NEAERA: Interview mit Sebastian

16.06.2006 | 17:25

Vor wenigen Wochen fegte ein gewaltiger Sturm über die hiesige Metalcore-Szene hinweg. NEAERA, zusammen mit CALIBAN und HEAVEN SHALL BURN derweil die wichtigste einheimische Genre-Band, packten mit dem Nachfolger zum umjubelten Debüt "The Rising Tide Of Oblivion" ein echtes Meisterwerk aus, welches man schon fast als die Essenz dieser Musik bezeichnen muss. Nicht ohne Stolz erzählt Sprachrohr Sebastian von der Entstehung von "Let The Tempest Come" und der ungebremsten Kreativität seiner Band.

Björn:
Erstmal Kompliment zum neuen Album, das Teil fegt ja wirklich alles weg. Wie habt ihr es in so kurzer Zeit geschafft, euch noch einmal derart zu steigern?

Sebastian:
Danke. Wir haben das Songwriting auf die beiden Gitarristen und das Schlagzeug im Proberaum beschränkt und somit ein wenig effektiver und relaxter arbeiten können. Zudem hat uns das viele Spielen binnen des letzten Jahres auch in kreativer Hinsicht beflügelt und wir haben Dinge, die wir musikalisch dazugelernt haben, versucht ebenfalls einzubringen.

Björn:
Bereits euer Debüt wurde in hiesigen Kreisen ordentlich abgefeiert. Habt ihr diesen Schwung mit in die Recording-Sessions zu "Let The Tempest Come" genommen?

Sebastian:
Ja, wir haben auf jeden Fall diesmal mehr Selbstbewusstsein mit ins Studio genommen. Die Reaktionen auf "The Rising Tide Of Oblivion" waren für uns einfach nur überwältigend, das hat uns aber eher dahingehend unterstützt, dass wir sehr motiviert an das neue Material gegangen sind. Die Songs waren schon vor dem Studioaufenthalt komplett fertig geschrieben, somit konnten wir auch bei den Aufnahmen zielstrebig an die Sache gehen.

Björn:
Als deutsche Band hat man es ja in der Szene meist doppelt so schwer. Dennoch konntet ihr euch sowohl bei Fans und Kritikern durchsetzen. Was sind deiner Meinung nach die Eigenschaften, die NEAERA von der internationalen Konkurrenz unterscheiden?

Sebastian:
Tja, wenn ich das so einfach sagen könnte. Mit dem Blick über den Teich sieht man sich einer Konkurrenz gegenüber, die sich eben schon musikalisch ein wenig anders entwickelt hat als in Europa, oder anders herum. Wir orientieren uns vornehmlich an europäischem Death etc. Metal. Das macht uns zwar nicht besonders, aber es grenzt uns "international" gesehen schon ein wenig ab. Vielleicht unterscheidet uns von anderen Bands, dass wir von uns selber nicht behaupten, die Musik neu zu erfinden. Wir machen Musik, die uns Spaß macht und müssen nicht krampfhaft versuchen, irgendwelche Erwartungen zu erfüllen, die der Markt an uns stellt. Wir sind die Fans der Musik und wollen diese mit anderen Fans teilen.

Björn:
Trotzdem besteht nach wie vor die Gefahr, im großen Wust der Veröffentlichungen im Metalcore-Genre unterzugehen. Mit welchen Mitteln kann man dem vorbeugen?

Sebastian:
Tja, irgendwann sinkt jedes Schiff. Da heißt es dann mit wehenden Fahnen untergehen.

Björn:
Wie ist denn generell deine Meinung zur Release-Flut im Metalcore-Sektor?

Sebastian:
Einige Sachen gefallen mir sehr und lassen mich immer wieder über die Kreativität neuer Bands staunen. Manchmal hab ich aber auch das Gefühl, dass das Ganze von der Presse einfach nur auf Grund der Bezeichnung "Metalcore" verrissen wird. Ganz klar haben die großen Metal-Magazine, ob online oder Printmedien, genauso von der "Flut" profitiert. Immer mehr Leute interessieren sich für Metal, immer mehr Bands werden gegründet, immer mehr wird über Metalcore etc. berichtet, immer größer wird die Szene. Fast so, als ob sich das Verhältnis von Zuhörern zu Bands nicht ändert, sondern eher gemeinsam wächst. Ein Trend, dessen weiterer Verlauf vielleicht doch nicht so einfach abzusehen ist...

