Im Rückspiegel: BLIND GUARDIAN (Teil II: "Tales From The Twilight World" - "Somewhere Far Beyond")

17.09.2019 | 22:58

Die beste deutsche Metalband in ihrer Hochphase!

Mein Kollege Jakob Schnapp hat auf famose Art in die Geschichte der aus meiner Sicht kreativsten und großartigsten deutschen Metalband eingeleitet. Wer den Artikel noch mal nachlesen will, sollte diese Seite öffnen. Mich begeisterte die frühe BLIND GUARDIAN-Phase tatsächlich erst nach einigen Jahren des Fanseins, da ich die Band über das Werk der Neunziger kennen gelernt hatte. Daher freue ich mich sehr, mit euch heute in die beiden ersten Alben dieser Epoche einzusteigen. Ich hoffe, dass ihr sie beim Mitlesen noch mal mit ebenso viel Freude anhört wie ich. Erst gestern habe ich eine andere europäische Metalscheibe gehört - und hatte am Ende der CD erst Mal Lust auf BLIND GUARDIAN, denn wer macht es besser als die Könige aus Krefeld?

Tales From The Twilight World (1990)

"Tales From The Twilight World" kann klar als Transit-Album gesehen werden. Hier dominiert noch der frühe Speed Metal der Hamburger Schule, aber das hymnische Element gewinnt mehr Raum. Ich denke, dass das größte qualitative Alleinstellungsmerkmal damals schon Hansi Kürsch war, der zwischen vielen großen deutschen Metalsängern vielleicht die außergewöhnlichste Stimme hat. Hansi mitsamt der melodischen Chöre dominiert mit seiner wunderbaren, emotionalen Stimme die Titel. Bei 'Traveler In Time' zum Beispiel, basierend auf Dune-Literatur, einer der besten Hymnen der Bandgeschichte, kann neben dem feinen Songwriting auch das Olbrich-/Siepen-Gitarren-Schreddern in hohem Tempo überzeugen. Und Thomen spielt nicht nur sehr schnell und tight, sondern bereits recht abwechslungsreich auf seinen Trommeln. Mit 'Welcome To Dying' folgt dann der Titel, der mich für das Frühwerk der Gardinen gewinnen konnte. Was für eine intensive, mitreißende Abfahrt! Metal aus Deutschland kann ich mir im Grunde nicht besser vorstellen als in diesem Song - einzig die Band selbst hat dieses Level später noch (mehrfach) getoppt. Der Sound dieses Albums ist weiter von Kalle Trapp (ANGEL DUST, DESTRUCTION, GRINDER, MAD MAX, SAXON) verantwortet worden und knallt ohne Ende.

Wenn wir schon mal beim "Drumherum" sind (ich verliere mich beim Schreiben sonst wieder im wunderbaren 'Welcome To Dying'), Andreas Marschall war beim Coverartwork natürlich in Topform. Überhaupt hat er fraglos die besten und kultigsten Gardinen-Artworks verantwortet.

Mit 'Weird Dreams' folgt dann eine Instrumental-Abfahrt, die durch ihre mehrstimmigen Gitarrenleads und das abwechslungsreiche Schlagzeugspiel überzeugt. Dann geht es nach, genau, Mittelerde! Und dort zum 'Lord Of The Rings'. Mit diesem Akustik-Track wird eine langjährige Krefeld-Tradition eingeläutet. Der wunderbar warme, emotionale Hansen-Gesang, dazu schönes akustisches Gezupfe auf den Sechssaitern... aber selten funktionierte diese Mischung so großartig wie 1990. Auch die dezent eingesetzten Streicher (damals sicherlich vom Band) passen atmosphärisch hervorragend, und wenn dann plötzlich doch Schlagzeug und E-Gitarre dabei sind, bleibt dem glücklichen Rollenspieler das Lächeln auf dem Gesicht. Einer der besten Songs der Bandgeschichte. Aber damit ist natürlich noch nicht alles gesagt.

Mit 'Goodbye My Friend' gibt es wieder härteren Metal, der aber, anders als die eröffnenden Tracks, nicht sonderlich speedig ausfällt. Hansi singt so aggressiv, wie man es später kaum noch kennt. Gerade diese brillanten Screams in den hohen Lagen hat wohl niemand so drauf wie Hansi. Und auch in der Topdimension der Gardinen, großartige Refrains, kann dieser Titel punkten. Der Semi-Titelsong ('Lost In The Twilight Hall') ist dann eine sechsminütige Reise durch den Speed Metal auf allerhöchstem Niveau. Mit Kai Hansen taucht hier zudem noch mal einer der charismatischsten deutschen Sänger auf. Wie Kai einfach alles aufwertet, sobald er am Mikro steht, weiß man spätestens, seit er GAMMA RAY 1995 gerettet hat. Der Refrain killt dann einfach alles, meine Güte - es gibt wenige Songs, bei denen ich Gänsehaut und Freudentränen gleichermaßen verspüren kann, aber hier ist echt alles da! Und sowohl Schlagzeug als auch Gitarre sind hier schon ziemlich progressiv auskomponiert.

