MÖTLEY CRÜE: Wir blicken auf "Crücial Crüe"

05.02.2023 | 22:41

Na, was haben wir denn hier? Eine matt-schwarze Box mit der Aufschrift MÖTLEY CRÜE und "Crücial Crüe – The Studio Albums 1981 – 1989". Und eigentlich ist damit schon alles gesagt, hat sich BMG doch die Mühe gemacht und die 1980er-Jahre-Alben der Glam-Rocker in hübschen Digipacks aufbereitet. Grund genug also, einmal genauer in dem musikalischen Vermächtnis eines Vince Neils, Nikki Sixx', Tommy Lees und Mick Mars' zu stöbern und – anders als es "The Dirt" gemacht hat – den Fokus ein wenig mehr auf die Musik als auf die Exzesse, Reibereien, Affären und Hintergrundinformationen zu richten.

Versteht mich nicht falsch, denn die "The Dirt"-Biografie ist durch und durch lesenswert und ermöglicht mir auch das Verständnis, warum, wieso und weshalb die Alben der MÖTLEY CRÜE-Zeit so klingen wie sie letztendlich klingen.

Doch ich selbst könnte euch nichts Neues erzählen, was ihr nicht schon von dem Büchlein her kennt. Insofern werden biografische Infos nur grob angeschnitten, während ich diese durch und durch edle "Crücial Crüe"-Box von ihren Zwängen der Originalverpackung befreie und mir genüsslich die fünf schicken Digipacks akustisch einverleibe. Auf Bonusstücke, Raritäten oder überschüssiges Live-Material hat BMG bewusst verzichtet, ist allerdings auch ob ihrer Belanglosigkeit auf den Wiederveröffentlichungen vor einigen Jahren gut zu verkraften. Widmen wir uns also absoluten Bollwerken wie "Dr. Feelgood" und "Shout At The Devil", den für die Glam-Szene sehr wichtigen "Theater Of Pain" und mehr noch "Girls, Girls, Girls"-Songs, schauen aber zunächst auf den "Crücial Crüe"-Startschuss.

Den macht selbstverständlich das 1981er Debüt "Too Fast For Love", das ursprünglich zunächst am 10. November über das bandeigene Label Leathür Records und stolze neun Monate später von Elektra Records überarbeitet und neu veröffentlicht wurde. Allein das Artwork – als Hommage an "Sticky Fingers" von den ROLLING STONES – sorgt bei Glam-Rock-Fans für Jubelarien, die wohl auch den noch sehr deutlichen Punk-Flair im Stil der Band genossen. Sixx und Co. machen keinen Hehl aus ihren musikalischen Wurzeln und so klingt "Too Fast For Love" noch deutlich rauer und dreckiger als die unmittelbaren Vorgänger. Und nachdem ein paar Exemplare an den Mann gebracht und Elektra und die ohnehin sehr einheizenden Auftritte CRÜEs noch mehr Propaganda bringen, kommt nicht nur die Clubszene in Los Angeles in den Genuss solcher Brecher wie 'Live Wire', 'Piece Of Your Action' oder des Titeltracks. Speziell der Opener geht druckvoll nach vorne und sorgt gleich zu Beginn für die richtige Marschroute: Es geht nach oben. Egal wie, aber es geht nach oben. Dass sich auch der eine oder andere Füll-Track auf dem Debüt befindet oder einige Texte etwas arg stumpf verfasst wurden, fällt hingegen weniger ins Gewicht, wenn 'Take Me To The Top' oder 'Come On And Dance' die grandiose Gitarrenarbeit Mars' in die Geschichtsbücher schreiben. Was der Junge auf der Suche nach einer echten Band schließlich in MÖTLEY CRÜE gefunden hat und mit Hilfe der Jungs auch umzusetzen vermag, ist schlichtweg atemberaubend und verpasst dem Sound auf "Too Fast For Love" neben Neils charismatischem Gesang und Lees nach vorne preschendem Druming das gewisse Extra. Die Initialzündung zu einer durch und durch außerordentlichen Karriere.

