TRAIL OF TEARS: Interview mit Ronny Thorsen

18.12.2006 | 23:02

Fast könnte man es für einen gelungenen Marketing-Gag zum neuen TRAIL OF TEARS-Album "Existentia" halten, denn derzeit steht buchstäblich die Existenz der Norweger auf dem Spiel. Zunächst verkündeten Jonathan Perez (Schlagzeug), Kjell Hagen (Bass), Runar Hansen (Gitarre) und Kjetil Nordhus (Gesang) am 28. November aus heiterem Himmel ihren Weggang und somit das definitive Aus nach zehn Jahren Bandgeschichte. Zwei Tage später meldete sich Ronny Thorsen (Gesang) mit einer Erklärung zu Wort, in der er von einer schlecht gelaufenen Mexiko-Tour berichtete, die große finanzielle Einbußen und demzufolge noch größeren Frust bei allen Beteiligten mit sich brachte und letztendlich zu der Entscheidung der anderen vier Mitglieder führte. Trotzdem zeigt er sich zuversichtlich, dass es mit TRAIL OF TEARS weitergehen wird. Nur wie? Ein Aufklärungsversuch.

Elke:
Ich hätte dieses Interview viel lieber letzten Freitag im Rahmen der X-Mass-Festival-Tour in Berlin geführt, für die ihr als Headliner bestätigt wart. Doch leider haben sich die Dinge ein wenig anders entwickelt, als geplant.

Ronny:
Das ist wohl wahr. Statt hier im verregneten, kalten Norwegen zu sitzen, wäre ich jetzt auch viel lieber auf einer spaßigen Tour und würde unser neues Album den Fans vorstellen.

Elke:
Was genau ist denn überhaupt schief gelaufen?

Ronny:
Wir waren auf einer 10-tägigen Tour in Mexiko und merkten schon sehr bald, dass die Dinge dort nicht so liefen, wie sie laufen sollten. Der Tour-Booker hatte zwar bereits Bands wie AFTER FOREVER und EPICA nach Mexiko geholt, und anfangs sah die Organisation auch sehr gut aus. Dann stellte sich jedoch heraus, dass es praktisch in jedem Detail Probleme gab - all diese kleinen logistischen Dinge verursachten ungeahnte Schwierigkeiten. Zeitpläne wurden nicht eingehalten, Transport und Unterkunft funktionierten nicht vernünftig, es gab technische Schwierigkeiten usw. Rückblickend betrachtet wäre es vermutlich das Vernünftigste gewesen, das Ganze abzublasen, was allerdings quasi am anderen Ende der Welt nicht ganz einfach ist. Auch in Europa haben wir in der Vergangenheit schon Probleme gehabt, aber nicht in diesem Ausmaß. Doch hier steigt man einfach in den nächsten Zug oder das nächste Flugzeug. In Mexiko hätten wir für zwei Wochen ohne irgendeinen Rückhalt festgesessen. Daher hatten wir beschlossen, die Sache durchzuziehen und das Beste daraus zu machen.

Am Tag nach der letzten Show informierten mich schließlich die restlichen Mitglieder, dass sie beschlossen hatten, die Band zu verlassen, und in ihren Augen waren TRAIL OF TEARS somit Geschichte. Trotz all der Schwierigkeiten auf dieser Tour war diese Botschaft ein sehr großer Schock für mich. Nur wenige Tage zuvor hatten wir über kommende Shows gesprochen und Pläne für die Zukunft gemacht. Was mich am meisten schockierte, war die Art, wie dies alles passierte. Denn auch wenn man selbst in Schwierigkeiten steckt, sollte man das nicht auf dem Rücken Unschuldiger austragen. Man muss trotzdem seinen Job machen und seinen Verpflichtungen nachkommen. Denn als Ergebnis dieser Entscheidung wurde die X-Mass-Festival-Tour gestrichen, und die anderen beteiligten Bands sind jetzt nicht gerade gut auf uns zu sprechen, hatten sie doch mit den Einnahmen der Tour gerechnet und sich auf die damit verbundene Promotion gefreut.

Elke:
Denkst du wirklich, dass die X-Mass-Tour nur wegen eurer Absage gestrichen wurde, oder war das nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte?

