Rost)

Zeit für eine kurze Publikums-Analyse. Rechts sitzt ein kleiner Junge auf Papas Schultern. Links steht ein Punk mit seiner Freundin, beide mit extragroß hochgestyltem Iro. Typen mit Vokuhila rennen hier herum, aber auch Kunden mit Dreadlocks. Selbst Volk-Man von den APOKALYPTISCHEN REITERn ist da und freut sich über einen anderen Fan mit 'nem REITER-Shirt. Ergo: Die ÄRZTE sind grenzübergreifend, hier bekommt jeder Musikfan etwas. Und alle dürfen sich verpeilt-coolen Jugendrocker-Träumen hingeben: "Eines Tages werd' ich mich rächen, ich werd' die Herzen aller Mädchen brechen..."
(Henri Kramer)

"Und ich hoffe, ihr habt heute gelernt, dieser Tag ist nicht mehr weit entfernt. Und dieser Tag könnte schon übermorgen sein und dann mach ich euch allen ein Kind. Und die Kinder heißen dann Farin 1 bis 1000." 23:37 Uhr, es ist fast alles gesagt, zwei Zugaben sind gespielt, 36 Songs vorüber. Auch der inzwischen obligatorische Unplugged-Teil war dabei. Fehlt nur noch ein alles abrundendes Schlusswort: "Leipzig, ihr ward mal leise, ihr ward mal laut, aber ihr saht immer gut aus dabei! Remember, I love you!" Ja, der Rod...
(Wiebke Rost)

Redakteur:
Henri Kramer

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