Porträt aus der Szene: Andi Gutjahr

12.01.2010 | 11:32

In unregelmäßigen Abständen haben wir in der Reihe "Leserporträts aus der Szene" Menschen vorgestellt, die sich der Metalszene zugehörig fühlen und haben aufgezeigt, was in ihrem Leben jenseits der Vorliebe zur Musik der härteren Gangart noch von Bedeutung ist. Das aktuelle Porträt zeigt nunmehr einen Frankfurter Metalhead, der selbst Musiker ist und für die Fans des Thrash Metals durchaus kein Unbekannter sein dürfte.

Zwei Tage vor Heiligabend treffe ich auf der Südseite des Eisernen Stegs in Frankfurt am Main ein 'Sachsenhäuser' Urgestein. Als solches jedenfalls möchte mein Gesprächspartner Andreas 'Andi' Gutjahr lieber gesehen werden, denn als schlichtes 'Frankfurter' Urgestein. Der Metalfan an und für sich dürfte mit dem Namen Andi Gutjahr dementsprechend in erster Linie auch die Frankfurter Thrash-Metal-Band TANKARD verbinden, bei der Andi seit 1998 den Posten des Gitarristen besetzt.
TANKARD steht allerdings heute nicht allein im Mittelpunkt meines Gespräches mit Andi, vielmehr möchte ich wissen, was den 38-jährigen Musiker neben seiner Identität als Metalhead noch ausmacht.
Als Schauplatz für unser Gespräch hat Andi eine originale Eppelwoi-Kneipe in Sachsenhausen ausgesucht, in der er sich - wie er mir verrät - regelmäßig mit alten Freunden trifft. Die Verwurzelung im Stadtteil und die Einbindung in einen langjährigen Freundeskreis aus frühen Tagen sind Teil eines identitätsstiftenden Netzwerkes, auf das Andi viel Wert legt. Sein Leben hat sich stark verändert, seit er vor knapp zwei Jahren Vater von Zwillingen geworden ist.
"Wenn ich früher gedacht habe, ich bräuchte unbedingt acht Stunden Schlaf, dann bin ich heute nach sechs Stunden schon ausgeschlafen", lacht der sympathische junge Vater und räumt ein, dass ein Leben mit Kindern alles bisherige auf den Kopf stellt. Die Geburt der Zwillinge haben Andi und seine Frau darüber hinaus als Grenzsituation erleben müssen. Weil die Kleinen vier Monate zu früh auf die Welt gekommen sind, waren die ersten Lebensmonate für Ärzte und Eltern ein zähes Ringen um das Überleben der Kinder. An die Auseinandersetzung mit der Frage, ob vielleicht nur eines der Kinder überlebt, erinnert sich Andi als große psychische Belastung.
Inzwischen haben die Zwillinge aber den schwierigen Start weitgehend ausgeglichen und halten ihre Eltern offenbar in gleicher Weise auf Trab, wie dies in vielen Familien der Fall ist. Die Folge: Insbesondere die Zeit wird knapp. Neben dem Hauptberuf als Elektrotechnik-Ingenieur hat Andi neben der Familie tatsächlich kaum noch Zeit für andere Hobbys als die Musik. Außer vielleicht für Fußball. "Ich hab 'ne Dauerkarte für die Eintracht", grinst er, "aber regelmäßig nutzen kann ich die nicht".

Und so kommen wir natürlich doch zwangsläufig auf das Thema Musik und die Metalszene zu sprechen, welche zu beleuchten ja der Impuls für diese Porträtreihe ist. Mit dem Begriff 'Metalszene' kann Andi, der sich im Verlaufe des Gespräches als Old-School-Metal- und zuweilen auch Hard-Rock-Fan outet, sich durchaus identifizieren und sieht sich als Teil dessen.
"Ich finde es gut,  wie die Szene sich entwickelt hat. Vor 15 Jahren gab es ja noch ein deutlicheres Gegeneinander der unterschiedlichen Stilrichtungen. Das hat sich heute eher aufgelöst."
Die Entwicklung der Szene kann Andi, selbst regelmäßig noch auf Festivals wie dem Balinger BANG YOUR HEAD auch als Zuschauer zugegen, aufgrund der eigenen Erfahrungen schon seit über zwanzig Jahren beurteilen. Inspiriert durch erste entflammende Schallplatten der SCORPIONS, von IRON MAIDEN und METALLICA hat er sich als Teenie mit dem Notenmaterial des älteren Bruders das Gitarrenspiel selbst beigebracht, während sein Bruder mühsam im Unterricht schwitzte.
Dennoch hat auch Andi später professionellen Unterricht bis hin zur klassischen Gitarrenliteratur und Schulungen in Gehörbildung genossen. Und diese Fähigkeiten kommen dem Saitenkünstler nicht nur bei TANKARD zugute, sondern auch bei diversen anderen Bandprojekten. Eines davon, mit dem Andi die ersten ambitionierteren Erfahrungen gesammelt hat, ist LIGHTMARE, das auf dem offiziellen Myspace-Bandprofil unter der Kategorie 'Metal/Christian' geführt wird. Ich frage nach, wie es sich damit verhält.
Tatsächlich war Andi zwar vor mehr als zehn Jahren einmal Mitglied in einem christlichen Metalclub, als christlichen Metal oder gar White Metal will er LIGHTMARE aber dennoch nicht verstanden wissen.