Ronny:
Offensichtlich gab es dort vorher schon viele Wechsel im Billing, doch soweit ich weiß, stand die Tour fest. Aber da wir die Headliner waren, hatten sie wohl keine andere Wahl, als die Sache abzublasen. Es ist schon schwierig genug, wenn eine Support-Band abspringt, aber plötzlich standen sie nur wenige Tage vor dem ersten Gig ohne Headliner dar und fanden auf die Schnelle keinen Ersatz. Ich habe gehört, dass es für GOREFEST bereits die dritte Tour in diesem Jahr war, die kurzfristig abgesagt wurde, und es tut mir schrecklich leid für die Jungs und natürlich auch für alle anderen involvierten Bands. Wenn ich in ihrer Haut stecken würde, würde ich ausrasten. Ich hoffe, dass ich den Leuten verständlich machen kann, dass dies das letzte war, was ich gewollt hatte, und ich mich nur bei allen Beteiligten entschuldigen kann.

Aber es fällt mir auch sehr schwer, mich für den ganzen Mist verantwortlich zu fühlen, den andere in einem frustrierten Moment verursacht haben. Ich bekomme E-Mails und Anrufe von den verschiedensten Menschen, die an dieser Tour beteiligt waren und von mir wissen wollen, wie das passieren konnte und wie sie jetzt das Geld verdienen sollen, dass sie auf dieser Tour vermutlich eingenommen hätten. Mir hat ein Japaner geschrieben, dass er ein sehr teures Flugticket gekauft hat, für das er jetzt keine Verwendung mehr findet. Das ist alles sehr tragisch, weißt du. Von daher bin ich im Moment vor allem enttäuscht darüber, wie die anderen Jungs gehandelt haben. Wenn man einen harten Tag zu Hause hatte, muss man am nächsten Tag trotzdem arbeiten gehen und kann nicht einfach die Tatsache ignorieren, dass man Verpflichtungen hat.

Elke:
Gerade wenn man euch alle bereits persönlich kennenlernen durfte, fällt es schwer sich vorzustellen, dass ein einziger Auslöser ausgereicht haben soll, damit vier Menschen die Brocken hinschmeißen. Gab es vielleicht in der Vergangenheit kleinere Streitigkeiten, die zu der Entscheidung der anderen beigetragen haben könnten?

Ronny:
Nein, und genau deswegen bin ich auch aus allen Wolken gefallen. Wie ich schon sagte, hatten wir bereits Zukunftspläne geschmiedet. Wir wollten zum Beispiel nach unserer Rückkehr aus Mexiko eine Release-Party in Norwegen veranstalten und hatten auch sonst viele gute Ideen. Die anderen Jungs haben mir niemals signalisiert, dass sie aussteigen wollten. Ich kann jeden verstehen, der die jetzige Situation merkwürdig findet, aber ich kann nur sagen, dass das alles für mich noch viel merkwürdiger klingt.

Elke:
Hast du mit irgendeinem deiner Ex-Mitstreiter inzwischen gesprochen?

Ronny:
Ich bin selbst erst vor zwei Tagen aus Mexiko zurückgekommen und hatte noch keine Zeit, mich mit ihnen zu treffen. Wir müssen uns offensichtlich deswegen nochmals zusammensetzen und verschiedene Dinge besprechen, aber im Moment kann ich dazu noch nichts sagen. Eigentlich hatte ich sogar noch ca. zehn Tage Urlaub in Mexiko geplant, der dann aber ins Wasser fiel. Ich habe die meiste Zeit am Telefon oder online verbracht und mich in Schadensbegrenzung geübt.

Nur wenige Stunden nach unserem Gespräch in Mexiko hatten die anderen ja bereits ihr Statement auf unsere offizielle Homepage gestellt. Auch darüber bin ich sehr enttäuscht, denn von Menschen, die schon seit so vielen Jahren in der Szene sind, erwarte ich ein gewisses Maß an Professionalität. Sie hatten beispielsweise nicht daran gedacht, die Hauptbetroffenen über ihre Entscheidung zu informieren. Unsere Plattenfirma wusste nichts davon, bis sie einen Tipp von jemandem bekamen, der dieses Statement auf unserer Webseite gesehen hatte. Stattdessen sind sie sofort zu Zeitschriften und Fernsehstationen in Norwegen gerannt, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt keinen Internet-Zugang hatte und mich daher auch nicht verteidigen konnte. Die Organisatoren der X-Mass-Tour haben mir eine E-Mail geschickt, was zum Geier da gerade passieren würden, denn sie auch sie hatten keine direkte Information von den Jungs bekommen, sondern erfuhren von es irgendwem, der es zufällig auf Blabbermouth gelesen hatte. Das alles sind schlimme Dinge. Außerdem ist dies eine sehr unrühmliche Art, eine 10-jährige Karriere zu beenden. Sie haben gerade Mal einen Fünfzeiler auf unsere Homepage gestellt, und für sie waren diese fünf Zeilen der Schlusspunkt unter unserer langen Karriere. Anstatt ein Ende in Würde und Stolz anzustreben, haben sie auf zehn Jahre unserer Arbeit gespuckt. Auch darüber bin ich sehr enttäuscht.

