LACUNA COIL: Interview mit Cristiano Migliore

05.05.2009 | 10:29

Mit "Shallow Life" beschreiten LACUNA COIL keine gänzlich neuen Pfade, haben sich aber musikalisch ganz klar gewandelt. Der Mainstream rückt immer näher an die Italiener heran, auch wenn diese sich konsequent wehren, ihren klassischen Sound zu verlassen. Die Wahrheit, was genau hinter der neuen Platte steckt, und welche Einflüsse sich hierauf breit gemacht haben, verrät nun Cristiano Migliore, der überaus sympathische Gitarrist des Quintetts.

Björn:
Mittlerweile sind drei Jahre vergangen, seit ihr euer letztes Album "Karmacode" veröffentlicht habt. Allerdings hat man irgendwie das Gefühl, eine ganze Dekade sei verstrichen, weil in der Zwischenzeit eine ganze Menge passiert ist. Wie fühlt ihr euch nun, da die Platte endlich im Kasten ist?

Cristiano:
Wow, es fühlt sich unheimlich gut an. Wir haben eine Menge Arbeit in das Album gesteckt, und nun ist es wirklich erlösend, die Scheibe endlich im Kasten zu haben. Wir haben öfter gehadert, ob wir auch den richtigen Weg einschlagen würden, und uns bis zuletzt Gedanken gemacht. Am Ende sind wir aber wirklich glücklich, und gerade mit ein wenig Distanz, ist es schön zu sagen, dass wir definitiv nichts anders gemacht hätten, wenn wir erneut ins Studio müssten.

Björn:
Ihr wart gerade livetechnisch sehr aktiv in den vergangenen Jahren. Da gab es einige Headliner-Tourneen, diverse Festival-Auftritte vor ganz großem Publikum, und schließlich die erwartete Rückkehr ins Studio, die dann aber flugs gegen den Support-Slot für die Tour mit BULLET FOR MY VALENTINE ausgeschlagen wurde. Wann habt ihr letztendlich überhaupt die Zeit gefunden, neue Songs zu schreiben und zu arrangieren?

Cristiano:
Nachdem wir den Tour-Zyklus für "Karmacode" abgeschlossen hatten - das war Ende 2007 - haben wir uns dazu entschieden, eine längere Pause einzulegen und uns auf die Arbeiten für das neue Album zu konzentrieren. Wir haben ein ganzes Jahr an neuen Ideen gearbeitet, uns aber hierfür auch komplett zurückgezogen, um schließlich wieder besser als Team agieren zu können. Und diese Zeit haben wir sehr intensiv genutzt, haben Fragmente und Parts ausgetauscht und am Ende das Album in seinen Grundzügen zusammengebastelt.

Björn:
Normalerweise beschäftige ich mich vor jedem Interview recht umfassend mit dem neuen Werk der betreffenden Künstler, schlichtweg um gut vorbereitet zu sein. Da ich jedoch in diesem Fall schon sehr lange mit der Band und ihrem Sound vertraut bin und außerdem denke, dass eure jeweiligen Alben stets einen sehr individuellen Charakter haben, wollte ich dieses Mal lieber enthaltsam sein und mir die frische Platte von dir erklären lassen. Also, schieß los!

Cristiano:
Hehe, interessant! Nun, wenn man die Songs mit unseren älteren Alben vergleicht, kann man ganz klar sagen, dass das Material direkter ist und definitiv rockiger gestaltet wurde. Was uns bei der Analyse unserer letzten Platten diesmal sehr deutlich geworden ist, ist die Tatsache, dass unsere Musik immerzu sehr bombastisch, manchmal vielleicht auch überladen war. Gerade "Karmacode" ist hier ein gutes Beispiel, da manche Songs mehr als 80 unterschiedliche Spuren hatten. Es war schlicht und einfach zu viel. Wir wollten dieses Mal viel basischer, aber weiterhin sehr individuell an die Songs herangehen, haben uns aber auch genügend Freiräume für Experimente gelassen. Es wurde viel ausprobiert, und dennoch ist das Songwriting sehr zielbetont und ausgereift, da wir eine klare Vorstellung davon hatten, was wir wollten und vor allem, was wir nicht wollten! Viele Songs haben wir inhaltlich tatsächlich erst so richtig entdeckt, als sie bereits komplett abgemischt waren.

Björn:
Eure Musik war stets von vielen extremen Emotionen gezeichnet und geprägt. Ich gehe davon aus, dass sich daran nicht viel verändert hat. Wie würdest du die emotionale Seite eures neuen Albums beschreiben?