Eine Karriere, die mit dem Zweitwerk "Shout At The Devil" den nächsten Schritt machen konnte. Das zweite Album CRÜEs erschien am 26. September 1983 – diesmal direkt über Elektra Records – und wurde von Tom Werman produziert. Und irgendwie hat es der spätere Glam-Rock-Experte, der auch mit TWISTED SISTER, POISON und DOKKEN arbeitete, geschafft, den wilden und punkigen Einschlag des Vorgängers ein wenig glatter zu bügeln, ohne dass das Rohe und Gefährliche dieser Band flöten ging. Die Songs springen den Hörern nahezu mit dem blanken Hintern ins Gesicht, sprühen vor Leidenschaft, haben trotz des etwas klareren Sounds eben noch immer diese Leidenschaft und jene "Wir werden die Welt revolutionieren"-Attitüde, die MÖTLEY CRÜE in den 1980er Jahren ausmachte. Ob es nun am Interesse an schwarzer Magie, Okkultismus und Satanismus oder an der recht prägnanten schwarz-weiß-roten Schminke lag, an den großen und größeren Bühnenshows mit Pyro und Flammenspektakel oder am schlichten, aber eindeutigen Original-Artwork – dem Drudenfuß – gepaart mit dem Bandlogo in blutroter Schrift, aber dieser nächste logische, etwas finstere Schritt hätte gewaltiger nicht ausfallen können. Denn nicht nur in Sachen Image, sondern auch musikalisch verfolgen Neil, Mars, Sixx und Lee auf "Shout At The Devil" die Devise "All Killer, No Filler": Das Titelstück jagt den Hörern einen wohligen Schauer über den Rücken, wenn die Hallen und Stadien dieser Welt zum "Shout, Shout, Shout"-Ruf ansetzen, 'Looks That Kill' und das eingängige 'Too Young To Fall In Love' reißen ab der ersten Sekunde mit, 'Bastard' und 'Red Hot' sind hard as fuck und selbst '10 Seconds To Love', bei dem ich mich anfangs etwas schwer getan habe, sowie das geglückte THE BEATLES-Cover 'Helter Skelter' sind absolut gelungene Stücke und zieren ein Album, das bockstärker mit 'Danger' nicht hätte ausfallen können, in Sachen Ernsthaftigkeit und Spielfreude das nächste Level erreicht hat und bis zum heutigen Tage – und dazwischen liegen beinah 40 Jahre! – nichts von seiner Ausstrahlung verloren hat. Das Album ist vom ersten bis zum letzten Ton eine Blaupause für den Glam Metal, die Szene in Los Angeles und für mich das Paradestück MÖTLEY CRÜEs in dieser Zeit.

Wohin sollte es mit MÖTLEY CRÜE nach diesem Monsteralbum  gehen? Welche Geschichten haben die Glam-Rocker zu erzählen? Leider werden es sehr tragische, haben wir doch alle Neils Autounfall vom Dezember 1984 vor dem geistigen Auge, bei dem HANOI ROCKS-Drummer Razzle tödlich verunglückte und MÖTLEY CRÜE dadurch in ein tiefes Loch fiel. Und auch das wissen wir: Die Jungs hatten allesamt ein kleines Problem mit gewissen Substanzen, die sich mit mentalen Tiefen meist nicht vertragen. Der Clip zu 'Home Sweet Home' zeigt Sixx' beängstigenden Zustand und auch Mars, Lee und logischerweise auch Neil hatten mit ihrer jeweilegen Situation zu kämpfen. Manchmal wählt man den Weg des geringsten Widerstandes und der liegt ab und an auch im Alkoholexzess und Drogenrausch. Dennoch verlangten Elektra Records und die täglich wachsende CRÜE-Crew nach neuem Material, das schließlich am 21. Juni 1985 auch veröffentlicht wurde. Und nachdem mit dem Debüt der Punk und mit "Shout At The Devil" die etwas härtere Gangart gewählt wurde, steigen Sixx und Co. mit "Theater Of Pain" nun endgültig in den klassischen Glam-Rock-Zug ein. Obwohl sich das Album nun auch in Deutschland und dem Vereinigten Königreich verkaufen ließ, gehört es speziell ob seines im Vergleich zu den vorherigen Alben ausufernden, kommerziellen Touchs, dem für Glam und Glitter so typischen Hair-Metal-Look und einiger nicht ganz so starker Stücke wie 'Use It Or Lose It', 'Save Our Souls' und 'Tonight (We Need A Lover)' nicht zum stärksten, was CRÜE in den 1980er Jahren herausgebracht hat. Dennoch – und das rechne ich "Theater Of Pain" hoch an – war das Album wichtig und richtig, um mit "Girls, Girls, Girls" eine ganz dezente und später mit "Dr. Feelgood" eine kräftigere Kehrtwende in die Wege zu leiten und nicht in der kreativen Sackgasse steckenzubleiben. Denn seien wir einmal ehrlich, sind das balladeske 'Home Sweet Home', das BROWNSVILLE STATION-Cover von 'Smokin' In The Boys Room', von dem Nikki anfangs überhaupt nicht begeistert war sowie 'Louder Than Hell' alles andere als schlecht und auch 'Raise Your Hands To Rock' und 'City Boy Blues' wissen mit zunehmender Spielzeit zu überzeugen. So wechseln sich wie uns ironischerweise das Artwork schon prophezeit, Licht und Schatten auf "Theater Of Pain" munter ab. Doch MÖTLEY CRÜE sollte die Kurve noch bekommen.