Elke:
Du sprichst immer nur darüber, wie enttäuscht du von deinen ehemaligen Kollegen bist. Ich denke, anderer Menschen in deiner Lage würden weniger freundliche Worte benutzen.

Ronny:
Vielleicht, aber das ist ja gerade der Knackpunkt. Wenn die Band aus einer Hand voll Idioten bestanden hätte, fiele es mir sicher leichter, weil ich dann einfach auf sie herabschauen könnte. Aber das ist nicht der Fall, denn diese Menschen habe ich 15 Jahre lang zu meinen besten Freunden gezählt. Ich liebe diese Jungs, und das macht es so schwer zu verstehen, warum sie so gehandelt haben.

Elke:
Siehst du eine auch noch so geringe Chance, dass ihr euch in einigen Wochen oder vielleicht Monaten wieder zusammenraufen könntet?

Ronny:
Wie ich schon in meinem ersten Statement sagte, wird die Band in irgendeiner Form weiterbestehen. Eine Band zu verlassen ist eine persönliche Entscheidung, die ich respektiere. Aber gleichzeitig müssen sie respektieren, wenn jemand diese Band fortführen möchte. Ich versuche, mit offenen Karten zu spielen, und bevor wir nicht noch einmal miteinander gesprochen haben, schließe ich keine Möglichkeit aus. Vielleicht machen wir zumindest mit Teilen der alten Besetzung weiter, vielleicht kommen frühere Mitglieder zurück, vielleicht suche ich mir völlig neue Leute, oder es gibt eine Kombination aus all diesen Varianten. Die Band wird definitiv weitermachen und Alben veröffentlichen, aber im Moment gibt es zu viel bereden und zu klären, um sagen zu können, wie es weitergehen wird.

Elke:
In dem Forum auf eurer Homepage scheinen die Fans darauf zu warten, dass sich irgendjemand der Beteiligten persönlich zu Wort meldet, doch bis auf deine offizielle Erklärung auf der Startseite gab es dort noch nichts zu lesen. Verhältst du dich deswegen ruhig, weil du selbst noch nicht weißt, wie es weitergehen wird?

Ronny:
Ich war bisher der einzige, der überhaupt irgendetwas erklärt hat, denn die anderen haben ja nur ihr kurzes Statement veröffentlicht, dass sie nicht mehr die nötige Motivation hätten weiterzumachen. Im Gegensatz dazu habe ich die Hintergründe ziemlich ausführlich erläutert, oder zumindest meine Version davon. Wenn irgendjemand noch etwas anderes dazu äußern möchte, darf er das gerne tun. Ich denke, dass vielleicht gerade meine subjektive Darstellung der Geschichte die anderen - sofern sie es lesen - vielleicht zu der Erkenntnis bringen könnte, dass das eine sehr dumme Art war, mit der Situation umzugehen.

Elke:
Angesichts der misslichen Lage, wie denkst du über das Album, das ihr in Kürze veröffentlichen werdet? Hast du es dir seit der Mexiko-Tour überhaupt angehört, oder gehört das zu den Dingen, die du gegenwärtig verdrängst?

