Perlen der Redaktion: Rüdiger Stehles Highlights 2022

12.06.2023 | 14:49

Eine späte Rückschau auf das (längst) vergangene alte Jahr.

Spät ist es geworden und allzu lange hat es gedauert, dass ich euch diese kleine Retrospektive auf mein metallisches Jahr 2022 unterbreiten kann, denn irgendwie ist ob der weltpolitischen Ereignisse die Muße zum ausgiebigen Musikhören teilweise auf der Strecke geblieben, und so erforderte die für mich schlüssige Einordnung des Gehörten einiges mehr an Nacharbeit und Rekapitulation als je zuvor. Dann hatten wir zudem bei den Stahlwerken Weihungstal unser erstes eigenes Metal-Festival zu organisieren, weshalb auch dieser Einsatz an der Livefront das heimische Hirnen über Bestenlisten in den Hintergrund treten ließ. An Silvester 2022 war mir daher beispielsweise noch völlig unklar, welches denn nun meine Alben des Jahres sein könnten. Ein halbes Jahr ist seither ins Land gezogen, und mittlerweile habe ich einiges nachgekauft, wofür 2022 keine Zeit war, und noch vieles mehr ein weiteres Mal in die Anlage und auf den Prüfstand gebracht.

Das Fazit der Rückschau ist nun, dass 2022 aus meiner Sicht durchaus ein gutes Jahr war, für den Stahl, den wir alle lieben, denn viele alte Helden konnten uns durchaus ansehnliche und wichtiger noch, anhörbare neue Alben kredenzen. So fallen mir mit als erstes tatsächlich die guten alten SCORPIONS ein, die mit "Rock Believer" eine Frische und Härte zu Tage förderten, die man den Herren nach der gefühlt drölften Abschiedstour und einigen doch eher hüftsteifen Scheiben gar nicht mehr zugetraut hätte. Auf die nächste, mag man sagen! Auch BLIND GUARDIAN kann überraschen, scheint doch nach vielen Jahren endlich mal die Weiche auch wieder gen etwas weniger Bombast umgestellt worden zu sein. "The God Machine" ist deutlich weniger orchestral und überladen, und dafür wieder härter und straighter arrangiert, als sich die Band seit vielen Jahren präsentierte. Hat was, mag man sagen. Auch Dirkschneiders Udo fällt mir ein, der mit "My Way" den Sinatra des Teutonenstahls gab: Ein schnödes Coveralbum? Mitnichten, Freunde! Das Ding hat wirklich Charme und Seele, und es verrät so viel über die musikalischen Wurzeln von Udo, ACCEPT und U.D.O., dass es eine wahre Freude ist, dieser autobiographischen Retrospektive zu lauschen. VENOM INC. hat es mir einmal mehr sehr angetan, sowohl live als auch mit dem Zweitwerk "There's Only Black", weil Mantas und der Demolition Man einfach unfassbar cool sind.

Bei anderen Veteranen ist der Überraschungseffekt überschaubar, bürgen sie doch für Qualität in Serie, ohne sich dabei stilistisch neu zu erfinden. SAXON, PRAYING MANTIS, VOIVOD, TOKYO BLADE, AVATARIUM, HAMMERFALL, KILLERS, DARK FUNERAL, SATAN, DESTRUCTION, MÅNEGARM, EREB ALTOR, KREATOR, RAGE, TED NUGENT, ANVIL, TANKARD, GRAVE DIGGER, GWAR, CANDLEMASS, BURNING STARR, sie alle lieferten anno 2022 hervorragend ab, allerdings ohne allzu große Überraschungen, so dass die meisten ihrer Fans - yours truly eingeschlossen - nicht viel zu meckern haben, aber auch nicht unbedingt von epochalen Meisterwerken schwärmen werden. Wobei die VOIVOD und die PRAYING MANTIS so weit weg davon auch nicht sind. Aber hier ist die hohe Qualität einfach schon Routine. Schade irgendwie. Nach all den Jahren und tollen Alben möchte ich nun aber so langsam auch mal die Ostalb-Sludge-Squad UNDERTOW bei den "Großen Alten" einreihen, und die servierte uns mit "Bipolar" letztes Jahr einen echten Volltreffer, der ohne Zweifel zu ihren besten Alben gehört.

