HELANGÅR: Interview mit Johannes Fuß

20.05.2008 | 12:45

Gibt es heutzutage nicht viel zu viele Bands, die einfach nur nett gemachte Mucke spielen, aber im Grunde genommen genau den selben Scheiß wie Hunderte ihrer Kollegen verzapfen? Eine Band mit Anspruch, die definitiv originell und eigenständig zu Werke geht, ist HELANGÅR. Das bedeutet aber auch, dass das im Moment nur aus den zwei Brüdern Johannes und Florian Fuß bestehende Duo stark polarisiert. Und es bedeutet weiterhin, dass die beiden hier keine Mucke zum Hören "im Vorbeigehen" machen, sondern dass man sich als Hörer mit dem Werk intensiv, konzentriert und unvoreingenommen auseinander setzen sollte. Alles Weitere zu "[kwIn'tes sens] – A Spiritual Amputation" darf jetzt Johannes Fuß selbst erzählen.


Stephan:
Euer neues Album heißt "[kwIn'tes sens] – A Spiritual Amputation". Was ist für euch selbst die Quintessenz dieser Scheibe?

Hannes:
Die Scheibe selbst ist die Quintessenz von fünf Jahren HELANGÅR, dir jetzt die ganzen 46 Minuten aufzuschreiben, wäre etwas übertrieben.

Stephan:
"[kwIn'tes sens]" ist ohne jeden Zweifel eine sehr ambitionierte Scheibe. Wie würdest du eure Entwicklung von der Gründung an bis zum heutigen Tag beschreiben, sowohl in musikalischer Hinsicht als auch textlich/konzeptionell?

Hannes:
Textlich sind wir mit "[kwIn'tes sens]" in der Gegenwart angekommen, nach dem lyrischen Wikingerdebut "Evening In Valhalla" und der infernalischen Bergidylle auf "Schlafes Bruder". Gleichzeitig haben wir uns musikalisch mit jedem Album neu definiert und dabei sicherlich einige nutzlose Genregrenzen hinter uns gelassen.

Stephan:
"[kwIn'tes sens]" ist ein Album mit einem inhaltlichen Konzept, welches vereinfacht gesagt die Kritik am wissenschaftlichen Fortschritt bzw. an den Begleiterscheinungen in Bezug auf die Menschen umfasst. Kannst du dieses Konzept bitte ein bisschen näher beleuchten?

Hannes:
Es ist keinesfalls als Kritik am wissenschaftlichen Fortschritt zu sehen. Vielmehr ist es eine Kritik am Absolutheitsanspruch der Wissenschaft, die von sich sagt, das Leben und die Welt letztlich auf Formeln reduziert darstellen zu können und damit ALLES zu erklären. Es ist eine Kritik an der Gutgläubigkeit der Menschen, die beginnen die gleichen Fehler zu machen wie die Menschen des Mittelalters, als diese sich bedingungslos der Kirche unterworfen haben.
Eben diese Unterwerfung, welche ein Thema der vorangegangenen Alben war, wurde ja mit der Wissenschaft überwunden – nun müssen wir aufpassen uns nicht einem neuen Meister zu unterwerfen.

Stephan:
Welche Folgen siehst du, wenn die von euch beschriebene Entwicklung (Stichwort: "Die vier großen Demütigungen des Menschen") weiter Raum greift? Findest du, dass die meisten Menschen heute schon "spirituell amputiert" (in Anspielung auf den Subtitel des Albums) sind?

Hannes:
Die vierte Demütigung des Menschen - das Absprechen eines freien Willens und die völlige Entschlüsselung des menschlichen Gehirns - ist derzeit in der wissenschaftlichen Diskussion ja sehr en vogue. Ich beziehe mich hier vor allem auf das jüngst erschienene Manifest einiger führender deutscher Hirnforscher, die darin aufgrund ihrer Erkenntnisse schlussfolgerten: "Geist und Bewusstsein - wie einzigartig sie von uns auch empfunden werden - fügen sich in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht".
Einerseits ist es wissenschaftsgeschichtlich ein logischer Schritt, nachdem Kopernikus die Welt aus dem Zentrum des Universums verbannte, Darwin uns nicht als gottgleich, sondern als weiterentwickelte Affen entlarvte und schließlich Freud uns auch noch die Freiheit des Geistes absprach. Andererseits ist diese Geschichte der Demütigungen auch eine Geschichte des Scheiterns. Welche Antwort liefert uns die Erkenntnis Galileis, als er aus dem Kreisen der Jupitermonde eine Ahnung unseres Universums bekam, auf die großen Fragen der Menschheit?
Es geht nicht darum eine neue Spiritualität zu fordern, sondern darum zu erkennen, dass weder Religion noch Wissenschaft befriedigende Antworten auf die philosophischen Grundfragen unserer Existenz liefern können.