Ronny:
Das Album ist eigentlich das einzige, woran ich im Moment denke. Meiner Meinung nach haben wir das stärkste Album unserer Karriere abgeliefert, und ich denke, die anderen Jungs werden mir sicher zustimmen. Das macht die ganze Situation aber noch absurder und unglaubwürdiger - eine Band zu verlassen, die nach Ansicht aller in einigen Monaten ihr bestes Album veröffentlichen wird. Ich höre mir die Scheibe eigentlich ständig an, denn ich bin sehr, sehr stolz auf sie. Es ist in gewisser Weise eine Therapie für mich, Interviews zu geben, mir das Album anzuhören und mich darauf zu konzentrieren. Ich möchte diese negativen Erlebnisse so schnell wie möglich hinter mir lassen. Gerade deswegen sind die ganzen Interviews auch so wichtig, weil ich darin erklären kann, was passiert ist. Gleichzeitig liegen die Geschehnissen für mich bereits in der Vergangenheit. Ich schaue lieber optimistisch in die Zukunft und hoffe auf eine gute Wendung. Die Reviews, die ich bisher gelesen habe, waren wunderbar, die Leute scheinen das Album wirklich zu lieben. Das macht es mir auch leichter, mit der Situation umzugehen.

Elke:
Ich nehme an, du hattest nicht erwartet, dass der Titel "Existentia" sich zu einem bösen Omen entwickeln könnte, denn im Moment dreht sich alles um das weitere Bestehen von TRAIL OF TEARS.

Ronny:
(schmunzelt) Du bist nicht die erste, die das anspricht, denn es liegt auf der Hand, den Titel ironisch zu betrachten. Der Titel ist eigentlich eine Zusammenfassung der Texte, die sich mit den verschiedensten Aspekten des Lebens und der menschlichen Existenz befassen, mit allen Höhen und Tiefen. In diesem Zusammenhang passt er natürlich jetzt besser als je zuvor.

Elke:
Das Album wurde in einem Studio in Frankreich aufgenommen, und gemäß dem Studio-Tagebuch auf eurer Homepage hattet ihr dort eine richtig gute Zeit. Arbeitest du lieber im Ausland?

Elke:
Das Album entstand im Soundsuite Studio, und wir haben wieder mit dem Produzenten Terje Refsnes zusammengearbeitet, wie auch schon für das "A New Dimension Of Might"-Album. Bei "Free Fall Into Fear" dachten wir, es wäre eine nette Idee, in unserer Heimatstadt aufzunehmen, weil man zwischendurch Zeit mit seiner Familie verbringen und gleichzeitig kommen und gehen konnte, wie man lustig war. Der Schuss ging aber nach hinten los, denn wir hatten ursprünglich acht Wochen veranschlagt und brauchten letztendlich neun Monate (lacht). Daher wollten wir dieses Mal wieder woanders arbeiten, und ich denke, die meisten Leute werden mir zustimmen, dass man dadurch sehr viel konzentrierter an die Sache herangeht. Wir haben sechs bis sieben Wochen im Soundsuite Studio verbracht, und ich für meinen Teil habe in dieser Zeit einfach alle anderen Dinge meines Lebens auf Eis gelegt. Es ging auch nicht anders, denn mein Leben spielt sich in Norwegen ab und ich war in Frankreich. Dadurch konnte ich mich 100%ig auf das Album konzentrieren, was sich auch positiv auf die Kreativität ausgewirkt hat. Es ist schon etwas angenehmer, einige Sommer-Wochen im Süden Frankreichs zu verbringen als etliche Monate im kalten norwegischen Winter.

Elke:
Es gibt auf diesem Album einige Gast-Beiträge dieser unglaublich guten französische Sängerin, Emmanuelle Zoldan. Wo habt ihr sie aufgetrieben?

Ronny:
Unser Produzent Terje hat uns den Kontakt vermittelt, nachdem er bereits für sein eigenes Projekt mit ihr zusammengearbeitet hatte. Ich glaube, sie hat auch schon mal bei TURISAS ausgeholfen. Terje ist zwar Norweger, aber lebt bereits seit fünf oder sechs Jahren in Frankreich und hat in dieser Zeit zahlreiche Kontakte zu Musikern und Sängern in seiner Wahlheimat aufbauen können. Egal ob man einen Tenor, einen Sopran oder einen Geiger benötigt, er kann es vermitteln. Als wir ihm sagten, dass wir eine Sängerin brauchten, meinte er nur, er habe da genau die Richtige an der Hand. Wir haben dann ein wenig mit ihr geprobt und wollten sie eigentlich gar nicht so häufig einsetzen, wie wir es letztendlich taten. Aber es stellte sich heraus, dass ihre Stimme den Songs bisher gefehlt hatte, und jetzt wirkt sie bei sieben Stücken mit. Ich denke, das Ergebnis ist großartig.

