MOTÖRHEAD: Wir blicken auf "The Löst Tapes"

24.02.2024 | 00:56

Es kann einem schon schwindlig werden, wenn man all die Veröffentlichungen aufzählt, die nach 2015 von Lemmy und Co. erschienen sind. Split-Geschichten, Compilation, EPs und – natürlich – auch Live-Alben. Und ehrlicherweise hatte auch jedes einzelne Live-Dokument seine Daseinsberechtigung, auch wenn man ob dieser Veröffentlichungswut, die mit dem Namen MOTÖRHEAD einhergegangen ist, natürlich geteilter Meinung sein darf. Lohnenswert waren hier vor allem die "The Löst Tapes"-Mitschnitte, die seit Mitte 2021 der Fan-Meute zum Fraß vorgeworfen wurden und nicht nur aufgrund einer guten, erdigen Soundqualität, sondern auch wegen der Besonderheiten in der Songauswahl einen großen Mehrwert darstellen. Nachdem von dieser Reihe die ersten vier Ausgaben einzeln auch als Vinyl zu ergattern waren, gibt es nun in Form von "The Löst Tapes – The Collection Volumes 1 – 5" die gebündelte Kraft in einer schmucken Box mit den jeweiligen Teilen als Digipacks. Wir wagen einen Blick.

Hand aufs Herz, Leute: Ich vermisse MOTÖRHEAD. Ich vermisse Lemmy. Ich vermisse diesen goddamn and Kick-Ass-Rock'n'Metal, des Meisters Einstellung, Sichtweise, schlichtweg seine Präsenz, denn eine Band wie MOTÖRHEAD gibt es nur ein einziges Mal, eine Person wie Lemmy nur ein einziges Mal. Musikalisch bin ich mit der Konstellation Lemmy/Phil/Mickey aufgewachsen, großgeworden, hab sie einige Male sehen und von diesen besonderen Live-Auftritten, diesem magischen Glanz des Rock'n'Roll verzaubern lassen und zehre noch immer von jenen Erinnerungen. Etliche Re-Releases und Anniversary-Outputs und zahlreiche Live-Mitschnitte werden nach wie vor veröffentlicht, um allerdings auch den Geist Lemmy Kilmisters aufrecht zu erhalten – zumindest nach meinen romantischen Vorstellungen. Glücklicherweise sagte mir nach der "The Löst Tapes – Vol. 1"-Veröffentlichung eine innere Stimme, dass ich doch warten solle und vielleicht in naher Zukunft etwas Gebündeltes auf uns zukommt. Manchmal muss man auf sein Bauchgefühl hören und so erschien über BMG/Warner am 23. Februar die 8-CD-Box – in insgesamt fünf Teilen – in guter Qualität und vereinfacht mir das Komplettieren des MOTÖRHEAD-Backkatalogs.

Wir starten in Spanien, genauer gesagt in Madrid. MOTÖRHEAD war am 01. Juni 1995 im "Sala Aqualung" der spanischen Hauptstadt zu Gast und sollte anderthalb Monate später mit "Sacrifice" ein ziemlich gutes Album veröffentlichen, wofür Lemmy und Co. mit 'Sex & Death', 'Over The Shoulder' und zu späterer Stunde auch dem starken Titeltrack sowie 'Dog-Face Boy' ordentlich die Werbetrommel rührten. Gleich mit dem 'Ace Of Spades'-Gassenhauer zu starten ist definitiv eine Ansage, der mit Brechern der Marke 'Metropolos', 'Stay Clean', dem rasanten 'Burner' und diesem höllischen 'Orgasmatron'-Fegefeuer auch gleich die volle Breitseite folgte. Der Klang der Aufnahme ist erdig und kantig, zwar alles andere als sauber, aber dafür mit Charme und dieser schönen Prise Dreck versehen, und mit Phil und Mikkey fletscht Lemmy ordentlich die Zähne. Doch hören wir da etwa auch eine zweite Gitarre? Richtig, Würzel war Mitte der 1990er Jahre noch mit an Bord und verleiht auch etwas rarerem Material der Marke 'The One To Sing The Blues', dem überraschenden 'Lost In The Ozone' sowie der HAWKWIND-Nummer 'Silver Machine' im rockigen MOTÖRHEAD-Gewand das gewisse Extra. Ein wenig schmunzeln muss man dann bei Lemmys gebrochenen Spanischkenntnissen, während die obligatorischen Rausschmeißer 'Iron Fist' und 'Overkill' dieses Doppel-Livealbum standesgemäß mit einem lauten Knall und dem nötigen Nachhall beenden.