'Tommyknockers', was für ein dämlicher Songtitel... das dachte ich mir zumindest, als ich die Scheibe damals endlich für 8 € im heimischen Secondhand-Laden gefunden hatte. Das Preisschild habe ich übrigens nie abbekommen... aber hier gibt es noch mal puren Speed Metal der alten Schule, untermalt mit einer wunderbaren Gitarrenharmonie direkt nach dem Refrain. Trotzdem ist dieser Track der wohl am wenigsten essenzielle der Scheibe. 'Altair 4' ist ungewöhnlich und eigenständig, aber spannend. Beide Songs basieren textlich auf dem Stephen King-Roman "The Tommyknockers", von dem ich damals noch nichts gehört hatte. Und dann folgt mit 'The Last Candle' quasi die Bandhymne, die natürlich ein Klassiker ist. Ich gebe zu: Diese Form des melodischen Speed Metals fehlt mir heute auch auf späteren Releases. Mit 'Run For The Night' folgt noch ein Live-Bonus vom Debüt, der natürlich cool, aber nicht sonderlich zwingend ist.

Insgesamt ist dieses dritte Album der Krefelder klar ein Meisterwerk, ein absolutes 10-Punkte-Album. Vom Rock Hard wurde es zurecht in der Liste der Top 300-Alben (und später im Buch "Best Of Rock & Metal") berücksichtigt. Platz 43 in den deutschen Albencharts war damals eine Meisterleistung für eine undergroundige Metalband, und dass auf allen Live-Alben Songs dieser Scheibe zu finden sind, sagt auch etwas über den Kultstatus bei den Fans aus. Für mich das drittbeste Album der Bandgeschichte, und wohl auch eines der fünf besten deutschen Metal-Alben aller Zeiten. Aber es sollte noch besser kommen.

 

Somewhere Far Beyond (1992)

Ich kann mich nie so recht entscheiden, ob ich dieses Album für das beste deutsche Metalalbum halten soll, oder doch den direkten Nachfolger. Aber das sind natürlich absolute First-World-Problems. Während ich "Somewhere Far Beyond" höre, tendiere ich dazu, dieses Album zu bevorzugen. Momentan höre ich den Remaster, aber das Original ist natürlich ebenso großartig. In meinem Regal stehen beide Varianten, und das soll auch so bleiben. Auch dieses Scheibchen fand der Teenie-Jhonny einst im heimischen Bamberger Second-Hand-Shop, aber auch der schöne Nuclear Blast-Re-Release von 2018 hat seinen Reiz. Dazu ist das Marschall-Artwork noch stärker als auf dem Vorgänger.

Ich liebe es, den (von "Blade Runner" inspirierten) Einstieg zu 'Time What Is Time' zu hören. Der Song ist noch tief im Speed Metal verwurzelt. Aber die hymnischen Gesänge und majestätischen Riffs nehmen auch viel von dem monumentalen Sound der nächsten Jahre vorweg, der fraglos auf diesem Album seinen tatsächlichen Anfang nimmt. Im Riffing sind jetzt nicht nur die deutschen Vorbilder (vor allem HELLOWEEN) präsent erkennbar, sondern auch METALLCA oder SAVATAGE, vielleicht sogar ganz frühe ICED EARTH-Einflüsse (hört euch mal an, wie hier die Rhythmus-Gitarre gespielt wird, dann versteht ihr, was ich zu erahnen meine).

Für den fetten Sound sorgte ein letztes Mal Kalle Trapp. Auch bei 'Journey Through The Dark' könnt ihr euch davon überzeugen. Der Speed Metal hat noch großen Einfluss auf den Bandsound. Das pianobegleitete Zwischenspiel 'Black Chamber' sorgt für eine stimmungsvolle Überleitung. Mit 'Theatre Of Pain' werden massive Synthies aufgefahren. Klar kann man hier schon an nachfolgende Scheibchen und (viel zu) viele Spuren denken, aber man kann den Track auch einfach nur genießen. Auch die mehrstimmigen, sich überlappenden, chorischen Gesänge nehmen hier bereits einen großen Raum ein. Aber auch der kraftvolle Gesang von Hansi hat seinen Platz. Beim mystischen 'The Quest For Tanelorn' ist der Hansen-Kai noch mal als Leader an der Sechssaitigen dabei und zaubert sich einige wirklich feine Melodien aus dem Handgelenk. Die Mischung aus sehr hymnischen Refrains und enorm aggressivem Gesang in den Strophen fasziniert mich jedes Mal neu. Auch die monastisch anmutenden Chorparts auf Latein werten dieses kleine Juwel auf. Textlich geht es dabei um den Eternal Champion von Michael Moorcock, der viele Metal-Bands inspiriert hat. 'Ashes To Ashes' entstammt dem Begräbnisritual, ist in den Strophen noch relativ speedig angesiedelt, der Refrain würde aber schon auf die "Nightfall In Middle-Earth" passen und ist im positivsten Sinne "Würfel Metal".