Elke:
Das finde ich auch. Sie scheint alles zu beherrschen, vom Opern-Gesang über Chanson-Anleihen bis hin zu jazzigen Elementen. Ihre Stimme ist einfach wundervoll!

Ronny:
Das sehe ich auch so. Ich denke, wenn die Leute ihre Stimme hören, werden sie verstehen, dass wir den weiblichen Gesang nicht zum reinen Selbstzweck eingesetzt haben. Ihre Stimme passt zur Musik und bereichert sie. So viele Bands verwenden diese identitätslosen Sopranistinnen, daher war es uns wichtig, eine - wie soll ich sagen - entspanntere Sängerin zu haben. An manchen Stellen erinnert mich ihr Gesang an Bands wie PORTISHEAD und MASSIVE ATTACK. Ihre Stimme ist eher kalt und distanziert, aber gleichzeitig stark und abwechslungsreich.

Elke:
Ungeachtet der Tatsache, dass es zurzeit sowieso keine Band gibt, wie würdest du ihren Gesang live umsetzen?

Ronny:
Das sollte kein allzu großes Problem darstellen. Bei einigen Stücken des Albums gibt es zwar viele weibliche Gesangsparts, bei anderen hingegen nur sehr wenige oder gar keine. Wir waren schon immer in der Lage, aus den alten und neuen Songs welche herauszupicken, die ohne Sängerin funktionieren. In der Zukunft jedoch dürfte eine feste Sängerin meiner Meinung nach wieder wichtig für die Band sein, zumindest für Live-Auftritte. Es gibt viele Alternativen, die man künftig in Erwägung ziehen kann, und ich finde das gerade ziemlich aufregend, dass alle Möglichkeiten offen sind.

Elke:
Stünde Emmanuelle denn für Auftritte zur Verfügung?

Ronny:
Wir haben noch nicht direkt mit ihr darüber gesprochen, aber ich weiß, dass sie früher schon live mit anderen Bands aufgetreten ist. Allerdings ist sie keine Metallerin, sie ist überhaupt nicht in der Szene, sondern eher im Jazz oder in der Klassik anzutreffen.

Elke:
Tarja Turunen war auch keine Metallerin, als sie sich NIGHTWISH anschloss - das sollte also kein Hindernis sein.

Ronny:
Stimmt, es kann sogar von Vorteil sein, wenn man Leute mit einem anderen musikalischen Hintergrund involviert und dadurch etwas Neues und Originelles in eine Metal-Band einführt. Ich denke, heutzutage sind viele der sogenannten Sängerinnen in Metal-Bands einfach nur Fans, die gerne in einer Band singen möchten. Das ist vermutlich einer der Gründe, warum diese Art von Musik derart aus dem Boden geschossen ist, weil viele Fans beschlossen haben, selbst zu singen, obwohl sie es eigentlich gar nicht können - Hauptsache sie sind Teil einer Band. Es ist immer gut, Leute zu haben, die die Musik tatsächlich bereichern können. Emmanuelle z. B. hat überhaupt keine Ahnung von Metal und kommt daher erst gar nicht in Versuchung, einfach andere Sängerinnen zu kopieren.

Elke:
Es gibt auch einige Orchester- und Chor-Arrangements auf "Existentia" zu vernehmen. Habt ihr die mit einem echten Orchester aufgenommen?

Ronny:
Nein, haben wir nicht. Aber wir hatten das Glück, mit einem sehr talentierten norwegischen Musiker, Bernt Moen, zusammenzuarbeiten, der bereits für viele, viele große Namen, nicht nur aus dem Metal-Bereich, tätig war, unter anderem für A-HA. Er zeigt sich für die ganzen Streicher-, Klavier- und Chor-Arrangements verantwortlich und hat auch die Keyboards übernommen. Bei den Chor-Passagen haben wir etwas improvisiert. Ein Teil der Gesangsspuren stammt von Emmanuelle, der andere Teil von dem Rest der Band. Wir hatten ursprünglich darüber nachgedacht, einen richtigen Chor zu engagieren, aber haben dann bemerkt, dass es die Songs nicht unbedingt bereichert hätte. Daher haben wir schließlich darauf verzichtet und lieber Emmanuelle stärker eingesetzt als geplant, weil dies die Stücke direkter und natürlicher klingen ließ.