Wir springen drei Jahre in die Zukunft und landen in Norwich. Dort war MOTÖRHEAD live in der "University Of East Anglia" zu hören und versorgte das britische Publikum am 18. Oktober 1998 mit einem ach so feinen Abriss. 'Bomber' eröffnete das Trommelfeuer und auch hier hat sich ein neues Album eingeschlichen. "Snake Bite Love" war schon ein halbes Jahr auf dem Markt und zumindest haben es 'Take The Blame' und 'Love For Sale' in die Setliste geschafft. Allerdings merkt man daran schon, dass das 1998er Album einen eher schweren Stand hatte. Doch wie smooth und abgezockt Lemmy und Konsorten 'The Chase Is Better Than The Catch' herunterzocken, ist kalt wie eine Hundeschnauze. Apropos Konsorten, denn von denen sind nur noch Phil und Mikkey mit von der Partie, eben jene Konstellation, die sich bis zum Ende MOTÖRHEADs behaupten sollte. Tatsächlich ist der Norwich-Gig mein liebster der gesamten Collection, da nicht nur Energie und Dynamik sehr hochgehalten werden, sondern sich in der Setliste die Kirschen mit den sträflich unterbewerteten Rohdiamanten wie 'Shine', 'I'm So Bad (Baby I Don't Care)' und 'Too Late Too Late' sehr gut abwechseln und trotz des typischen MOTÖRHEAD-Charakters einige bockstarke Überraschungen bereithält. Und spätestens ab 'Orgasmatron' folgt ein Brecher dem nächsten: 'Stone Dead Forever', 'Going To Brazil', 'Killed By Death', ehe mit dem 'Iron Fist'-Bodyslam und 'Ace Of Spades' sowie 'Overkill' das Set auf unnachahmliche Art beendet wird.

Wir bleiben in Europa und reisen nordöstlicher, landen in Schweden und bekommen den Live-Mitschnitt aus den "KB Hallen" in Malmö um den Latz geknallt. Am 17. November 2000 hatte das Brett "We Are Motörhead" auch schon sechs Monate auf dem Buckel und Malmö bekam die Créme de la Créme des MOTÖRHEAD-Repertoires zu spüren. Nach "Snake Bite Love" ging die Leistungskurve wieder nach oben, was unserem Trio Infernale auch wieder mächtig Auftrieb gab. Nicht umsonst wurde mit dem Titeltrack diese krachende Show eröffnet und mit 'Bomber' und 'No Class' ging es erstklassig weiter. Der Sound ist etwas transparenter, das schwedische Publikum durchaus heiß auf unsere Jungs von der Insel, was Herrn Kilmister sogar zu einem Bass-Solo in der Mitte des Sets bewegte. Dazu gab es Aktuelles mit dem SEX PISTOLS-Cover 'God Save The Queen' und 'Stay Out Of Jail', sträflich Unterbewertetes mit 'Broken', sowie richtig geile Versionen von 'Damage Case', 'Born To Raise Hell' und 'I'm so Bad (Baby I Don't Care)', das mir in der schwedischen Version am besten gefällt. Trotzdem will, anders als bei den anderen vier Gigs, der Funke aus Malmö nicht so recht überspringen. Vielleicht weil es eben an faustdicken Überraschungen mangelt oder die Band live sonst druckvoller rüberkommt, wer weiß. Doch die Setliste ist nahezu bombensicher und einen schlechten MOTÖRHEAD-Gig gab es ohnehin kaum. Insofern lohnt sich auch definitiv der Blick nach Malmö und auf ein astreines Album namens "We Are Motörhead".