Auch wenn "Girls, Girls, Girls" den Glam- und Glitter-Rock bei MÖTLEY CRÜE zum vorläufigen Höhepunkt bringen sollte und somit speziell bei älteren Fans nicht allzu gut ankam, hat das vierte Studioalbum doch einige Hits am Start. Doch fangen wir nach dem internationalen Erfolg des Vorgängers, Neils Alkoholentzug und seinem kurzen Haftantritt ob der Trunkenheitsfahrt, Lees Hochzeit mit einer gewissen Heather Locklear und inmitten Sixx unkontrollierbaren Drogenkonsums von vorne an: Die Platte erschien am 15. Mai 1987 und zeigte die Band trotz des sehr plakativen Titels in Bikerkluft auf Motorrädern. Richtig, "Girls, Girls Girls" verankerte MÖTLEY CRÜE zwar sattelfest im Glam, doch ein paar kräftige Blues-Einflüsse und der härtere, fast schon an "Too Fast For Love" erinnernde Sound Tom Wermans sorgten für ein gutes Bindeglied zwischen "Shout At The Devil" und dem Vorgänger-Theater. Und demnach bekam "Girls, Girls, Girls" ein etwas ernsteres Image, obgleich der "Sex, Drugs & Rock'n'Roll"-Lifestyle nach wie vor ganz großgeschrieben wurde. Auch 35 Jahre später machen Songs wie das ohrwurmtaugliche 'Bad Boy Boogie', die Streicher-Ballade 'Nona', die Sixx in Gedenken an seine verstorbene Großmutter zu Papier gebracht hatte, und 'All In The Name Of…', eine weitere Hommage, diesmal an den Rock'n'Roll per se, eine richtig gute Figur. Inmitten der Stripclubgeschichten und Exzesse wirkt das Songwriting verletzlicher, beinah schon angreifbar, was nicht zuletzt an Sixx' besagter Hommage an Nona oder dem selbstkritischen 'Dancing On Glass' liegt.  Obwohl es auch diesmal ein Hauch von Durchschnittskost auf das Album geschafft hat, ist "Girls, Girls, Girls" auch wegen dieses bockstarken Beginns mit 'Wild Side' und des unverschämt eingängigen Titeltracks wieder der Schritt in die richtige Richtung. Die energiegeladene Live-Interpretation von ELVIS' 'Jailhouse Rock' offenbart die eigentliche Stärke CRÜEs, die noch immer in bemerkenswerten und fulminanten Live-Shows liegt. Und wenn eine gewisse WHITNEY HOUSTON nicht die Pläne der Jungs durchkreuzt hätte, hätten sich Sixx, Mars, Lee und Neil schon mit Album Nummer vier an die Spitze der Albumcharts setzen und damit ihren Status vergolden können.