Björn:
Ihr seid zudem noch bei einem Label gelandet, das sich in den letzten Monaten arg stark auf diese Musik spezialisiert hat. Ist dies deiner Meinung nach eher Vorteil oder Nachteil?

Sebastian:
Für ein Label sind natürlich Verkaufszahlen auch nicht ganz uninteressant. Der Metalcore-Bereich hat in der letzten Zeit sicherlich nicht nur bei unserem Label für wirtschaftlichen Aufschwung gesorgt. Der Vorteil, dass sich Metal Blade Records für Deathcore/Metal interessiert, liegt für uns auf der Hand. Ein Vorteil, ohne den wir sicher nicht da wären, wo wir jetzt sind.

Björn:
Glaubst du also, dass sich die Szene in nächster Zeit auch wieder gesund schrumpfen wird?

Sebastian:
Dann müssten ja weniger Leute Metal hören. Ist das denn gesund?

Björn:
Da ihr seit "The Rising Tide Of Oblivion" ein enormes Arbeitstempo vorgelegt habt, frage ich mich, was ihr in der Zwischenzeit gemacht habt. Seid ihr mit dem Album im Gepäck auch getourt?

Sebastian:
Wir haben bereits vor dem offiziellen Release von "The Rising Tide Of Oblivion" zwei Songs zu "Let The Tempest Come" fertig geschrieben und haben schon bei der ersten Tour, der "Hell On Earth", den Titeltrack hin und wieder live gespielt. Das Durchschnittstempo lag zwischen den Touren in etwa bei einem Song pro Monat.

Björn:
Die vielen Tourneen im härteren Bereich sind meistens prall gefüllte Bandpakete, die zwar quantitativ von Interesse sind, bei denen sich die vertretenen Bands aber nie adäquat präsentieren können. Käme für euch denn so ein größeres Package auch in Frage?

Sebastian:
Die Touren, die wir bis jetzt gespielt haben, waren eigentlich alle größere Packages. Wir haben uns ehrlich gesagt auch schon ein wenig an die Hektik und die kurze Spielzeit gewöhnt, die damit einhergeht. Sicherlich kann man als Supportband in so einem Package nie im Vorhinein sagen, wie der Auftritt wird. Zu viele Faktoren spielen, neben der Verfassung der Band, eine wichtige Rolle für eine gute Show. Der Headliner hat in der Regel Licht und Tonmänner, topp Equipment und Hilfskräfte für
die Bühne. Als Vorband hat man im schlimmsten Fall zwanzig Minuten Zeit, ohne Monitorsound, mit Lichtausfall und auf fremden Instrumenten zu zeigen, was man drauf hat. Das ist manchmal echt schlimm, weil man gegenüber den Leuten, die wegen einem gekommen sind, ein echt schlechtes Gewissen hat. Und mit sich selbst unter solchen Bedingungen natürlich auch nicht wirklich zufrieden ist.

Björn:
Wie sieht denn deine Vorstellung von einer optimalen Tournee aus?

Sebastian:
Optimal ist eine Tournee dann, wenn zunächst die genannten Faktoren für jede Band möglichst positiv ausfallen und die Leute gut drauf sind. Ein paar schöne Länder zu sehen ist dann natürlich noch ein angenehmer Nebeneffekt.

Björn:
Und wann ist es wieder soweit?

Sebastian:
Da kann ich noch nichts bestätigen. Vielleicht im Herbst?

Björn:
Zurück zum neuen Album: Ihr habt in jedweder Hinsicht zugelegt: fettere Grooves, härterer Gesamtsound und trotzdem mehr Melodien. Wie lautet das Geheimrezept, mit dem ihr zu diesem Level aufgestiegen seid?

Sebastian:
Auf jeden Fall spielt da die Routine mit ein, die wir im letzen Jahr durch das live spielen erlangt haben. Wir haben zudem zwangsläufig unsere letzte Platte immer wieder, jeder für sich, angehört und dadurch vielleicht auch ein besseres Gespür für eine eingängige Songstrukturen entwickelt. Natürlich hat Jacob Hansen als neuer Produzent wirklich auch das best mögliche aus den Songs rausgeholt.