Elke:
Habt ihr auf der Mexiko-Tour bereits einige neue Sachen gespielt?

Ronny:
Ja, wir haben insgesamt vier Songs gespielt, jeweils zwei pro Abend, und zwei davon ließen sich live sehr, sehr gut umsetzen. Es handelt sich um den Opener 'Deceptive Mirrors' sowie den zweiten Track, 'My Comfort'. Auch 'Venom Inside My Veins' kam gut rüber, und wir haben ebenfalls den vierten Song, 'Decadence Becomes Me' ausprobiert. Es ist schade, dass die nächste Tour gecancelt wurde, weil ich gerne noch weitere Stücke getestet hätte. Meiner Meinung schreien die neuen Sachen förmlich danach, live gespielt zu werden.

Elke:
Ich habe kürzlich "Existentia" einigen anderen Leuten vorgespielt, und jemand meinte: "Wow, TRAIL OF TEARS sind ja ganz schön progressiv geworden!" Es gibt so viel zu entdecken auf dem neuen Album. Woher kommt dieser progressive Einschlag?

Ronny:
Das ist schwer zu sagen, weil wir niemals beschlossen haben, progressiver zu werden. Das Wort "progressiv" ist für mich auch ein sehr weitreichendes Wort, denn es kann alles mögliche bedeuten. Eine Band wie DREAM THEATER ist "progressiv", aber es kann auch ausdrücken, dass man die Dinge eben einfach etwas anders macht als üblich. Wir hatten niemals Angst davor, genrefremde Elemente zu verwenden. Wenn ein fast fertiger Song nach einem bestimmten Thema, Teil oder Effekt verlangt und dies zu dem Rest des Songs passt, würden wir niemals sagen "Nee, das können wir nicht machen, weil es zu sehr nach Death Metal klingt" oder "zu poppig" oder was auch immer. Ich denke, durch die Verwendung verschiedenster Elemente innerhalb einer Einheit klingt es manchmal "progressiv". Dieses Mal haben wir uns unter anderem auch darauf konzentriert, die Stücke etwas "einschmeichelnder" zu gestalten. Die Songs selbst sind relativ einfach gestrickt, daher haben wir im Hintergrund hier und da einige Layer oder Effekte drunter gemischt, also mit verschiedenen Klangeffekten gespielt, um die Sache interessanter zu machen. Auch die Produktion hat sicher eine große Rolle gespielt. Hätten wir das Album in einem anderen Studio aufgenommen, würde es möglicherweise völlig anders klingen.

Elke:
Was mir an "Existentia" am meisten gefällt, ist, dass es zwar auf Anhieb ins Ohr geht, aber langfristig viele Details bietet, die man erst beim x-ten Durchlauf wahrnimmt.

Ronny:
Das sehe ich auch so. Es war wie ich schon sagte wichtig, dass das Album leichter zugänglich ist. "Free Fall Into Fear" war ein schizophrenes Chaos von einem Album. Ich liebe es immer noch, aber es passiert einfach zu viel (lacht). Dieses Mal wollten wir eine stärkere musikalische Einheit erschaffen. Jeder Song sollte stark genug sein, um für sich selbst zu stehen, und um das zu erreichen, mussten wir viele kleine Details verwenden, die man nicht auf Anhieb alle wahrnimmt. Somit entdeckt man jedes Mal etwas Neues, und dadurch wird das Album auch langlebiger.

Elke:
Von wem stammt das Artwork?

Ronny:
Von Jan Yrlund, der schon für einige Napalm-Künstler gearbeitet hat. Eigentlich wollten wir Travis Smith dafür haben, aber er war bereits mit zu vielen anderen Projekten beschäftigt. Jan wurde uns von Napalm Records empfohlen und es stellte sich heraus, dass er sogar ein Fan von uns ist. Er machte zig Entwürfe, die alle nicht richtig überzeugen wollten, und am Ende tat er mir ein wenig leid (lacht). Er steckte so viel Arbeit in das Cover, und alle Entwürfe sahen so gut aus, aber passten einfach nicht zum Album. Es war uns sehr wichtig, dieses Mal ein Cover zu haben, hinter dem wir stehen konnten. Es ist kein Geheimnis, dass wir in der Vergangenheit einige Cover hatten, die wirklich nicht zu den besten der Welt zählen. Mit dem Ergebnis sind wir auch sehr zufrieden, es passt sowohl zur Musik als auch zu den Texten.

