VOIVOD - "Forgotten In Space (The Noise Records Years)"

29.07.2022 | 19:44

Welch wilder Ritt! Mit "Forgotten In Space (The Noise Records Years)" steht eine Rundum-sorglos-Veröffentlichung aus dem Hause VOIVOD in den Startlöchern, die – wie der Name schon verrät – die Noise-Ära der Kanadier repräsentiert. Im Detail sprechen wir hier von "Rrrröööaaarrr", "Killing Technology" und "Dimension Hatröss" in einer Box. Was sich im ersten Moment eventuell unspektakulär anhört, ist im zweiten und dritten Moment eine irre Reise durch die Zeit, durch die immens wichtigen Entwicklungsschritte einer wegweisenden Band, die – und das werde ich noch häufiger sagen – ihrer Zeit definitiv voraus war. Denn sowohl in musikalischer als auch konzeptioneller Hinsicht war VOIVOD prägend und gemeinsam mit allerlei audiovisuellen Leckerbissen, vielen Mitschnitten und den einen oder anderen Appetithäppchen ist diese Box ein prallgefüllter Geschenkesack, den wir für euch einmal öffnen.

Die Box selbst kommt als Hardcover-Box daher, in der sich insgesamt sechs Rundlinge in jeweiligen Pappschubern tummeln. Die Vinyl-Ausgabe hat noch einige Besonderheiten mehr zu bieten, wie Vinyls im Splatter- und Swirl-Design oder einen 'Korgüll The Exterminator'-USB-Stick, der alle Tracks vom Studioalbum plus Live- und Demo-Alben beinhaltet.

Ich konzentriere mich in diesem Artikel allerdings auf die CD-Version, in der mir zunächst einmal das üppige Booklet in die Hände fällt. In diesem erzählt Schlagzeuger Michel 'Away' Langevin, der auch als Schöpfer der VOIVOD-Figur und sämtlicher Artworks der Band in Erscheinung getreten ist, die Geschichte seiner Mannschaft. Mit allerlei Fotos, Hintergrundinformationen und Anekdoten über die Alben, Abenteuer, sich selbst, Sänger Denis 'Snake' Belanger, Gitarrist Denis 'Piggy' D'Amour und Bassist Jean-Yves 'Blacky' Theriault bildet dieses kleine Büchlein die perfekte Grundlage, um in der musikalischen Historie VOIVODs Fuß zu fassen.

Ich gehe demnach chronologisch vor und widme mich zunächst dem VOIVOD'schen Zweitwerk "Rrrröööaaarrr" von 1986. Alles roch Mitte der 1980er auch in Quebec nach rauem Thrash Metal amerikanischer Prägung, doch das Weltuntergangsszenario, die starke Sci-Fi-Note und die mit einem kräftigen Augenzwinkern versehenen Texte der Kanadier waren schon damals die Würze in ihrer Suppe. Gemeinsam mit dem ruppigen, rohen und ordentlich-chaotischen Aspekt – wilde Riffings, noch wildere Soli und Snakes schrägem, aggressivem Gesang - hatten er, Blacky, Piggy und Away früh ein Alleinstellungsmerkmal, das sich bis heute durch die Karriere der Mannen zieht. Im Vergleich zum Debüt kommen Bass und Piggys schon damals revolutionäre Klampfe auf dem Noise-Records-Einstand einen Hauch präsenter rüber und gemeinsam mit dem gewissen Wahnsinn, der auf dem Folgealbum kongenial perfektioniert wurde, sowie den noch vorhandenen MOTÖRHEAD-, SLAYER- und VENOM-Einflüssen kann das Nomen-est-omen-Album "Rrrröööaaarrr" als exzellentes Bindeglied zwischen dem Dreschmetall der ersten Jahre und dem progressiven Industrial-Sci-Fi-Inferno der Folgezeit betrachtet werden. 'Thrashing Rage', 'Helldriver' und 'Fuck Off And Die' sprechen auf der einen, 'Horror', 'Build Your Weapons' und das eröffnende Groove-Monster 'Korgüll The Exterminator' auf der anderen Seite eine eindeutige Sprache, doch welcher Kategorie sich der VOIVOD-Fan von Welt auch zugehörig fühlt, alle sind sich einig, dass dieser ungeschliffene Diamant exakt so klingt wie er heißt: "Rrrröööaaarrr".