Mit 'The Bard's Song: In The Forest' folgt der wohl bekannteste und präsenteste Song der Band. Phasenweise war er auf vielen Partys etwas überpräsent. Das ändert aber natürlich nichts an der Klasse des Tracks. Die zweistimmigen Gitarrenleads sind verzaubernd, und mit Hansi singt einfach der einfühlsamste Metalsänger darüber hinweg. Wahnsinn. Ich frage mich manchmal, wie sehr mich der Titel berühren würde, wenn ich ihn heute kennen lernen dürfte. So wird Lagerfeuerromantik, Rollenspieleratmosphäre und musikalische Brillanz in einem Edelstein verschmolzen, der eines Abenteuers von Beren und Luthien absolut würdig wäre. Die Akkordfolge ist auch im zweiten Abschnitt präsent. 'The Bard's Song: The Hobbit' ist wieder knietief in Mittelerde versunken, aber auch (anders als der erste Part) im Metal. Anfangs fehlte mir etwas der Zugang zu diesem zweiten Part, mittlerweile finde ich ihn aber ähnlich genial wie den akustischen Einstieg.

Der wahre Höhepunkt des Albums folgt aber erst noch. Nach 'The Piper's Calling', einem wunderbaren Dudelsack-Instrumental, folgt 'Somewhere Far Beyond', und der Titeltrack dieses Albums ist aus meiner Perspektive der beste Song der Bandgeschichte. Hier gibt es Speed Metal vom Feinsten, die vielleicht besten Kürsch-Vocals überhaupt, dezente Chöre, den besten Refrain der Gardinen, wunderschöne Gitarrenharmonien... als Teenie saß ich in Italien am Strand und versuchte, jede Melodie mitzusingen, mitzugrölen, irgendwie die hohen Töne zu treffen. Kein Titel ist für mich so emotional mit dieser großartigen Band verbunden, nie wieder erreichten die Gitarren diese mörderische Präzision (hört euch die wunderbare Mischung aus Soli und Rhythmusgitarren an!). Und für all die, die (völlig unerklärlich) BLIND GUARDIAN aufgrund des Gesangs nicht leiden können: Hört euch 'Somewhere Far Beyond' an. Wenn ihr dann nicht von der überragenden Qualität von Hansi Kürsch überzeugt seid, ist euch auch nicht mehr zu helfen. Für mich wird hier alles auf die Spitze getrieben, wenn im letzten Refrain alles einen Ganzton nach oben geht. Mein einziger Kritikpunkt wäre, dass der Track mit 7:34 noch einen Tick zu kurz ausgefallen ist. Eine Komposition auf diesem Niveau hätte man für mich ruhig auf zehn Minuten auswalzen dürfen.

Am Schluss gibt es zwei Coverversionen und eine aufgeblähte Extraversion. Erst einmal zu den Covers. 'Spread Your Wings' ist eigentlich ein QUEEN-Song, aber er passt auch super zur Stimme von Hansi Kürsch. Und dass QUEEN ein wesentlicher Einfluss auf BLIND GUARDIAN war (und ist), lässt sich schon auf diesem Album nicht abstreiten. Auch für mich war BLIND GUARDIAN ein Grund, mich intensiver mit QUEEN zu befassen. Ebenfalls erst nach BLIND GUARDIAN lernte ich die britische Institution SATAN kennen. Bei dem Titel 'Trial By Fire' denke ich sonst ehrlich gesagt zuerst an TESTAMENT. Weitere Songs mit dem Titel habe ich von SAVAGE GRACE, ELIXIR und JOURNEY hier... aber BLIND GUARDIAN orientiert sich an dem genialen Track von SATAN. Die Briten klangen auf "Court In The Act" nie so frisch und wild wie sie live klingen (beste zurückgekehrte Band aller Zeiten?). Und natürlich ist BLIND GUARDIAN wie geschaffen dafür, eine Band zu covern, die so überragende Gitarrenharmonien abliefert. Und Hansi Kürsch klingt logischerweise nicht wie Brian Ross, aber auch seine Stimme macht hier eine gute Figur. Einziges Manko dieses sonst fehlerlosen Albums: 'Theatre Of Pain' hätte es nicht in einer Version mit leichten Keyboard-Synthie-Untertönen gebraucht. Das Original ist klasse und ausreichend, die "Classic Version" nicht wesentlich besser. Aber da es sich um einen reinen Bonus handelt, wollen wir dadurch das Gesamtkunstwerk nicht abwerten, das in meine Top 10 der besten Metal-Alben aller Zeiten gehört. Dass das Album auch kommerziell ein großer Erfolg war (Platz 36 der deutschen Albencharts) dürfte wenig überraschen.

 

Das war es erst Mal mit Runde zwei. Jakob wird euch dann in "Tokyo Tales" und "Imaginations From The Other Side" (das andere beste Album der Band...) mit hinein nehmen. Sicher wieder eine lesenswerte Lektüre. Ich hoffe, dass ihr beim Lesen ähnlich viel Freude wie ich beim Anhören hattet. Ich bin immer noch ziemlich geflasht von den Alben. Und wer sie wirklich noch nicht kennt: hören und kaufen!

Redakteur:
Jonathan Walzer

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