Gruppentherapie: LORD OF THE LOST - "Blood & Glitter"

12.05.2023 | 14:47

Das neue LORD OF THE LOST-Album steckt nicht nur ob der ungewöhnlichen und überraschenden Veröffentlichungsherangehensweise voller Überraschungen. So gewann das Titelstück auch den deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest 2023 und wird Deutschland am Samstag in Liverpool vertreten. Grund genug, auch in Form einer Gruppentherapie dem Song sowie dem gesamten Album, das am 30. Dezember des vergangenen Jahres erschien, auf den Zahn zu fühlen. Wir wünschen viel Freude, Blut und Glitter!

Ein paar ausführlichere Worte haben wir in unserer Haupt-Rezension bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gefunden. Zu der kommt ihr über diesen Weg. Doch was meint der Rest?

 

Zunächst einmal muss ich LORD OF THE LOST ein Kompliment machen: Die Band ist wie geschaffen für den ESC. Schließlich geht es darum aufzufallen und Akzente zu setzen. Und das gelingt LORD OF THE LOST nicht nur musikalisch, sondern vor allem auch optisch. Wenn man schon überzieht, sollte man sich für die Vollbedienung entscheiden. Da bleiben auch keine Wünsche offen, denn Glamour gibt es wie auf Bestellung satt. Der Titeltrack des Albums ist klar der beste Song, absolut chartstauglich und extrem catchy. Ansonsten gefallen mir die Stücke am besten, die mehr in Richtung Dark Rock mit Wave-Einflüssen tendieren ('Forever Lost', 'Leaving The Planet Earth'), denn wenn es metallischer wird ('Destruction Manual', 'Leave Your Hate In The Comments'), kommen wir in Bereiche, die mir Modern Metal in seinen verschiedenen Ausprägungen grundsätzlich verleiden und gerne auch mal Ohrenschmerzen heraufbeschwören. Chris' Stimme überzeugt bei harschen Sequenzen jetzt auch nicht unbedingt. "Blood & Glitter" ist allein schon wegen seines Klangbildes kein Album, das ich zu Hause gerne auflegen würde, das aber doch über gewisse Qualitäten verfügt. Positiv ist auch, dass in einigen Videos die ganze Attitüde ironisch gebrochen wird.

Note: 6,5/10
[Jens Wilkens]

Mit einer Sache hat mein Kollege Jens definitiv recht, LORD OF THE LOST ist mit dem glamourösen und überdrehten Auftreten wie gemacht für den ESC. Und auch musikalisch ist 'Blood & Glitter' perfekt auf das Publikum des Song-Contests zugeschnitten, denn egal wie oft mir hier verkauft werden soll, dass wir "Metal" nach Liverpool schicken, am Ende ist der Song doch nur ein handzahmes Pop-Schäfchen, das sich mit aller Macht als Alternative-Metal-Wolf verkleiden möchte. Gut, eingängig ist der Track, so wie viele andere Songs auf dem gleichnamigen Album auch. Trotzdem weiß ich nicht so recht, was ich aus LORD OF THE LOST machen soll. Mal schielt die Band munter in Richtung Nu Metal, dann gibt's wieder in Alibi-Gitarren verpackten Pop, nur um im nächsten Moment in Richtung Neuer Deutscher Härte zu wechseln. Wenn das noch nicht reicht, kommt eine Prise Gothic und EDM hinzu, die schließlich mit ein paar Achtziger-Synthesizern garniert wird. Das ist alles kurzweilig und unterhaltsam, aber eben auch so gehaltvoll wie ein Kaugummi. Musikalisch gesättigt bleibt man nach dem bunten Varieté-Theater jedenfalls nicht zurück, weshalb ich auch nach mehreren Runden mit "Blood & Glitter" nicht so richtig warm werde. So gibt's zum Schluss 6,5 Punkte für ein Album, das zwar durchaus seine Momente hat, in Gänze aber einfach zu wenig Substanz mitbringt.

