Perlen der Redaktion: Mathias Freieslebens Highlights 2019

21.01.2020 | 11:25

Ich stelle fest für die letzten Monate: Doom und Hardcore und alles dazwischen. Aber hauptsächlich die Ränder. Gern auch ohne Gesinge, das ist sowieso überbewertet. So, jetzt hab ich es endlich auch mal gesagt.

Wie eigentlich jedes Jahr: Es fällt mir schwer, diesem schönspannenden Format gerecht zu werden. Ich höre Musik immer schon, um Stimmungen zu erfahren, mich mitreißen und einfangen zu lassen. Da ist mir das Genre egal, Intensität oder Zartheit muss es haben, das Teil. Wie mein alter Kumpel Oppi an einem dieser Versacker-Sternburg-Abende in der WG vor Jahren herübermaunzte: "Seele musses ham!". Oppi war großer Death-Metal- und Black-Metal-Experte und ist es wahrscheinlich immer noch. Wir verstanden uns sofort, als Celli ihn mit in die Studentenbutze anschleppte. Wir saßen und qualmten in der Küche, klatschten ab, weil wir BENEDICTION, DISMEMBER und BOLT THROWER vergötterten, aber spielten uns auch Songwriterzeug oder Jugendsünden vor. Wenn die Nudeln fertig waren, zogen wir uns Material der Neunziger rein, Stoner, Punk, Pop, alles ging.

Wir hatten tolle Momente und mussten am nächsten Tag nachdenken und nachfragen, was oder wen wir da gestern eigentlich gehört hatten. Nicht, weil wir benebelt waren, sondern weil es einfach in die Situation gepasst hatte. Und zu Oppi und mir. Ich nenne das heute immer noch: die Oppi-Situation.

So geht es mir auch heute noch. Ich habe keinen Kontakt mehr zu Oppi, aber habe ihn mitgenommen. Bei der Riesenflut, die dieser tolle Musikkosmos absondert, finde ich es unmöglich, mich in einem Zeitabschnitt von zwölf abgezählten Monaten auf "DAS ALBUM" oder "DEN SONG DES JAHRES" festzulegen. Viel zu oft flutschen alte Kamellen aus den Vorjahren und Vorjahrzehnten dazwischen. Wild klickend oder auch sanft streamend habe ich viele der wenigen freien Abende, die ich mit vollem Elan begehen konnte, begangen, bis ich bemerkte, wie spät es eigentlich geworden war. Nicht selten wachte ich davon auf, dass der Ausschaltautomatismus des Endgerätes einen Klick machte, es schepperte im Kopfhörer, die Bandcampseite von eben war verstummt und ich fand mich in den Morgenstunden wieder, um mich tranig, aber glücklich, in mein offizielles Bett hinüberzuquälen.

Dieses Gefühl will und werde ich nicht missen, auch im neuen Jahrzehnt. Meine Nacht, mein Blues, mein Doom.

Aufgefallen ist mir an mir selbst meine alteingesessene, erlernte "Albumschwäche". Ich kann keine (bis verschwindend wenige) Alben wirklich aufmerksam durchhören. Thema TOOL, nach dem ganzen Medien-Terz: Neee, nicht mit mir! Zwei Mal nachts, einmal im Auto. Beeindruckend, aber wiederholt. Wiederholung, da haben wir das Ausschlusskriterium für meine Alben des Jahres: "160" von BLCKWVS und NÉANDER mit dem gleichnamigen Debüt. Beide ähnlichen Stils, beide deutsche Bands, beide verehrungswürdig, vor allem BLCKWVS, denen ich schon sehr lange Zeit innerlich sehr verbunden bin. Die sind bei mir sogar Klingelton.

MF

Beide Alben, instrumental gestaltet, rau und schönst, zart und spröde, sind mir in das Bewusstsein gekrochen und haben den Wettlauf um die meiste Aufmerksamkeit ganz, ganz schnell gewonnen. Beide sind früh im Jahre 2019 erschienen bzw. waren schon irgendwo vorveröffentlicht. BLCKWVS waren sogar so tolldreist, die Stücke einmal als reine Instrumentals und parallel als von Gastsängerinnen und Gastsängern besungene Stücke zu veröffentlichen. Beeindruckendes Projekt, mit gaaanz viel Vorlauf, wie zwei der Musiker im Interview im Stahlwerk im Fritz Radio anführten. NÉANDER konnte ich dann im November endlich mal im Archiv in Potsdam erleben. Und da war sie schnell wieder da, diese Euphorie, die ich für diese Musik hege und erwecken will.

So, dann suchen wir mal Übergänge, Zusammenhänge. Genau wie NÈANDER stammen auch DXBXSX und D'ANGEROUS aus Berlin. Die einen meine Lieblingsmotzekiezstonerpunker, die anderen mit gestandenden Musikern der deutschen Rockszene (Olli Wong und Jens Freudenberg) und einem neuseeländischen Sänger, der mich auf dem Sektor der Rockröhren 2019 am meisten überzeugt hat. Auch live. Präsenz deluxe. Daher rückt die Band auch ganz weit auf und meine Mitpfeifgarantie ist ihr sicher.