Richtig große Freude, schon der positiven Überraschungen wegen, bereiteten mir zudem diverse Comebacks größerer und kleinerer alter Helden, wobei allen voran die neue EP von VIO-LENCE einschlug wie eine Bombe. Was für ein tolles Gerät der Band um den offenbar wieder so weit genesenen Sean Killian. Alle Daumen hoch dafür! Ein weiteres reanimiertes Thrash-Kommando, das ordentlich aufgeräumt hat, ist das britische Geschwader von XENTRIX, das kanadische Old-School-Inferno von RAZOR und das Prog-Thrash-Wunder TOXIK aus New York. Auch die wirkliche Veteranengilde ließ sich wieder mit bärenstarken neuen Alben an vorderster Front blicken, etwa die NWoBHM-Legenden QUARTZ und CLOVEN HOOF, US-Metal-Ikone LEATHER oder die kanadischen 80er-Metaller SWORD. Die neue SATAN'S HOST hat mich dagegen nach all den Jahren des Wartens ein kleines bisschen unterwältigt. Immer noch grundsolide bis stark, aber man gleitet knapp unter der vielleicht selbst zu hoch gelegten Messlatte hindurch, während dafür die Rückkehr von MORRIGAN in einer finnischen Inkarnation mit "Anwynn" alle Erwartungen übertrifft. Dann wäre da noch DAMN THE MACHINE, auch wenn das präsentierte Material an sich recht alt ist, so ist "The Last Man" doch ein zweites Wunderwerk, das sich gleichberechtigt neben den selbstbetitelten alten Klassiker gesellt. Eine ebenfalls progressive und herzlich willkommene Rückkehr gibt es zudem von CONCEPTION mit Roy Khan.

Heißen neueren Stoff gab es auch, und zwar durchaus prominent platziert in meinen Jahrescharts, denn 2022 sind mir so einige junge Bands über den Weg gelaufen, die es wirklich wissen wollen. Unter anderem konnte mich der Newcomer FIREPHOENIX sowohl live als auch auf dem selbst produzierten Debütalbum auf ganzer Linie mit tollen Hooks und Melodien überzeugen, daneben das polnische Trio OVER THE UNDER mit seiner so groovenden wie charismatischen Mischung aus Louisiana Sludge, Stoner Doom und Thrash, sowie die fiese britische Thrash-Kante von RIPTIDE. Dazu kommen die Gothic-Hoffnungsträger ASKARA aus der Schweiz mit ihrem Zweitlingswerk "Lights Of Night", die italienischen High-Octane-Truemetaller WITCHUNTER mit "Metal Dream" und natürlich die griechischen Doomokraten DOOMOCRACY mit ihrem Drittwerk "Unorthodox", die sich allesamt nicht lumpen lassen und es ohne Weiteres mit den etablierten Größen ihrer Stilrichtungen aufnehmen können. Auch Hamburgs Doom-Puristen B.S.T. haben mit "Herbst" ein packendes Album eingetütet. Doom auf die garstig-tödliche Art gibt es aus Brandenburg von ROST & BORKE. Dem Fass die sprichwörtliche Krone ins Gesicht schlagen allerdings die Karlsruher Speedster SPITFIRE, die mit Witches' Brew Records im Rücken ihr großartiges neues Album "Nightmares" in die Umlaufbahn geschossen haben, das die Jungs definitiv auf ein neues Level hebt und damit unterm Strich auch als mein persönliches Album des Jahres durchgeht.