Kommen wir nun zu meiner Erstbegegnung mit VOIVOD, dem vielleicht besten, aber definitiv damals schon einzigarten Album namens "Killing Technology". Der Weg vom ultrarasanten und schwierig nachzuvollziehenden Überholthrash der vergangenen Tage zur dissonanten Sci-Fi-Thrash-Harmonie progressiver Natur ist auf Album Nummer drei wohl am deutlichsten, was allein der verbesserte Sound und die damals schon revolutionären Stücke der Marke 'Overreaction', 'Ravenous Medicine' und – vor allem auf textlicher Basis – 'Cockroaches' symbolisieren. Natürlich sind Charme, Witz und Chaos von einst noch immer präsent, hätten das einleitende Titelstück und das stürmische 'Tornado'-Ausrufezeichen doch auch gut auf den ersten beiden Alben wüten können. Doch der Entwicklungsschritt ist ein gewaltiger, waren die vier Herren nur ein Jahr nach "Rrrröööaaarrr" ihrer Zeit doch voraus. Allein die Progressive-Rock-Momente, die Piggy seinem Gitarrenspiel hinzufügte, hoben das VOIVOD-Abenteuer gekonnt von der Thrash-Metal-Stangenware ab. Sorgte Snakes charismatischer Nichtgesang auf den ersten Alben noch für aufgestellte Nackenhaare, verleiht sein vermehrt eingesetzter Sprechgesang auch dank Effektgeräten dem Unterfangen einen industriellen, mechanischen Unterton. Die VOIVOD-Jungs haben also ihren hocheigenständigen Sound gefunden und sollten diesen 1988 mit "Dimension Hatröss" auf die Spitze treiben. Insofern war "Killing Technology" wohl die beste Wahl für meinen VOIVOD-Einstand, hatte das kleine Meisterwerk noch genügend Thrash-Elemente intus, reicherte diese allerdings mit allerlei Prog-, Industrial- und Sci-Fi-Stilmitteln höchst geschmackvoll an.

Prog-Thrash in Perfektion? Jedenfalls gingen die Kanadier ihren Weg vom Thrash Metal der Anfangstage zum Weltraum-Prog-Thrash stetig weiter und haben ihrem 1987er Vorgänger nur ein Jahr später mit "Dimension Hatröss" einen mehr als würdigen Nachfolger geschaffen. Die Story handelt von einem gigantischen Teilchenbeschleuniger, der durch einen Mini-Urknall ein Mikrouniversum im Labor kreiert, in das dann der Voivod reist, um die Evolution zu studieren, was jedoch in einem Krieg apokalyptischen Ausmaßes endet. Allein dieses Konzept war schon 1988 seiner Zeit voraus und erfährt heutzutage eine beängstigende Aktualität. Computereffekte, weiter ausgearbeitete Sci-Fi-Stilmittel, psychedelische Momente gepaart mit harschen Gitarren, das am Horror-Industrial angelehnte Artwork, alle Elemente sorgen letztendlich dafür, dass die postapokalyptische Realität vorher noch nie so greifbar und nah war. Ein kalter Schauer der Zukunftsangst hier, aber wohlig-warme, musikalische Elemente dort, ist "Dimension Hatröss" ein von vorne bis hinten intensives, tolles Werk. Jeder einzelne Musiker wächst über sich hinaus, die abermalige Weiterentwicklung wiederum nur ein Jahr später ist vollkommen wahnsinnig: Piggys eigensinniges Gitarrenspiel setzt dem stellenweise sogar in den Jazz abdriftenden Metal die Krone auf, auch die Rhythmusfraktion mit Away und Blacky variiert, was das Zeug hält, und dass ein Frontmann wie Snake dem Sci-Fi-Szenario auf chaotisch-charismatische Art und Weise zusätzlich Ausdruck verleiht, versteht sich von selbst. Ein paar Punk-Einflüsse von einst ('Chaosmöngers'), der ebenfalls nicht zu kurz kommende Thrash ('Technocratic Manipulators', 'Brain Scan') und Songs wie 'Cosmic Drama' und vor allem 'Macrosolutions To Megaproblems' haben auch über 34 Jahre später nichts an Aktualität und Brisanz verloren. Somit ist "Dimension Hatröss" in all seiner Komplexität und konzeptionellen Ausrichtung ein düsteres, eindringliches Album, das nicht nur diese Box vollendet, sondern gemeinsam mit "Nothingface" von vielen zurecht als Blaupause des VOIVOD'schen Schaffens betrachtet wird.