Cristiano:
Das Album ist natürlich sehr emotional und diesbezüglich auch sehr abwechslungsreich. Manche Nummern sind überraschend aggressiv, andere wiederum relaxter als je zuvor, und darüber hinaus gibt es natürlich auch wieder diverse atmosphärische Tracks. Aus dieser Perspektive ist "Shallow Life" also ein typisches LACUNA COIL-Album. An den Songs selber hat sich insgesamt auch gar nicht so viel geändert; was hingegen anders war, ist die Herangehensweise. Wir haben nicht mehr so weit im Voraus geplant, sondern sind viel spontaner an die Arbeit gegangen. Dabei sind die Einflüsse unserer Tourneen sicherlich ein wichtiger Punkt, sowohl kulturell wie auch rein musikalisch betrachtet. Es gab unzählige Bands, mit denen wir die Bühne geteilt haben, und von denen wir uns etwas haben abschauen können. Das Resultat, das du nun hören darfst, ist schließlich genau das, was sich langsam aber stetig entwickelt hat und zu dem zusammengewachsen ist, was auf "Shallow Life" veröffentlicht wird.

Björn:
"Shallow Life" - es würde mich wundern, wenn hinter diesem Titel keine konkrete Bedeutung stecken würde...

Cristiano:
Als wir das Album komponierten, haben wir mit unseren beiden Hauptsongschreibern Andrea und Cristina lange diskutiert, welches Konzept wir verfolgen und was genau wir mit diesem Album ausdrücken wollen. Wir sind dabei immer wieder auf das pikante Thema gestoßen, welche Werte im Leben eine übergeordnete Bedeutung haben. Ist es wichtig, einen guten Job zu haben oder viel Geld zu besitzen? Zählt das dicke Auto in der eigenen Garage? Oftmals denken wir immer nur in Superlativen und neigen zu Übertreibungen und das wollten wir in den Songs dieses Albums auf den Punkt bringen. Am besten ist uns dies fraglos im Titelsong gelungen, in dem wir diesen Zustand aus unserem Blickwinkel portraitieren.
Alles in allem ist "Shallow Life" ist jedoch kein Konzeptalbum im klassischen Sinne. Vielmehr steht hinter den Themen der Songs ein Konzept, das immer wieder tiefgründig angeschnitten wird, sich aber eben nicht wie eine Story durch die ganze Scheibe zieht. Wir wollten etwas tiefer in dieser Materie graben und uns gleichzeitig noch einmal ganz klar von der typischen Rockstar-Lyrik entfernen.

Björn:
Unbestritten ist euer Status auf der anderen Seite des großen Teiches enorm gewachsen. LACUNA COIL sind auch in den Staaten eine echte Marke für qualitativ hochwertigen Metal geworden. Welchen Einfluss hatte dieser Aspekt auf die Entscheidung, "Shallow Life" in den USA aufzunehmen?

Cristiano:
Nun, das hat sicherlich eine Rolle gespielt. Wir waren alle schon immer Fans von all diesen modernen amerikanischen Bands wie KORN, NIRVANA oder ALICE IN CHAINS. Zweifelsohne haben die Bands aus dieser Region einen charakteristischen Sound, der uns schon immer schwer beeindruckt hat. Daher ist es sozusagen schon fast ein Traum, der nach vielen Jahren in Erfüllung gegangen ist, da wir uns immer gefragt haben, was ein gefragter amerikanischer Produzent wohl aus dem Klang einer europäischen Band wie LACUNA COIL machen würde. Und das Ergebnis ist großartig. Das Album klingt nach wie vor europäisch, hat aber diesen ganz speziellen Unterton, den wir uns vorab gewünscht hatten. Ferner unterstreicht es auch unser Bestreben, alles richtig zu machen, denn so fühlt sich die Art der Produktion für "Shallow Life" ganz klar an.

Björn:
Mit Don Gilmour habt ihr euch dabei für einen Produzenten entschieden, der schon ein gehöriges Renommee für seine Arbeit mit Bands wie NINE INCH NAILS oder LINKIN PARK aufgebaut hat. Warum habt ihr ausgerechnet ihn ausgewählt?

