Eine Reise in den Schlamm: METALLICA auf dem SONISPHERE-Festival

30.06.2010 | 13:27

Wie eine sonderbaren Reise an den Rand der Zivilisation mutete das SONISPHERE-Festival zuweilen an. Satte zwei Stunden METALLICA-Gig rechtfertigten jedoch alle Mühen und ließen sogar die Pleite der deutschen Elf bei der WM zeitweise vergessen.

Auf das Wochenende in der Schweiz und den Besuch des SONISPHERE-Festivals haben wir uns seit Monaten gefreut.  Nachdem das Festival im vergangenen Jahr erstmals auf dem Hockenheimring in Deutschland die Metal-Ikone METALLICA präsentiert hatte, zieht das Festival 2010 mit einem noch bemerkenswerteren Billing durch Europa. Wieder sind es natürlich METALLICA, die im Mittelpunkt des diesmal zweitägigen Events stehen, von dem wir uns im kleinen Schweizer Örtchen Jonschwil einen Teil des zweiten Tages ansehen möchten. Doch diesmal sind auch SLAYER, MEGADETH, ANTHRAX und MOTÖRHEAD mit von der Partie sowie eine ganze Reihe weiterer namhafter Bands. Diese Mischung gilt als etwas Besonderes. Immerhin sind hier die großen Namen der Thrashmetalszene versammelt, die man auf einem gemeinsamen Festival bisher kaum gesehen haben dürfte.

Erwartungsvoll reisen wir also diesmal in die Schweiz, ahnend, dass das Wetter im Gegensatz zum Hockenheim-Ereignis 2009 dieses Mal wohl eher gegen uns sein dürfte. Schon Tage vorher regnet es nur mit kurzen Unterbrechungen und euphorische Festivalstimmung will in den komplett vom Dauerregen bestimmten 24 Stunden vor dem METALLICA-Gig bei uns nicht aufkommen. Ich hadere mit dem Wettergott, der ein Hopper sein muss und mit der Staatsanwaltschaft. Die sollte Herrn Kachelmann aus der U-Haft entlassen. Seit der sitzt, macht Petrus, was er will.

Unser Quartier in Winterthur aufschlagend, folgen wir den Empfehlungen des Veranstalters und reisen gegen Mittag des zweiten Festivaltages – nach dem Genuss einer unerfreulichen WM-Niederlage der deutschen Elf vor dem Hotelfernseher -  mit dem ÖPNV zum Festivalgelände. Immerhin erweisen sich die Schweizer Bahnbetriebe als zuverlässig. Als Deutscher ist man anderes gewohnt und freut sich über einen pünktlichen Zug und ausreichend Beinfreiheit in der zweiten Klasse. In Jonschwil werden wir mit einer riesigen Menge anderer Metaller zum Festivalgelände am Ende der 3500-Seelen-Gemeinde geleitet. Ein bisschen wie in Wacken. Böses ahnen wir allerdings, als uns die ersten Menschen entgegen kommen, deren Beinkleider inklusive Schuhwerk bis zur Kniehöhe mit Lehm verdreckt sind.

"Das ist noch harmlos", ruft uns einer derer zu und hat damit recht. Tatsächlich ist das Festivalgelände ein einziges Morastmeer. Es gibt kein Entkommen. Innerhalb eines kurzen Momentes müssen wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass unsere Schuhe und Hosen für den Rest des Tages in brauner Pampe verschwinden werden. Es gibt tatsächlich kein einziges Fleckchen auf dem ganzen Gelände, an dem man noch einigermaßen fest und trocken stehen könnte. Wie gut, dass wir als erfahrene Festival-Globetrotter keine Halbschuhe angezogen  haben. So manch einer wird die seinen im moorigen Schlamm zurücklassen.

Trotz dieser unglaublichen Situation erfasst uns jetzt endlich bessere Laune. Wir bemühen uns, im Schlampes zur Bühne vorzudringen, auf der gerade SLAYER ihren Gig begonnen haben. Es ist erfreulich zu sehen, dass die Band nach der längeren Erkrankung von Sänger und Bassist Tom Araya zur alten Spielfreude zurückgefunden hat. Tom ist zwar bedauerlicherweise nicht mehr in der Lage, sein Haupt wie ein Kugelgelenk kreisen zu lassen und die Mähne beim Headbanging durch die Gegend zu schleudern, den Songs tut das aber keinen Abbruch. Stiernacken Kerry King, dessen dicker, zum Zopf gebundener Bart immer länger wird, sorgt stattdessen für Bewegung auf der Bühne.

