Amplifier - Berlin

08.11.2006 | 22:13

01.11.2006, Lido

Auch wenn es in unseren Redaktions-Reihen etliche Anhänger der Retro-Rocker AMPLIFIER gibt, so gleicht der heutige Ausflug ins Berliner Lido doch einem Trip in ein musikalisches Parallel-Universum. Zunächst einmal kann ich mich nicht erinnern, dass jemals eine für mich relevante Band dort gespielt hätte, weshalb wir erst einmal neugierig die Räumlichkeiten in Augenschein nehmen. Der große und akustisch annehmbare Konzertsaal wird wohlwollend abgenickt, auch wenn die Lichtanlage lediglich beim Headliner halbwegs brauchbare Ohne-Blitz-Fotos ermöglicht. Die Toiletten "über den Hof" bestätigen jedoch schon eher das Bild, das vor unserem geistigen Auge entstand, als wir uns kurz zuvor dem von außen sehr heruntergekommen wirkenden Laden näherten, und von der Existenz einer Garderobe erfährt man auch eher zufällig, wenn man sich durch die Kälte zu den Örtlichkeiten vorkämpft. Trotzdem, alles in allem eine sehr angenehme Location für mittelgroße Konzerte!

Viel verstörender - zumindest für mich - ist hingegen das Publikum. Dort mischen sich Alternative-Rocker mit bärtigen und/oder kahlköpfigen alten Männern und Indie-Fans mit einer Hand voll Psychedelic-Freaks. Metaller sind eher in der Minderheit, dafür schätze ich, dass knapp die Hälfte der Anwesenden selbst in einer Band spielt, weil der Großteil eher bedächtig wippend und staunend das Geschehen auf der Bühne verfolgt, statt hemmungslos abzurocken. Zum Staunen gibt es in der Tat eine ganze Menge: Von Band zu Band wächst das Arsenal an Wechsel-Gitarren und -Bässen sowie die Ansammlung verschiedenster Regler und Effektgeräte, bis sie schließlich bei AMPLIFIER den halben Bühnenrand bedecken.

ELIKAN DEW
Die lokalen Opener von ELIKAN DEW sind in dem heutigen Dreigestirn noch am eingängigsten. Als alternativen Indie-Rock mit Emo-Einschlag könnte man ihre Musik bezeichnen, unter den auf ihrer Homepage genannten Einflüssen findet man Formationen wie INCUBUS und COLDPLAY, und mit "Meet On Plateau" hat man gerade sein Debüt bei ulfTone Music veröffentlicht. Die ein wenig leidenden, aber niemals weinerlichen Gesangslinien von Gitarrist und Sänger Henrik Käthe sind poppig-mitreißend, und Robert Steiger groovt putzig zum Klang seiner Bassgitarre, während hinter ihm das grell-grüne ELIKAN DEW-Logo leuchtet (bei dem ich irgendwie die ganze Zeit einen dazugehörigen Popcorn-Stand vermisst habe). Lediglich Torsten Gehlhar, der für die zweite Gitarre und den Background-Gesang zuständig ist, versteckt sich etwas zu sehr im Schatten der linken Bühnenecke. Die halbe Stunde Spielzeit vergeht wie im Flug, während bereits zahlreiche Köpfe im Takt nicken, und am Ende bleibt die Feststellung "Die waren gar nicht übel!" - was schon viel mehr ist, als man von etlichen anderen Vorbands behaupten kann.
[Elke Huber]

GRAND VOLUME
Kommt jetzt noch eine Vorband oder nicht? Die Umbaupause zieht sich, das kleine Schlagzeug wird abgebaut, irgendwelche langhaarigen Typen testen ewig lang den Sound von Gitarren und Mikros, alles sieht nach einem hoffentlich sehr bald beginnenden AMPLIFIER-Gig aus. Dann beginnen die "Roadies" auf einmal, einen Song zu spielen, es wird dunkel und der Song hört auch nicht auf. "Das sind nicht AMPLIFIER", ruft Peter aus, ich stimme ihm zu. Das letzte Mal allerdings für einen Zeitraum von einer guten halben Stunde. Denn während Kubilein diese "nervige" Musik mit einem grimmigen Blick kommentiert, hab ich mich nach 10 Takten in diese Band verliebt! Sie spielt rhythmisch vertrackten, harten Gitarrenrock, zu vergleichen mit, ja, mit wem eigentlich? Irgendwie spielen sie einen Stil, der keine Vergleichsband kennt, sie strotzt vor dissonanten, "nervigen" Gitarrenläufen a la KING CRIMSON oder den frühen ANEKDOTEN, oft gibt es hardcoreartige Ausbrüche, aber auch ruhige Momente und spannende Steigerungen. Der Gesang ist sehr variabel, mal kräftig röhrend, mal leise geflüstert, hin und wieder Kopfstimme oder Falsett. Nach zwei Songs gibt's kein Halten mehr, ich gehe ganz nach vorne, wo die Leute schüchtern wippend, andächtig staunend oder petermäßig genervt reagieren. Ich stelle fest, dass die Band keinen Basser hat, der Bass aber vom Band kommt. Schade, aber egal, ich gebe den Zappelphillip, die Band läuft mir voll rein - und neben mir allen Leuten, für die Musik auch mal Ecken und Kanten haben kann und nicht unbedingt "schön" sein muß. Sehr, sehr cool! Bleiben nur noch zwei Fragen: Wie heißt diese Band und wo gibt es Tonträger mit musikalischen Darbietungen? Ich gehe nicht über Los, ziehe mir nicht 4000 Bier rein, nein, ich gehe direkt zum Merch-Stand, lasse mir sagen, daß die Band GRAND VOLUME heißt (was für ein geiler Name!) und kaufe mir eine Maxi-Single auf Vinyl mit beigelegter gebrannter CD, für Leute, die Vinyl nicht abspielen können. Wie cool ist denn das? Wer neugierig ist, geht auf http://www.grandvolume.com und schaut mal nach dem Full-Length-Album "Send Me Your champion".
[Thomas Becker]