Note: 6,5/10
[Tobias Dahs]

Danke Tobias, danke Jens. Ich hatte schon die Befürchtung, dass die Benotung unseres Chefredakteurs stellvertretend für unser Magazin herhalten muss. Wo Marcel hier die Qualität für 9 Punkte (in Worten: neun!!) sieht, muss er mir mal bei einem Bierchen näher erörtern. Das ist in der Tat eher durchschnittlicher Dark Metal, der an allen Ecken auf Massenkompatibilität und kommerzielles Kalkül ausgerichtet ist. Hinzu kommen arg populistische Texte, welche man ja inhaltlich nicht wirklich kritisieren kann, die aber somit auf der Welle des Zeitgeistes mitsurfen und bei mir einen mehr als faden Beigeschmack hinterlassen. Ist das noch die Band, die mit 'Full Metal Whore', 'Gespensterhure' oder 'I'll Sleep When You're Dead' immer wieder auch dem "Dark" im Dark Metal seine Berechtigung gegeben hat? Ich denke nicht. Tobias Argument der als Popband getarnten Metal-Hoffnung wird noch dahingehend unterstützt, dass sich alles, aber auch wirklich alles auf Chris Harms stützt und der Rest der Band somit blass bleibt und keinerlei Akzente geben kann/darf. Das wirkt eher wie eine One-Man-Show statt wie ein in sich geschlossenes Kollektiv, welches immer wieder neue Impulse zulässt. Somit klingt auch alles nach der gleichen Formel erstellt und ohne den Biss der Vergangenheit. Da helfen einzelne gefällige Momente wie 'No Respect For Disrespect' (der hätte in Liverpool noch besser funktionieren können) und 'Reset The Preset' auch nicht weiter. Die bisherige Konzentration auf das Kernpublikum des M'ERA LUNA stand der Truppe viel besser zu Gesicht und die Songs hatten mehr Gift und Galle. Somit wird am Ende LORD OF THE LOST bei all der "Anbiederung" an die Masse die Band mit dem Song 'Blood & Glitter' bleiben. Einem unfassbar stumpfen Song, welcher beim ESC auch nicht die erhoffte Sensation und Kehrtwende geschafft hat. Obwohl... 'Hard Rock Hallelujah' ist auch eine ähnlich dumpfbackige Nummer. We will see... zumindest die Entscheidung beim ESC wird spannender als das ganze Album "Blood & Glitter".

Note: 5,5/10
[Stefan Rosenthal]

Was ist "Blood & Glitter" doch für ein seltsames, zusammengewürfeltes Album, ein chaotischer Haufen unsortierter und nicht ausgearbeiteter Ideen! Ich muss gestehen, dass das sogar irgendwie charmant wirkt auf mich, auch wenn sich meine musikalischen Aversionsstacheln schon beim ersten Ton wehrhaft aufstellen wollen. Warum der Titelsong dieses Albums als Deutschlands Vertreter beim ESC herhalten muss, wird sich mir niemals erschließen; eine völlig vermurkste Grütze, die vorne und hinten keinen musikalischen Sinn ergibt. Es sei denn man will eben ein buntes Sammelsurium aus allem, was in den letzten Jahren im Bereich der Mainstream-kompatiblen romantischen Melancholie en vogue war, irgendwo zwischen Schlager-Rock, dem unheiligen Grafen und New Metal. Eigentlich könnte man hier "Dark Romantic Medley" als Stilrichtung neu einführen. Die Qualität der Songs auf "Blood & Glitter" schwankt zwischen grausam unbeholfenem Vollmurks und kleinen strahlend hellen Momenten der frechen Genialität. Generell kann LORD OF THE LOST (Dark-)Wave ganz deutlich besser als Nu Metal. Man höre zum Beispiel 'Leaving The Planet Earth' oder 'The Future Of A Past Life', das ohne pseudo-brutale Shouts und Breakdowns eine noch bessere Pop-Nummer wäre. Trotzdem ist auch ein selbstironischer Ausbruch wie 'Leave Your Hate In The Comments' ein klares Highlight dieser kakophonischen Wundertüte von einem Album. 'Reset The Preset' finde ich persönlich völlig unerträglich fürchterlich. Dazwischen und danach tummeln sich viele weitere unentschlossene Belanglosigkeiten und interessante kleine Momente der glitzerschlichten Schönheit. Ich kann mir beim besten Willen kein kohärentes Bild von "Blood & Glitter" machen - manchmal möchte man das Album einfach irgendwie lieb haben; manchmal möchte man es nur noch aus dem Fenster werfen. Zumindest lässt es einen nicht kalt - und das ist ja im Grunde auch schon ein Wert an sich. Wie man das nun bewerten soll... keine Ahnung. Aber da ich sowohl einen guten Tag als auch einen Hang zur sarkastischen Ironie habe, wähle ich mit Blick auf den subtilen Reiz der unbeholfenen Eigenwilligkeit die nettest-neutralste Variante, die unser Notensystem zulässt.