Stephan:
Gewinnt ihr dem wissenschaftlichen Fortschritt auch positive Seiten ab oder denkt ihr (mal etwas provokant formuliert), dass die Welt vor 600 Jahren, also vor Kopernikus, Darwin, Freud und der modernen Wissenschaft, eine bessere war?

Hannes:
Die Welt war nicht besser oder schlechter, sie war vor allem jünger (lacht) - vielleicht war sie einfacher. Natürlich nicht einfacher was Fragen der Ernährung, Gesundheit etc. betrifft, aber einfach weil alles eine unumstößliche Ordnung hatte. Der wissenschaftliche Fortschritt hat dazu geführt, dass wir die Antworten der Kirche nicht mehr akzeptieren können und hat eine unheimliche Komplexität geschaffen, die - wenn man bereit ist sich darauf einzulassen - dazu führt, dass man sich mit den Antworten der Wissenschaft in ihrer letztendlichen Konsequenz ebenfalls nicht abfinden kann.
Der große Erfolg der Wissenschaft ist die Möglichkeit der Präzisierung unserer Philosophie, die uns aber letztendlich mit den gleich leeren Händen da stehen lässt, wie vor 3000 Jahren, als die Menschen das erste Mal erwachten und sich fragten, warum sie hier sind. Vielleicht wird die fünfte Demütigung des Menschen die sein, zu erkennen, dass trotz seiner Wissenschaften alles unklar ist.

Stephan:
Ist die Vermutung richtig, dass sich bei diesem Album die musikalische Komponente komplett dem gewählten Konzept unterordnen musste? Oder anders gefragt, musstet ihr euch beim Songwriting in irgendeiner Weise einschränken, um dem Textkonzept treu bleiben zu können?

Hannes:
Eingeschränkt haben wir uns diesmal wirklich nicht mehr (lacht). Text und Musik gehen bei uns Hand in Hand. Wir machen die Musik, von der wir derzeit überzeugt sind und verbinden sie mit dem textlichen Rahmen, der uns beschäftigt. Es ist mehr eine Symbiose aus textlichen Konzept und lyrischem Rahmen, die sich gegenseitig bereichern und gemeinsam entstehen.

Stephan:
Kann man davon ausgehen, dass euer nächstes Album in eine völlig andere Richtung gehen wird und was für Ideen schwirren euch diesbezüglich schon im Kopf herum?

Hannes:
Nein, kann man nicht, wir haben das dumpfe Gefühl, angekommen zu sein. Allerdings nicht zum ersten Mal, so dass man auch darauf nicht allzu viel geben darf. Es ist wie immer bei uns alles offen. Ideen gibt es, Musikschnipsel und Textfragmente, aber wir möchten derzeit primär auf die Bühne zurück um dieses Album zu präsentieren. Wir haben in Deutschlands Metal-Underground-Szene sicherlich einen Ruf zu verlieren, den wird es auch beim nächsten Album zu verteidigen gelten.

Stephan:
HELANGÅR ist mittlerweile zu einem Duo geschrumpft. Was war los, warum sind euch eure bisherigen Mitstreiter abhanden gekommen (immerhin wart ihr vor zwei Jahren noch zu fünft)?

Hannes:
Kurz gesagt, es war den Anderen räumlich und zeitlich einfach nicht mehr möglich genügend Zeit für dieses ehrgeizige Projekt aufzubringen. Es gab keinen Streit, wir treffen uns aus naheliegenden Gründen zwar leider viel zu selten, sind aber nach wie vor sehr gut befreundet.

Stephan:
Wie fühlt es sich an, jetzt nur noch zu zweit Musik zu machen? Arbeitet ihr nun fokussierter, weil weniger Personen mitzureden haben oder würdet ihr eher sagen, dass euch die vielfältigeren oder breiter gefächerten Einflüsse beim Songwriting fehlen?

Hannes:
Da ich schon immer für das Songwriting zuständig war, hatte dies keinen großen Einfluss auf die Musik. Sicher würde die Scheibe etwas anders klingen, aber es ist mehr die menschliche Komponente, die uns fehlt. Die Arbeit ist allerdings deutlich einfacher geworden, auch dadurch, dass wir uns unser eigenes kleines Studio aufgebaut haben und in Mannheim zusammen wohnen. Die Jam-Sessions sind zu zweit natürlich deutlich öder.

Stephan:
Sucht ihr momentan nach neuen Mitstreitern für ein größeres Ensemble oder wollt ihr vorerst als Duo weitermachen?

Hannes:
Wir suchen (auch in eurem Forum) noch einen Schlagzeuger, dann kann es wieder los gehen. Bei den anderen zu besetzenden Stellen haben wir bereits Leute im Kopf.