Zweiter Ersteindruck: skandinavischer Hardcore. Oder besser: die Mixtur, die Rock, Metal, Hardcore irgendwie miteinander verschraubt. KVELERTAK ist da so ein Vorreiter, hörte ich, aber das ermüdet mich schnell, auf Dauer. SIBIIR und NYT LIV sind Begleiter gewesen; kurze, knarzende Riffsalven, die von versierten Corevokalisten bepeitscht wurden. Euphorie fördernd, vor allem bei Haushaltsarbeiten. Apropos KVELERTAK: TEMPEL ist die Nebenband des Drummers dieser Norweger, der mit zwei seiner Brüder und einem Freund ein tolles Album eingekloppt hat. Daran hatte ich sehr viel Spaß.

Und wieder ein Übergang. Norwegen, nein, wir erweitern: Skandinavien. SAVER - Norweger mit abgehangenem, durchgekühltem Triosludge. Wie ich das liebe! Die Schweden THE MOTH GATHERER mit einem Monument von einem Song, nämlich 'The Drone Kingdom'. Erhaben und toll bebildert. Für mich steht das Stück (ganz unten unter diesem Text) exemplarisch für 2019: Die Welt in schwarz-weiß, doch trotzdem schön, die Natur erhaben, wie sie ist, und doch gibt es das ständige Gefühl der Bedrohung. Keine Menschen im Video, als brauche die bald karge Erde uns gar nicht. Verpackt in einem Riff, bei dem sich Gänsehaut einstellt. Viel bekloppter, viel schneller, viel drusiger, weil nur als Duo unterwegs: GABESTOK - zwei Dänen, die ich unbedingt mal live sehen muss. Nebenbei die Wiederholung der These: Duos an die Macht! MANTAR, BLACK COBRA, DYSE, die auch Dänen FOSSILS und eben GABESTOK. Intensiv und immer ein Erlebnis!

Belgien: STAKE, THE PROGERIANS. Anderser geht es gar nicht. STAKE im wilden Mix der Musikentdecker: Hardcore, Pop und Metal. THE PROGERIANS im Vergleich zu den Anfangzwanzigern: bebärtete Doomsludger mit einem starken Album, viel Stimmung, viel Einfachheit, daher die Stimmung.

Australien: KING GIZZARD AND THE LIZARD WIZARD - produktiv, verrückt, vielseitig, Metal-Album. Zack, einfach so. Verstörende Videos. HOPE DRONE: Black Metal ist geliebt, ist innovativ, ist intensiv, ist so langsam meins geworden. Hätte ich nie erwartet. Ich las letztens in einem Forumsbeitrag, dass der Schreiber BM als das innovativste Genre mit dem größten Entwicklungspotenzial empfindet, darüber hätte ich vor zwei, drei Jahren noch gelacht. Aber nun... MAYHEM gewinnt holzhaushoch unseren Soundcheck [und Jahres-Redaktionspoll - Anm. d. Red.], eine Bezeichnung wie Black Gaze ist für immer mehr Musikliebhaber ein fester und nachvollziehbarer Begriff geworden. Neapels NAGA und auch ALCEST haben es in meine Liste geschafft. NAGA im Sludge-Black-Metal-Gewand, ALCEST in erfreulich bewährter Manier zwischen Melodie und Metal. 'Sapphire' hat sich an vielen Tagen 2019 als Begleiter erwiesen.

Ich muss das alles mal zusammenzufassen. Ein ganz anderes 2019 als 2018. Und das ist mir so beim Zusammensuchen und Zusammenschreiben wie Leuchtkreide im Schwarzlicht aufgefallen: Mein 2019 war dominiert vom Sludge, vom skandinavischen Hardcore, vom Post Metal oder Post Rock - oder wie auch immer man das nennen mag. Aber überall steckt er drin: der Doom, der Blues, der Doom. 2019 war musikalisch melancholisch, musikkulturell eigentlich für mich sehr breit gefächert, aber ich habe mich in "meinem" Genre wiedergefunden. Nicht die dreitausendste lila Retro-Band hat mich getriggert - "The Crash of Genres" ist, was ich erwarte.

Für 2020 wünsche ich mir wieder mehr packenden Psychedelic, mehr Überraschungen im Indie Rock, dass sich SONIC YOUTH wiedervereinen, einige Musiker ihr Alter annnehmen und einfach aufhören und ich nehme mir vor, traditionellem Thrash und Speed Metal eine Chance mehr zu geben. Wenn sie offen sind für jeden erdenklichen weiteren Einfluss. Und mag er anfangs noch so abstrus erscheinen. Gerade diese Offenheit und dieser Mut ist, was mich auf 2020 freuen lässt.

Hier Begleiter-Alben des Jahres 2019. Stellt keine feste Reihenfolge dar. Mit einem Klick auf den Albumnamen gelangt ihr - soweit vorhanden - zur Rezension. Andernfalls führt euch der Link direkt zur Musik.

Band Album
BLCKWVS 160
NÉANDER Néander
THE PROGERIANS Crush The Wise Man Who Refuse To Submite
STAKE Critical Method
NAGA Void Cult Rising
THE MOTH GATHERER Esoteric Oppression
SAVER They Came With Sunlight
SIBIIR Ropes
KING GIZZARD AND THE LIZARD WIZARD Infests The Rats Nest
SURYA Solastalgia
NYT LIV Ensomhedens Kolde Kald
TEMPEL Tempel
MOON TOOTH Crux
ALCEST Spiritual Instinct
CRANIAL Alternate Endings
DXBXSX Der Download/ Die CD/ Das Album
HOPE DRONE Void Lustre
TOOL Fear Inoculum
D'ANGEROUS Moonshine Over Black Jet Skies
GABESTOK Tre

Redakteur:
Mathias Freiesleben

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