Björn:
Kannst du dir dennoch vorstellen, diese Platte überhaupt noch mal zu toppen, ohne sich dabei musikalisch zu wiederholen?

Sebastian:
Bestimmt. Wobei ich musikalische Wiederholungen auch nicht als etwas Negatives empfinde. Wenn man sie sinnvoll platziert, tragen sie auf jeden Fall zum Wiedererkennungswert einer Band bei.

Björn:
Bei euch hat man nie den Eindruck, als müsstet ihr in den entsprechenden Parts jetzt besonders heavy sein. Ihr schmeißt ja fast schon präventiv genügend melodiöse Parts ein... Und dennoch klingt das Material über weite Strecken verdammt hart. Wie entsteht bei NEAERA dieser natürliche Sound?

Sebastian:
Harte Musik ist ja nicht immer nur durch die Brachialität hart. Melodien können die Stimmung und Aggressivität oft besser tragen als alleiniges Gemoshe und Gehacke im tiefen Frequenzbereich.

Björn:
Die Songs sind mit Spielereien auf der Lead-Gitarre bis zum Tellerrand gefüllt. Würdest du mir zustimmen, dass ihr diesbezüglich schon am Limit angekommen seid?

Sebastian:
Ich denke, dass die Leads auf der neuen Platte einfach zum festen Bestandteil der Songs geworden sind. Sie definieren unseren Sound mit, was sich auch beim kommenden Album bemerkbar machen wird. Inwieweit wir sie jedoch einsetzen werden, hängt davon ab, wie gut wir sie finden, und nicht weil sie zwingend nötig sind.

Björn:
Wäre es denn gar nicht vorstellbar, die Herangehensweise auf dem nächsten Album irgendwie zu verändern und die Schwerpunkte anders zu verteilen? Oder würde dies dann nicht mehr deiner Vorstellung vom NEAERA-Sound entsprechen?

Sebastian:
Ich will nichts ausschließen, kann aber diejenigen beruhigen, die befürchten, dass wir nicht mehr aggressiv sein könnten. Auf der anderen Seite haben wir ja mit der neuen Scheibe auch die paar cleanen Vocals der letzten entschuldigt, indem wir komplett drauf verzichtet haben, hehe. Zudem haben wir ja wie gesagt das Songwriter-Trio Gitarre, Gitarre, Schlagzeug, was auch schon jetzt einen Unterschied zum letzten Album bedeutet hat. Da wir uns zu dritt am besten einigen können, will ich nicht ausschließen, dass man auch hier und da mal ein paar Experimente wagt...

Björn:
Welche Hauptinhalte müssen denn in jedem eurer Songs vorhanden sein?

Sebastian:
Black-Passagen, Blasts, und Thrash-Strophen, vielleicht noch eine eingängige Melodie für den Chorus und Lyrics, die man an den wichtigsten Stellen heraushören und ggf. mitgrölen kann. Das hat sich für uns als gute Mischung herausgestellt.

Björn:
Und wie sähe in diesem Sinne eine Weiterentwicklung eures angestammten Bandsounds aus?

Sebastian:
Das Ganze doppelt so schnell, haha! Keine Ahnung. Wir planen das nicht. Wenn sich der Sound weiterentwickelt, dann passiert das automatisch. Ich bin selber gespannt darauf.

Björn:
Dann fassen wir noch mal zusammen: Warum sollte sich die Metalcore-Gemeinde ausgerechnet für NEAERA entscheiden? Wie würdest du den Fans die beiden bisherigen Platten, vor allem die aktuelle, schmackhaft machen?

Sebastian:
Am besten wäre natürlich, wenn sich die Leute uns live mal anschauen, und danach selber entscheiden, ob es sich wirklich lohnt, uns hässliche Vögel auch im Plattenregal stehen zu haben. Ansonsten würde ich sagen, dass die Leute, die bei AT THE GATES und HEAVEN SHALL BURN nicht schreiend aus dem Zimmer rennen, ruhig mal bei uns reinhören können.

Björn:
Und was möchtest du diesen Fans am Ende noch mit auf den Weg geben?

Sebastian:
STAY BRUTAL!
PS: Danke an den, der das gerade gelesen hat und sich offenbar für das interessiert, was wir machen. Komm doch mal auf ein paar Bier oder ein Sprudel auf eins unserer Konzerte. Man sieht sich.

Redakteur:
Björn Backes

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