Cristiano:
Nun, uns ging es weniger darum, einen Mainstream-Produzenten an Land zu ziehen. Es war eher eine Bauchentscheidung, denn am Ende wollten wir jemanden dabei haben, von dem wir wussten, dass er den bestmöglichen Job machen würde. Don Gilmour machte uns die Entscheidung aber auch nicht gerade schwer, denn er meldete sich sofort auf die von uns zugesandten Demos und war fast schon fanatisch, mit einer Band wie uns arbeiten zu dürfen. Das war für uns natürlich eine riesige Überraschung, da der Kerl im Mainstream sehr aktiv und gefragt ist. Bereits vor den Aufnahmen spürten wir sehr deutlich, dass die Chemie zwischen uns stimmte. Er kam nach Mailand, um die Songs durchzusprechen und zu analysieren und schien hierbei sehr enthusiastisch.
Don ist eine Person, die dir bei der Arbeit nicht hereinredet und erzählt, was du zu tun hast. Stattdessen geht er eher relaxt vor und versucht einfach nur, das aus dir herauszukitzeln, was noch verborgen ist. Er arbeitet mit den Basics und entwickelt diese mit dir zusammen weiter, ohne dabei einen zu deutlichen Einfluss zu nehmen. Als Produzent war er gerade deswegen spitze, weil er uns ermutigte, einfach Dinge auszuprobieren, die wir alleine sicher nicht gemacht hätten. Manchmal hat es zwar nicht hingehauen, doch in den meisten Fällen hat er uns von Fortschritt zu Fortschritt getrieben. Es war insgesamt ein sehr demokratischer Prozess, der uns als Band noch stärker gefestigt hat. Wir haben eine Menge dazugelernt und außerdem eine Menge Spaß mit diesem einzigartigen Menschen gehabt.

Björn:
Eure Entwicklung ist in der Tat beachtlich. Ich erinnere mich noch sehr gut, die Band damals zum ersten Mal beim Dynamo Open Air 1999 gesehen zu haben, und das als kleiner Gothic-Metal-Act auf einer nächtlichen Zeltbühne. Zehn Jahre später ist eure Reputation ungeheuer gewachsen; unter anderem seid ihr sogar mit Gruppen wie ALICE IN CHAINS und NINE INCH NAILS getourt. Erstaunlich ist dabei, dass ihr euch musikalisch stark gewandelt, den Kern eures Sounds aber kontinuierlich beibehalten habt. Wie ist dies möglich gewesen?

Cristiano:
Wichtig ist sicherlich, dass wir sehr offen mit allen möglichen Einflüssen umgehen. Wir hören natürlich in erster Linie Rock und Metal, haben uns aber auch nie vor den Entwicklungen in der klassischen sowie in der Popmusik verschlossen. Ein gutes Beispiel hierfür ist, dass wir mit ganz unterschiedlichen Bands wie etwa NINE INCH NAILS und BLOODHOUND GANG unterwegs gewesen sind. Musikalisch liegen zwischen diesen Acts Welten, und dennoch haben sie uns beide stark geprägt, zumindest was ihre Arbeitseinstellung und ihre Präsenz angeht. Es scheint merkwürdig, aber die Einflüsse kommen tatsächlich aus den verschiedensten Lagern, und das ist auch gut so. Wir sortieren nicht kategorisch aus, ob ein inspirativer Gedanke nun zu LACUNA COIL passt oder nicht. Davon haben wir letzten Endes deutlich profitiert, und mit dieser Einstellung sind wir nicht nur als Band gewachsen, sondern wir haben auch den Respekt und die Reputation bekommen, auf die wir heute stolz sein dürfen.

Björn:
Hätten ihr euch denn in der Anfangsphase der Band überhaupt zu träumen gewagt, diesen Status eines Tages erreichen zu können?

Cristiano:
Definitiv nicht! (lacht) Wir hatten sicher unsere Träume, doch auch wenn wir uns immer wieder verbessern konnten, hätten wir nie daran geglaubt, eines Tages einen so guten Ruf zu haben.

Björn:
Wann genau habt ihr realisiert, dass ihr den Durchbruch endgültig geschafft habt?

Cristiano:
Das war 2003, als wir in den Staaten getourt sind. Wir spielten zunächst als Vorband von OPETH und später mit TYPE 0 NEGATIVE und ANTHRAX, und infolge dessen spielten sehr viele Radiostationen unseren Song 'Heaven's A Lie'. Nach anderthalb Monaten hatten bereits 80 Sender diesen Song im Programm, was uns völlig überraschte, da wir nun definitiv keine Band sind, deren Sound nach massivem Radio-Airplay verlangt. Zu diesem Zeitpunkt stellten wir fest, dass sich die Sachen endlich in Bewegung gesetzt haben und das Interesse an der Band schlagartig größer wurde. Als wir dann noch die Chance bekamen, an der Ozzfest-Tour teilzunehmen, war der Knoten geplatzt.

Björn:
Oftmals assoziiert man mit eurer Band lediglich die Person Cristina Scabbia. Ist dies nicht manchmal störend für die anderen Mitglieder in LACUNA COIL?

Cristiano:
Oh, ich denke, das ist eine ganz natürliche Sache. Die Tatsache, dass sie in den Medien und auch sonst immer an erster Stelle steht, hat sicher auch damit zu tun, dass Frauen in dieser Szene nach wie vor eine untergeordnete Rolle spielen und daher auch einen gewissen Exotenbonus genießen. Andererseits stellen die Leute nach einer Weile auch fest, dass nicht nur diese heiße Dame zur Band gehört, sondern auch das musikalische Fundament zu überzeugen weiß. Wären unsere Songs langweilig oder schlecht, würden sich die Leute ja schließlich auch langfristig abwenden - doch das ist eben nicht der Fall!