Doch auch die drei weiteren Rundlinge verdienen eine recht ausführliche Erwähnung: Ich beginne mit der "Chaosmongers"-DVD, einer Mini-Dokumentation mit Interviews, Live Auftritten, Behind The Scenes-Material und einigen Promotion-Videos von 1985 bis 1989. Ebenfalls bekommt man ein bis jetzt unveröffentlichtes Konzert-Video aus Chicago von 1988 und einen Audio-Mitschnitt vom World War III Festival vom 30. November 1985 aus Montreal, eben jenes, das von der Band organisiert wurde, um die finanziellen Mittel für die Aufnahme ihres zweiten Studioalbums aufzutreiben. Mit im Billing waren CELTIC FROST, DESTRUCTION, NASTY SAVAGE und POSSESSED, ziemlich lecker, nicht wahr? Selbstverständlich war die Aufnahme des VOIVOD-Auftritts noch sehr rau und Thrash-lastig, doch dieser charmante Ritt in die Anfangstage der Band offenbart das wilde Gemüt VOIVODs. Alles in allem ist dieser audiovisuelle Teil äußerst gelungen, auch wenn man in Sachen Bild- und Tonqualität natürlich einige Abstriche machen muss.

Die vorletzte Vollbedienung im CD-Format sind die "Dimension Hatröss"-Demos, die das vierte VOIVOD-Album in all seiner ungeschliffenen Schönheit zeigen. Die Demos sind rau, zeigen im direkten Vergleich mit der eigentlichen "Dimension Hatröss"-Veröffentlichung das künstlerisch Wertvolle der Songs wie ungeschliffene Diamanten, die letztendlich durch die superbe Harris-Johns-Produktion auch an Volumen gewinnen. Vor allem 'Tribal Convictions', 'Brain Scan' und 'Chaosmöngers' sind kleine Edelsteine, die in dieser Form auch gut als "Killing Technology"-Boni funktioniert hätten und in Kombination mit dem konzeptionell roten Faden auf "Dimension Hatröss" natürlich unverzichtbar sind.

Die letzte CD im Bunde ist der über einstündige Mitschnitt des "No Speed Limit Weekend"-Auftritts im Oktober 1986 in Montreal, damals vom Fanclub als Demo vertrieben und inzwischen zu horrenden Preisen gehandelt. Dass auch hier VOIVOD der Zeit voraus war, zeigte mit 'Tornado' ein Song, der im Folgejahr auf "Killing Technology" auf CD gebannt wurde. Das Schöne hierbei ist, dass mit der Bandhymne 'Voivod' sowie mit 'Blower', 'Iron Gang', 'Warriors Of Ice' und dem unsterblichen 'Nuclear War' auch allerlei Tracks des "War And Pain"-Debüts Erwähnung finden und man so die Gelegenheit hat, in der gesamten Früh-Diskografie der Kanadier zu stöbern.

Ich fasse zusammen: Die "Forgotten In Space (The Noise Records Years)"-Box ist nicht nur eine exzellente Gelegenheit, eklatante Lücken in der frühen VOIVOD-Diskografie zu schließen und auch auf die einen oder anderen vergessenen Perlen zu stoßen, sondern vor allem die unglaubliche Entwicklung dieser sträflich unterbewerteten Band nachzuvollziehen. In Anbetracht der Tatsache, wie rasant sich VOIVOD binnen weniger Jahre entwickelt und in jedem Jahr einen eigentlich unverzichtbaren Klassiker veröffentlicht hat, dabei aber noch immer genügend Zeit hatte, ein zeitloses Konzept zu erarbeiten, kann man vor den Kanadiern nur den Hut ziehen. "Rrrröööaaarrr", "Killing Technology" und "Dimension Hatröss" demonstrieren eindrucksvoll den Weg einer etwas unorthodoxen, wütenden Thrash-Metal-Band mit einer gewissen Sci-Fi-Sympathie, der mit einer herrlichen Symbiose aus dem Hau-drauf-Metal der Anfangszeit und nicht zu verleugnenden Prog-Elementen bis hin zu jenem "Dimension Hatröss"-Meisterwerk verläuft, das es wie "Nothingface" wiederum nur ein Jahr später schaffte, Thrash, Prog und Sci-Fi-Faszination auf ein neues Level zu hieven. Gemeinsam mit den authentischen Audio-Mitschnitten, dem einen oder anderen audiovisuellen Leckerbissen und den zeitgenössischen Kommentaren im Booklet ist "Forgotten In Space (The Noise Records Years)" eine absolut runde Sache, eine Geschichtsstunde par excellence und eine mehr als üppige, unterhaltsame Reise in das VOIVOD-Universum. Ich wünsche gute Fahrt!

Redakteur:
Marcel Rapp

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