Und was ist in Norwegen so los gewesen, fragt sich der eine oder andere bestimmt, und natürlich war auch meine persönliche Lieblingsszene wieder ziemlich aktiv, und - wie nicht anders zu erwarten - meist recht treffsicher auf meinen Geschmack gerichtet. Besonders erwähnenswert ist zunächst das Solo-Comeback von ex-Ulverist HAAVARD, der mit seinem Debütalbum an "Kveldssanger", die legendäre Akustikscheibe seiner alten Band, anknüpft. Die Veteranen KAMPFAR, DARKTHRONE, KHOLD, IN THE WOODS... und ABBATH liefern grundsolide ab, ohne die schwarzmetallische Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern, während es von anderen Veteranen, namentlich von MORTEM, einen hübschen Re-Release des Klassikers "Slow Death" gibt, der sowohl die Originalversion als auch eine stark in Richtung ARCTURUS lugende Neueinspielung gibt. Ein spannendes Ding. Verlassen wir die klassischen Epizentren norwegischer Schwarzkunst und fahren von Oslo und Bergen gen Norden, dann passieren wir naturgemäß erst einmal Trondheim, denn auch die Nidaros-Szene ließ sich anno 2022 nicht lumpen und hat uns mit "Redemptio", dem Full-Length-Debüt von FUNERAL HARVEST ein echtes Pfund beschert, das noch weiter nördlich, namentlich in Bodø allerdings nochmals getoppt wird, und zwar von SKAURs Drittling "Reis Te Haelvete".

Weitere Jahreshighlights aus der schwarzen Zunft wurden mir von WATAIN und von DRUDKH beschert, wobei die erstere einfach ein Fest schwarzmetallischer Hymnen ist und die Zweite in ihrer nachdenklichen Düsternis und Lyrik eindringlich an die triste Lage in der ukrainischen Heimat der Band erinnert, und mir den Moment ins Gedächtnis ruft, als mich einen Monat nach Kriegsbeginn ein Päckchen mit einer CD aus dem völlig zerbombten Kharkiv erreichte, das einen Tag nach dem russischen Angriff abgestempelt ist. Schlimme Zeiten, mit kleinen, ergreifenden Lichtblicken. Als aus dem Black Metal stammende Band sui generis ziehen die Japaner von SIGH einmal mehr alle Register ihres bizarren Könnens, und die Isländer MISÞYRMING zaubern eine bestechende, dräuende Atmosphäre der ganz besonderen Art. In Sachen Black-Metal-Newcomer konnte mich die DISSECTION-Verneigung von MOONLIGHT SORCERY möglicherweise noch mehr begeistern als die aktuelle von THULCANDRA, vielleicht auch, weil sie nicht ganz so offensichtlich ist.

P.S.:
Wer sich fragt, wer der Typ auf dem Photo ist: Das bin ich, vor 22 Jahren auf meinem ersten "Bang Your Head!". Aus gegebenem Anlass. Farewell, BYH! Es war eine feine Zeit.


Rang

Band Album
1. SPITFIRE Nightmares
2. VOIVOD Synchro Anarchy
3. WATAIN Agony & Ecstasy Of Watain, The
4. SIGH Shiki
5. VIO-LENCE Let The World Burn
6. DESTRUCTION Diabolical
7. DARKTHRONE Astral Fortress
8. UNDERTOW Bipolar
9. KHOLD Svartsyn
10. DARK FUNERAL We Are The Apocalypse
11. KAMPFAR Til Klovers Takt
12. TOXIK Dis Morta
13. CANDLEMASS Sweet Evil Sun
14. PRAYING MANTIS Katharsis
15. UDO DIRKSCHNEIDER My Way
16. VENOM INC. There's Only Black
17. FIREPHOENIX Firephoenix
18. MORRIGAN Anwynn
19. DRUDKH Vsi Nalezhatj Notshi
20. TANKARD Pavlov's Dawgs

Redakteur:
Rüdiger Stehle
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