Nun haben wir es mit einer echten Rarität, einer grandiosen Uralt-Perle aus den Tiefsten der 1980er Jahre zu tun: 1983 trat ein gewisser Philip Anthony Campbell an die Seite Lemmys und sollte bis zu dessen Tod von dieser nicht weichen. Sein Partner in Crime gab seinen Albumeinstand mit "Orgasmatron", doch schon anderthalb Jahre vorher – wir springen im Rahmen des "Christmas Metal Meetings" am 29. Dezember 1983 in die Sporthalle in Heilbronn – hat er sich als neuer MOTÖRHEAD-Gitarrist pudelwohl gefühlt. Natürlich ist die Soundqualität die der 80er Jahre entsprechend und hier und dort scheppert, kracht und wummst es gewaltig. Doch erwarten wir nicht genau dies von Lemmy und Co.? Richtig, und so geben sich Lemmy, Phil, Würzel und Pete Gill an der Schießbude so energisch, blutrünstig und angriffslustig wie selten. Diese Frische, die der neue Phil in die Mannschaft bringt, überträgt sich automatisch auf 'Stay Clean' oder 'The Hammer', zeigt das damals taufrische 'Killed By Death' aber auch meine persönlichen Highlights 'The Chase Is Better Than The Catch', die Team-Hommage '(We Are) The Roadcrew' oder 'Nothing Up My Sleeve' in bestechender Form. Man spürt in jeder einzelnen Faser dieses Gigs – vom wuchtigen 'Iron Fist' über 'Ace Of Spades', überraschend in der Mitte des Sets, bis hin zu 'Stay Clean' – die Besonderheit dieses Auftritts. Das badische Publikum ist förmlich elektrisiert und das überträgt sich selbstverständlich auch auf den nimmermüden Lemmy. Und die "verlörenen" Tapes sind noch längst nicht am Ende angelangt.

Denn mit dem fünften Package im Bunde, das es vorher nicht einzeln zu erwerben gab, haben wir es auch gleich mit dem jüngsten Live-Zeugnis der gesamten Reihe zu tun. Von Deutschland aus führt es unser Dreierspann wieder zurück auf die Insel, wo es am 13. Juni 2008 auf dem Download-Festival in Donington auftrat. Allein ob der Berücksichtigung dieses so geilen Songs 'In The Name Of Tragedy' lohnt sich dieser Auftritt für mich schon, doch auch im Großen und Ganzen und mit Blick auf die jüngeren, auch starken Songs der Jungs, ist der 14-teilige Auftritt sehr gelungen. Donington ist heiß auf MOTÖRHEAD und die Band hat auch Bock, der Insel in den Hintern zu treten. Sicherlich ist Lemmys in die Jahre gekommene Stimme ein kleiner Wermutstropfen, doch dafür punkten Feuer und Energie einerseits und diese in Rock'n'Roll-Zuckerguss getränkte Setliste andererseits. Ob wir nun den THIN LIZZY-Evergreen 'Rosalie' oder 'Killers' haben, die Masse zu Gassenhauern wie 'Stay Clean', 'Metropolis' oder 'Overkill' komplett ausrastet, während sie bei 'Killed By Death' und 'Ace Of Spades' gleich im Anschluss schlichtweg den Moment genießt oder der im Vergleich zu den anderen Live-Dokumenten doch wuchtigere Sound für das letzte, so geile Quäntchen Power sorgt, so überzeugt der Festival-Auftritt doch auf ganzer Linie und präsentiert dieses noch immer legendäre Trio Lemmy/Phil/Mikkey in vollstem Glanz. Auch wenn es der mit Abstand kürzeste Auftritt der Reihe ist, liegt in dieser doch die Würze und bringt MOTÖRHEAD auf den Punkt: They Play Rock'n'Roll.

Wir fassen also zusammen, dass diese "The Löst Tapes"-Ansammlung – aus welcher Stadt, Ära oder Location man sich auch nun seine Rosinen herauspickt – eine so verdammt lohnenswerte Anschaffung ist und mehr als ein Tribut an einen der bedeutsamsten Musiker des letzten Jahrhunderts darstellt. Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich MOTÖRHEAD, wie sehr ich den Musiker, aber vor allem die Persönlichkeit Lemmy Kilmister vermisse. Doch wenn man sich diese acht Rundlinge vor Augen führt, sich Zeit nimmt, mit MOTÖRHEAD einmal quer durch Europa und vor allem durch die Zeit zu reisen, dann hat man zumindest kurzzeitig das Gefühl, als ob diese Lichtgestalt des Rock'n'Roll noch unter uns weilt. Natürlich mag man ob dieser Flut an MOTÖRHEAD-Veröffentlichungen in den letzten Jahren geteilter Meinung sein, doch wenn sie so liebevoll und nostalgisch zusammengestellt wurden wie im vorliegenden Fall und wenn man in nahezu jedem Gig seine großen Besonderheiten findet, dann gehört "The Löst Tapes" definitiv zu den posthumen Geschichten, die jeder MOTÖRHEAD-Fan sein Eigen nennen sollte.

Redakteur:
Marcel Rapp

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