Elke:
Was stellt das Motiv dar?

Ronny:
Das Symbol versinnbildlicht eine Träne, die natürlich eine Verbindung zum Bandnamen herstellt. Im Hintergrund sieht man so etwas wie mächtige, rote Flammen, die das Leben bzw. die Existenz darstellen sollen, was den Bezug zum Titel bildet.

Elke:
Ist es angesichts der ungewissen Zukunft von TRAIL OF TEARS schwieriger als sonst, das Album zu bewerben, oder bekommt du im Gegenteil sogar mehr Interview-Anfragen als früher?

Ronny:
Wir bekamen nie zuvor mehr Feedback als zu diesem Album. Zweifellos hat das viel damit zu tun, was passiert ist, aber ich hoffe, das Album spielt auch eine kleine Rolle (lacht). Wie ich schon sagte bin ich unglaublich stolz darauf, und Interviews zu geben ist im Moment genau das Richtige für mich. Es hält mich auf Trab und bringt mich auf andere Gedanken, und außerdem möchte ich natürlich dieses meiner Meinung nach großartige Album bewerben. Zu Hause rumhängen und über die Welt sinnieren wäre derzeit katastrophal für mich. Außerdem kann ich so beweisen, dass die Band für mich nicht gestorben ist, denn wenn es so wäre, hätte ich ja kaum Interesse, Interviews zu geben. Natürlich möchte ich auch mehr als 200 Exemplare von diesem tollen Album verkaufen, was aber kaum möglich wäre, wenn ich mich nicht zu den Geschehnissen äußern würde. Und so lange sonst keiner darüber reden will, betrachte ich es erst recht als meine Verpflichtung.

Elke:
Was sagt denn eigentlich eure Plattenfirma zu der gegenwärtigen Situation? Machen sie sich Sorgen?

Ronny:
Ich denke, sie haben sich größere Sorgen gemacht, als vier Leute an die Öffentlichkeit gingen und behaupteten, etwas sei zu Ende, was nicht zu Ende war. Ich kann natürlich nicht im Namen des Labels sprechen, darüber müssen die sich Gedanken machen. Aber wenn ich mich in ihre Lage zu versetzen versuche ... Wenn ich eine Plattenfirma hätte und in Kürze ein Album veröffentlichen würde, in das ich gerade viele tausend Euro investiert habe, und die betreffende Band zwei Monate vor dessen Veröffentlichung einen fünfzeilige Botschaft in die Weltgeschichte setzen würde, dass alles vorbei sei, wäre ich ziemlich verärgert und würde die Combo möglicherweise zum Teufel wünschen. Aber das ist nur meine Meinung. Ich denke jedoch, dass sie jetzt, wo sie wissen, dass ich die Band weiterführen werde, die Sache vielleicht etwas gelassener sehen.

Elke:
Wann denkst du wirst du soweit sein, konkrete Zukunftspläne für TRAIL OF TEARS präsentieren zu können?

Ronny:
Eine Antwort wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt spekulativ. Wenn es ein neues Line-Up gibt, werden wir das bekannt geben. Es ist leicht zu sagen, dass man weitermachen will, aber ich bin mir bewusst, dass dem ein längerer Prozess folgen könnte, bis wir wieder startklar sind. Aber ich bin mir sicher, dass ihr nächstes Jahr TRAIL OF TEARS live sehen werdet - früher oder später.

Elke:
Ich finde es bewundernswert, dass du so optimistisch denkst.

Ronny:
Was soll ich auch sonst machen? Das Ende der Band würde nicht den Untergang der Welt bedeuten. Wir kommen gerade zurück aus Mexiko, und dort sieht man viele Dinge, die einen das eigene Leben in einer anderen Perspektive erscheinen lassen. Wir Norweger sind Weltmeister im Jammern, aber wenn man am anderen Ende der Welt feststellt, wie wenig diese Menschen zum Leben haben, begreift man, wie viel Glück man eigentlich hat. Ich lasse mich nicht unterkriegen, sondern versuche, aus den sich mir bietenden Möglichkeiten das Beste zu machen.

Redakteur:
Elke Huber

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