Stephan:
Wer sich euer Album anhört, muss sich darauf einstellen, dass er/sie möglicherweise nicht gleich mit eurer Musik warm wird und von euch beim Hören stark gefordert wird. Könnt oder wollt ihr keine leichter verdauliche Musik schreiben und habt ihr im Umkehrschluss häufig mit Unverständnis bzw. Ignoranz zu kämpfen von Leuten, die in eure Musik einfach nicht die nötige Zeit und Geduld investiert haben?

Hannes:
Klares ja. Allerdings ist das nur ein Problem von Redakteuren, nicht von Käufern. Man muss bereit sein, sich darauf einzulassen, das war schon immer so bei HELANGÅR. Wir sehen uns darin bestätigt, dass es zwar ein auserlesenes, aber dennoch vorhandenes Klientel gibt, das wie wir auf der Suche nach neuen Herausforderungen zwischen all der Fastfood-Musik ist.

Stephan:
Was denkst du, welche Art von Hörer könnte sich von "[kwIn'tes sens]" angesprochen fühlen?

Hannes:
Thematisch sicherlich jeder Hörer, der an philosophischen Fragestellungen interessiert ist. Musikalisch kann ich mal die Vergleiche mit großen Bands zitieren, die in Besprechungen bisher gefallen sind, danach könnten wir uns irgendwo zwischen OPETH, MESHUGGAH, TEXTURES, DORNENREICH und NOCTE OBDUCTA befinden. Was diese Bands gemeinsam haben, ist ihr Drang etwas Eigenständiges, Neues zu kreieren und musikalische Grenzen auszuloten, unter diesem Aspekt trifft der Vergleich sicher zu.
Allerdings gab es bei unserem letzten Album aufgrund des weiblichen Gesangs etliche Vergleiche mit NIGHTWISH, die derart abwegig waren, dass man darauf nicht allzu viel geben darf. Freunde extremer, anspruchsvoller Musik sollten bei "[kwIn'tes sens]" auf ihre Kosten kommen.

Stephan:
Wie würdest du es jemandem, der von HELANGÅR bislang noch nichts gehört hat, schmackhaft machen, in eines eurer Alben reinzuhören? Welchen der Songs auf "[kwIn'tes sens]" könnte man als repräsentativ für die Band ansehen?

Hannes:
Ist das nicht die Aufgabe von Musikredakteuren (lacht)? Wir teilen es auf, nenn du uns den repräsentativen Song, ich mach die Musik schmackhaft.
Einerseits könnten wir auf die Unverwechselbarkeit pochen und die Möglichkeit etwas wirklich Neues zu entdecken. Andererseits sind der musikalische Anspruch und die Liebe zum Detail (die sich ja nicht nur im Musikalischen, sondern auch in der aufwendigen Gestaltung niederschlägt) noch ein Pfund, mit dem wir wuchern können. Wir haben aus vielen Reaktionen erfahren, dass dieses Album einen nicht mehr so schnell los lässt!
Jetzt du...

Stephan:
Gut, ich könnte mich jetzt damit rausreden, dass kein Song alle der so zahlreich vorhandenen Nuancen im Sound von HELANGÅR vereint, aber ich finde, dass insbesondere der Song 'Nichts' mit seiner starken Atmosphäre ein Highlight der Scheibe ist.
Weiter im Text. Ist das hauptsächliche Anliegen eurer Musik euch künstlerisch selbst zu verwirklichen oder geht es euch primär darum, andere Menschen zu erreichen und emotional zu berühren?

Hannes:
Wir möchten mit der Musik, mit der wir uns selbst verwirklichen möglichst viele Menschen berühren. Zeit und Geld in das Wiederkäuen von schon Vorhandenem zu investieren, wäre zwar einfacher, aber für uns absolut nicht befriedigend. Dafür nehmen wir gerne in Kauf gelegentlich nicht verstanden zu werden!

Stephan:
Ihr spielt nicht gerade regelmäßig Liveshows, eure letzte ist nun offenbar bereits über zwei Jahre her. Habt ihr vor, das neue Material auf die Bühne zu bringen (vorausgesetzt ihr findet die dafür nötigen neuen Bandmitglieder) und wenn ja, wie transformiert ihr eure Musik für die Umsetzung auf der Bühne?

Hannes:
Absolut! Wir arbeiten gerade daran, um dann mit neuem Schlagzeuger möglichst direkt loszulegen. Es wird sicher kleine Unterschiede zwischen CD und Liveversion geben. Ich finde es eigentlich immer ganz schön, wenn die Liveversion keine Kopie der CD-Version eines Stückes ist, sondern einen eigenen Charakter entwickelt. Wäre das nicht so, bräuchte man ja keine Konzerte mehr zu besuchen.

Stephan:
Vielen Dank für Eure Zeit und Erfolg für die Zukunft.

Hannes:
Danke für die interessanten Fragen!

Redakteur:
Stephan Voigtländer

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