AMPLIFIER
Wie schon GRAND VOLUME müssen auch AMPLIFIER "dank" 16(!)-stündiger Anreise ihren Soundcheck öffentlich durchführen. Und so vergehen knapp 40 Minuten "One, check, two, one, check, one, two, check"-Gebrabbel, eintöniges Bumm-Bumm-Bumm auf den Fellen und quietschende Saiten nicht gerade wie im Flug.

Doch das ist spätestens mit den ersten Tönen von 'Gustav's Arrival' völlig egal. Auch wenn die Reaktionen im Publikum ziemlich unterschiedlich sind. Bei einigen fällt beim Anblick des exzessiven Spiels von Sel Belamir die Kinnlade bis auf den Boden, während andere mit dem ersten Takt in unkontrollierte Zuckungen verfallen. Überhaupt ist Sel ganz deutlich der Aktivposten der Manchester-Boys. Dabei wirken seine irgendwo zwischen Roboter und Kranich liegenden Bewegungen immer etwas unbeholfen. Vielmehr ist es die Präzision mit der die Riffs durch die Halle fegen, die zu begeistern mag. Den größten Unterschied stellt an diesem Abend aber die Stimme da, die live deutlich erdiger und viel weniger hypnotisch als auf den Silberlingen klingt. Dabei bin ich allerdings nicht sicher, ob Sel schlicht krank ist oder er wirklich live einen ganzen Tacken anders klingt. Nach dem Gig im Vorprogramm von OPETH sind wir da schlauer.

Den Fans im mittlerweile gut gefüllten Lido ist das zumindest herzlich egal. Die Hits des Debütalbums werden zwar allesamt etwas lauter bejubelt, doch grundsätzlich ist kein Qualitätsunterschied zwischen 'O Fortuna', 'Insider' oder 'Mongrel's Anthem' vom aktuellen Album und 'Panzer', 'Motörhead' und 'Airborne' vom Debüt zu erkennen. Die Mischung aus Retro, Psychedelic, Progressive und Rock ist trotz lauter bekannter Zutaten absolut einmalig und verleiht der Band ihren völlig ureigenen Sound. Und genau das ist es, was eine Band wie AMPLIFIER heute so wertvoll macht. Das Trio beweist, dass man mit den vorhandenen Mitteln etwas Neues kreieren kann.

Das Publikum sieht das spätestens ab 'Motörhead' genauso und ist eine einzige, wogende Masse, die ihren Körper dem Rausch der Musik überlässt. Nach 'Airborne' und 80 Minuten Spielzeit ist dann vorläufig Schluss, bevor 'UFOs' und 'Glory' ein würdiges Ende eines großartigen Gigs bedeuten.

Doch natürlich werden nicht alle Zuhörer zu 100 % zufrieden sein. Dass die abgefahrene EP 'The Astronaut Dismantles HAL' gar nicht zum Zuge kommt, dürfte manchem bitter aufstoßen, und auch das Fehlen von 'Elysian Gold' oder 'One Great Summer' ist sicherlich schmerzhaft. Dennoch sollte jeder Freund von Rockmusik im weitesten Sinne unbedingt AMPLIFIER bei der nächsten Gelegenheit live antesten. Es lohnt sich.
[Peter Kubaschk]

Setlist:
Gustav's Arrival
O Fortuna
The Consultancy
Panzer
Mongrel's Anthem
Insider
Strange Seas Of Thought
Motörhead
Neon
Hymn Of The Aten
Airborne
---
UFOs
---
Glory

Redakteur:
Peter Kubaschk

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