Björn:
Ihr seid als Part der italienischen Metal-Szene sowieso eher Exoten, habt euch aber auch jetzt durch die schwache Phase dieser Szene gekämpft. Gerade traditionell ausgerichtete Gruppen wie RHAPSODY, LABYRINTH oder DOMINE sind nur noch ein Schatten dessen, was sie einst verkörperten, und haben alle ihren Beitrag dazu geleistet, dass man das Interesse an dieser Szene völlig verloren hat. Ihr hingegen seid von Jahr zu Jahr stärker geworden. Hast du hierfür eine logische Erklärung?

Cristiano:
Tja, es ist wohl Fakt, dass diese Bands einer Szene angehören, die von Anfang an klar definiert war und sich musikalisch stark limitiert hat. Dementsprechend gehörten wir dieser Szene eigentlich nie an, was es uns letztendlich leicht machte, diesen Exotenbonus für uns zu nutzen. Ich persönlich finde es schade, dass man den italienischen Metal über Jahre belächelt hat, denn ich denke immer noch, dass die Szene eine Menge Potenzial hatte und nach wie vor hat. Und ich bin mir auch sicher, dass künftig einige talentierte Bands an die Oberfläche gespült werden und ihre Chance bekommen. Das Problem ist auch nicht mal dringend die musikalische Qualität, auf denen ja diese Vorurteile basieren. Es ist vielmehr so, dass die Italiener selbst zu wenig tun, um ihre eigenen Bands zu pushen und zu unterstützen. Wir wussten damals um diese Tatsache und haben uns direkt um ein ausländisches Label gekümmert. Diesen Schritt konnten viele Bands leider noch nicht gehen. Und genau das macht den Unterschied: Sicherlich gibt es genügend Gelegenheiten für einheimische Bands, ihre Musik live zu präsentieren, und zweifellos ist auch das Underground-Following sehr groß. Doch die Szene bekommt aus den wichtigsten Richtungen einfach zu wenig Unterstützung, so dass sie gerade wieder sehr tief in der Versenkung verschwunden ist.

Björn:
Was könntet ihr denn für die heimische Szene tun? Wie stark ist euer Einfluss?

Cristiano:
Ich hoffe, dass wir eine Menge tun können, und das nicht nur aktiv. Die Tatsache, dass wir auch im Ausland Erfolg haben, richtet hoffentlich wieder einige Business-Blicke auf die Rockmusik aus Italien. Zudem hoffe ich, dass viele talentierte, ambitionierte Bands an unserem Beispiel lernen und sich motivieren können. Es gibt eigentlich nichts, was jemanden als Musiker stolzer machen könnte.

Björn:
Wie schauen nun eure weiteren Pläne aus? Wann sieht man LACUNA COIL wieder aktiv hier in Deutschland?

Cristiano:
Oh, ich denke, schon sehr bald. Wir haben just die ersten Sommer-Festivals geplant und werden beispielsweise auch nach Wacken kommen. Zum Ende des Jahres wird dann eine reguläre Tour nachgeschoben.

Björn:
Ihr habt euch in den letzten Jahren keine längeren Pausen gegönnt und wart eigentlich ständig unterwegs oder im Studio. Habt ihr nicht ein bisschen Angst vor dem Punkt, an dem ihr merkt, dass ihr ein wenig übersättigt seid?

Cristiano:
Das liegt einzig und alleine daran, wie man zu dieser Sache steht. Wir haben immer noch eine Menge Spaß am Touren und Komponieren, so dass ich mir aktuell noch nicht vorstellen kann, der Sache irgendwann überdrüssig zu sein. Dennoch ist es ganz klar so, dass man eine ganze Menge verpasst und sein Privatleben eigentlich völlig opfert. Das ist ein hoher Preis, dessen man sich ständig bewusst sein sollte. Nichtsdestotrotz fühlen wir uns derzeit alle gut in dieser Situation und werden wohl auch im gleichen Tempo weitermachen - wohl wissend, dass wir eventuell eines Tages traurig sein könnten, ein so großes Opfer gebracht zu haben.

Björn:
Sobald das Interview beendet ist, werde ich nun zum ersten Mal in euer neues Album reinschnuppern. Daher, dein Schlusswort bitte: Was erwartet die Hörer auf "Shallow Life"?

Cristiano:
Nun, ganz klar, es ist ein anderes Album, was das Songwriting betrifft, aber am Ende eine typische LACUNA COIL-Platte mit weiteren neuen Einflüssen und einer fantastischen Produktion. Ich bin mir ziemlich sicher, dass jeder, der die Band mag, auch dieses Album stark finden wird!

Redakteur:
Björn Backes

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