Mich interessiert natürlich, was den Gitarristen von TANKARD mit einer christlichen Orientierung verbindet. Schnell stellt sich heraus, dass auch hier Prägungen früherer Jahre eine Rolle spielen. So hat Andi eine klassisch evangelische Gemeindesozialisation durchlaufen: Kindergottesdienst, Kinderkirchenchor, Jungschar und später Jugendarbeit im Evangelischen Jugendwerk 'ejw' in Frankfurt.
"Ich bin heute kein Kirchgänger, tauche eher nur Weihnachten und Ostern mal im Gottesdienst auf", berichtet Andi, "aber ich finde kirchliche Jugendarbeit wichtig und will auch meinen Kindern diese Erfahrung zumindest anbieten."
Auch hier spielt der Ortsbezug in Sachsenhausen eine Rolle, denn Andi und seine Frau haben sich entschieden, die Zwillinge in der inzwischen fusionierten Gemeinde durch jenen Pfarrer taufen zu lassen, der Andi selbst konfirmiert hat.
"Der Pfarrer wollte wissen, wie viele Leute denn so zum Taufgottesdienst kommen würden", erinnert sich Andi schmunzelnd, "geplant waren um die dreißig. Schließlich saßen aber siebzig in der Kirche, die doppelt so voll war wie im normalen Sonntagsgottesdienst. Und alles so komische Leute mit langen Haaren."

Für kirchliche Jugendarbeit im Ehrenamt hat Andi augenblicklich keine Zeit mehr. Inzwischen spielt er mit TANKARD bis zu 30 Konzerte im Jahr und spendiert dafür fast seinen kompletten Jahresurlaub. Ein Spagat zwischen den eigenen  Bedürfnissen und denen seiner Familie, der sicherlich nur deshalb funktioniert, weil Andis Frau weiß, dass er den Metal als Ausgleich zum bürgerlichen Beruf braucht.
Dass sein Engagement mit TANKARD inzwischen auch die Familienkasse aufbessert, ist dabei ein angenehmer Nebeneffekt. Ebenso angenehm ist aber, dass die Konzertgagen weder bei Andi noch bei den übrigen Bandmitgliedern allein den Lebensunterhalt sichern müssen. So bleibt das Bandleben entspannt und frei von leidigen Finanzdiskussionen und ermöglicht den TANKARD-Jungs auch privat ein enges freundschaftliches Verhältnis.
"Two faces", nennt Andi seinen Lebensstil, der sich zusammensetzt einerseits aus der Teilhabe am Musikbusiness mit dem dazugehörigen Leben im Tourbus, verrückten Konzerten, CD- und DVD-Produktionen, andererseits aus solidem Berufsalltag und bürgerlichem Familienleben.



Und vielleicht ist der Sachsenhäuser damit sogar ein typischer Vertreter der Metalszene, in der sich so oft Menschen finden, die nicht das dauerhafte Aussteigerdasein suchen, sondern sich als Teil der Gesamtgesellschaft begreifen, sich mit der Zugehörigkeit zur Metalszene aber eine Nische erhalten, in der zumindest zeitweise ausgebrochen werden kann aus dem Alltag von Arbeitswelt und Pflichtprogramm. Und so empfindet Andi die bürgerlichen Aspekte seines Lebens auch durchaus nicht als Nachteil.
"Wenn ich sonntagmorgens im Garten meines Reihenhauses sitze und mit meinen Kindern spiele, rechts und links die Nachbarn drum herum", resümiert er, "dann könnte jemand, der von draußen herein schaut schon denken, was ist das denn für'n Spießer!"
Aber letztlich sind derartige Etikettierungen für Andi heute nicht mehr wichtig. Und zuweilen überschneidet sich auch das bürgerliche Private mit dem Musikerdasein auf amüsante Weise. So hat Andi mit Familie im Sommer erstmals mit befreundeten Elternpaaren samt Nachwuchs in einer Ferienhaussiedlung Urlaub gemacht. Er berichtet: "Dort haben wir ein Pärchen aus Ludwigsburg kennengelernt. Die Frau stand total auf TANKARD". Erkannt hat sie Andi nicht, aber er hat es sich nicht nehmen lassen, sich zu erkennen zu geben und sie zum nächsten TANKARD-Konzert in der Rockfabrik einzuladen, in der sie tatsächlich begleitet von zehn Freunden aufgetaucht ist.

Aktuell beschäftigt Andi allerdings wie so viele in Zeiten der Wirtschaftskrise die Stellensuche. Bei seinem letzten Arbeitgeber hat ihn jüngst eine betriebsbedingte Kündigung ereilt. Dennoch zeigt er sich optimistisch, bald wieder in Lohn und Brot zu stehen. Bleibt zu hoffen, dass der Gitarrist schnell wieder einen Arbeitgeber findet, der seinem musikalischen Standbein ebenso aufgeschlossen gegenüber steht, wie der bisherige.

Redakteur:
Erika Becker

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