Randnotiz: Dieses kalkuliert-anarchistische ästhetische Chaos ist mir immer noch tausend Mal lieber als die komplett durchgestylte Schlager-Metal-Konserve von ANGUS MCSIX und Konsorten. Doch auch LORD OF THE LOST höre ich eher mit der gruseligen Faszination eines Naturforschers für seltsame Kreaturen. Whatever...

Note: 7,0/10
[Martin van der Laan]

Ich kann mich noch an meine erste Live-Begegnung mit LORD OF THE LOST erinnern, das war 2012 (!) als Support der LETZTEn INSTANZ in der alten Frankfurter Batschkapp. Schon damals haben die Herren mächtig abgerockt, das Publikum angeheizt und sich danach im Laufe der Jahre zielstrebig, mit viel Fleiß und Können, nach oben gearbeitet. Egal, wie auch immer ihre Platzierung beim ESC ausfallen wird, sie bringen auf jeden Fall frischen Wind in das Geschehen und der Titelsong ist in aller Munde. Aber was ist mit dem Rest der Platte? Nun, ich war angenehm überrascht, auch von den bisherigen Videos zu einigen Songs, die teilweise doch sehr provokant sind, aber auch durchaus den Nerv der Zeit treffen. Von Glam-Rock über Dark-Rock und mit einem Augenzwinkern sogar etwas Pop-Rock – das bringt Spannung in das Album. Klar, 'Blood & Glitter' rockt und ist ein richtiger Ohrwurm, das ROXETTE-Cover mit Blümchen (Jasmin Wagner) macht natürlich auch Spaß und hinterlässt zumindest bei mir ein leichtes Grinsen. Ich liebe Coverversionen, wenn die Bands ihnen einen eigenen Stempel aufdrücken. Aber die eher "dark" angehauchten Songs sind die, die mich am meisten beeindrucken und die ich erst einmal so nicht auf dem Album erwartet hätte. Ganz weit vorne liegt dabei 'Forever Lost', das auch durch das Video beeindruckt, ebenso 'Leaving The Planet Earth', das Assoziationen zu BOWIEs 'Major Tom' erweckt. Auch 'Dead End' stecke ich in diese Dark-Ecke und 'No Respect For Disrespect' könnte ich mir auch auf einem MONO INC.-Album vorstellen. Für mich ist ''Blood & Glitter'' ein abwechslungsreiches Album geworden, das der Zielgruppe und auch mir gefällt. Ich finde es auch nicht verwerflich, wenn eine Band nach Kommerz schielt, wie Stefan moniert. Das Musikgeschäft ist schwierig geworden, da muss man sicher ganz oft unkonventionelle Wege gehen – und sei es nur, wenn man einen ungewöhnlichen Veröffentlichungstermin wählt. Ohrenschmerzen bekomme ich übrigens von keinem der Titel, da muss ich Jens entschieden widersprechen. Aber in einem anderen Punkt muss ich Tobias recht geben – ''Metal'', wie wir ihn ''definieren'', ist der ESC-Titel nicht. Aber es ist ein eingängiger Song, der sehr viel Spaß macht und alleine schon durch die ausgefallene Performance hervorsticht. Ihr merkt schon, dass ich dem Album sehr positiv gegenüberstehe und aus diesem Grund schließe mich mit meiner Benotung unserem Chefredakteur an.

Note: 9,0/10
[Hanne Hämmer]

Fotocredits: VDPictures

Redakteur:
Marcel Rapp

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