Das gelang MÖTLEY CRÜE schließlich mit des Doktors Hilfe, dem letzten Album der 1980er Jahre und damit der üppigen "Crücial Crüe"-Box. Und dieses fünfte Album der L.A.-Glamrocker ist in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswertes: Mit Bob Rock gibt es einen neuen Produzenten, der der Platte einen auch aus heutiger Sicht fetten Sound verlieh und die Jungs zu Höchstleistungen anspornte (wir kennen das Prozedere von einem bestimmten METALLICA-Album), dank vieler Klinikaufenthalte verliefen auf Aufnahmen ohne Alkohol- und Drogenkonsum (wer hätte das von MÖTLEY CRÜE erwartet?) und in Kombination mit allerlei Hits und dem für CRÜE-Verhältnisse sehr geschmackvollen Artwork (von Don Brautigam) schaffte die Band mit "Dr. Feelgood" endlich den Sprung an die Spitze der Albumcharts. Und das auch vollkommen verdient, spricht die Musik doch für sich und zeigt, was ein klarer, von Drogen befreiter Kopf doch so auslösen kann. Tommys Schlagzeugspiel kommt sehr gut zur Geltung, auch Vince zeigt seine frontmännischen Talente und als kreatives Oberhaupt wirkt Nikki so einfallsreich wie selten zuvor. In Sachen Texte blickt MÖTLEY CRÜE auch über den plumpen und zu offensichtlichen "Sex, Drugs & Rock'n'Roll"-Tellerrand hinaus, konnte sich Mars doch nun endlich auch als fähiger Songwriter entfalten. Ein Umstand, der dem Album eine angenehm rifforientierte Note verleiht. Mit allerlei Blues-Elementen, den Gastauftritten von SKID ROW, BRYAN ADAMS und AEROSMITH-Aushängeschild Steven Tyler sowie durchaus geglückten Experimenten – Bläsern, Piano und die Mundharmonika dürfte man zunächst nicht direkt mit CRÜE assoziieren – erlebt der Glam Rock der Jungs seinen zweiten, dritten Frühling, klingt frisch, frech und fett und hat durch die Bank weg hochkarätiges Material am Start: Die Balladen 'Time For Change' und 'Without You' sind schlichtweg schön, das Titelstück sowie 'Kickstart My Heart' kicken nicht nur in Herzen sondern auch in sämtliche Hinterteile, 'Rattlesnake Shake' und 'Sticky Sweet' haben hohes Suchtpotential und das funkige 'Slice Of Your Pie' oder die 'Same Ol' Situation'-Hymne sorgen für das gewisse Extra. An welcher Entzugsbehandlung oder welchen Bob-Rock'schen Gründen es am Ende auch lag, "Dr. Feelgood" ist nach "Shout At The Devil" zweifellos das beste MÖTLEY CRÜE-Album der Bandgeschichte geworden, das auch in Sachen Verkaufszahlen zurecht einschlug wie eine Bombe und dieser CRÜE-Vollbedienung einen mehr als würdigen Abschluss beschert.

Wir blicken also auf diese hochwertige Box, stöbern in jedem einzelnen Digipack nach raren Bildern, den Texten und letztendlich auch nach den Songs, die nicht nur die Szene in Los Angeles, sondern den Glam-Rock bzw. Metal in dieser Zeit entscheidend mitgeprägt haben. Selbstverständlich gibt es dieses illustre Boxset auch in einer schmucken Vinyl-Ausgabe mit farblichen Highlights. Doch ob nun als CD- oder Vinyl-Form: In Kombination mit der "The Dirt"-Biografie, in der wir die Höhe- und Tiefpunkte MÖTLEY CRÜEs erfahren, ist diese Reise durch die Geschichte der Band eine spannende, eine teils euphorische, teils recht tragische, die erkennen lässt, welche Auswirkungen nicht nur spezielle Substanzen, sondern auch der Rock'n'Roll-Lifestyle auf die Musiker und ihre Musik haben und wie vier Musiker – Vince Neil, Nikki Sixx, Mick Mars und Tommy Lee – letztendlich doch die Kurve vor der meist für Nikki wirklich allerletzten Ausfahrt bekommen haben. Auch wenn es an Bonusstücken oder anderen Zusatzleckerlis mangelt, ist "Crücial Crüe – The Studio Albums 1981 – 1989" genau das, was es ist: Das hübsch aufbereitete und remasterte, musikalische Vermächtnis einer der prägendsten Rock-Bands der 1980er Jahre.

Redakteur:
Marcel Rapp

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