SLAYER bieten in alter Manier eine gesunde Mischung aus beliebtem alten Stoff a la 'Dead Skin Mask', 'War Ensemble' und 'South Of Heaven' sowie Material der jüngeren Scheiben. 'World Painted Blood' vom aktuellen Album eröffnet die Show, während das aktuelle 'Beauty Through Order' dem etwa in der Mitte des Sets platzierten 'Angel Of Death' folgt. SLAYER machen wie immer nicht viel Federlesen. Tom schmunzelt sich eins über die Fans und sagt "Thank you for coming". Alles wie immer. Nur die Fans sparen sich dieses Mal größere Moshpits. Offenbar fällt das Gehopse im knietiefen Schlamm doch auch den beinharten SLAYER-Fans schwer.

Das Sonisphere-Festival bietet zwei Bühnen auf. Während SLAYER auf der Hauptbühne agieren, wird auf einer kleineren Bühne direkt daneben bereits der Gig von MEGADETH vorbereitet, die sich mit einem großen gelben Schriftzug ankündigen. MEGADETH liegen mir ja bekanntlich so gar nicht, aber da ich angesichts der Zustände auf dem Festivalgelände kein Plätzchen zum Entkommen weiß, bleibe ich und beobachte, wie Mr. Mustaine im weißen Oberhemd die Fans in Wallung bringt. Das gelingt ihm tatsächlich recht gut. Fäuste werden geschwungen und durch den Set ziehen sich die Rufe "Megadeth, Megadeth!". Man glaubt es kaum. Neben mir tobt mein Begleiter Herr K. aus M. erstmals an diesem Tage richtig los.

Setlist:
Holy Wars... The Punishment Due
Hangar 18
Wake Up Dead
Headcrusher
In My Darkest Hour
Skin O' My Teeth
A Tout Le Monde
Hook In Mouth
Trust
Sweating Bullets
Symphony Of Destruction
Peace Sells

Anhand der Vorbereitungen auf der Hauptbühne ist unschwer zu erkennen, dass MOTÖRHEAD die nächste Band des Tages sein wird. Auch diese Truppe um den inzwischen schon betagten Lemmy Kilmister, der bereits wie eine Legende gefeiert wird, zählt nicht zu unseren Favoriten. Wir nutzen daher die Gelegenheit, uns zunächst mal von unserer aktuellen Schlammposition zu entfernen und ein liebliches Dixieklo aufzusuchen. Ich bin überrascht, wie anständig es da noch aussieht. Angesichts der Zustände auf dem Gelände hätte ich hier Schauerlicheres erwartet. Es gibt sogar noch ausreichend sauberes Toilettenpapier.

Dann zum Catering-Stand. Herr K. aus M. wagt, eine Portion Nudeln mit Tomatensoße zu bestellen. Umgerechnet – ja, hier hat man es ja noch mit einer anderen Währung als dem Euro zu tun – kostet das liebliche Mahl etwa sieben Euro. Nicht gerade preiswert. Die Schweiz ist ein reiches Land. Am Getränkestand gibt es dafür außer dem üblichen Bier auch Ice-Tea. Mal was anderes für die Anti-Alkoholiker als immer nur Cola. Ein Pluspunkt. Nach Befriedigung dieser Bedürfnisse krebsen wir zurück in Richtung Bühne, auf der immer noch Lemmy mit seinem Hut auf dem Kopf "fucking Rock'n Roll" spielt. Mithilfe einer mutigen Wanderung gelangen wir unkompliziert in den Innenraum vor der Bühne, der durch eine Wellenbrecherabsperrung vom Rest des Publikums abgetrennt ist. Dort ist ausreichend Platz. Keiner will in einem größeren Teich aus brauner Suppe stehen, außer vielleicht zwei Rockladys, die sich headbangend im Wasser vergnügen.  

Im Anschluss an MOTÖRHEAD präsentiert uns das Festival die amerikanische Hardcore Band RISE AGAINST, die mit ihren politischen Songs unter den traditionellen Metallern erstaunlich viel Begeisterung auslösen. Zunächst sieht es aus, als  übernehme die Band nur eine Lückenfüllerposition, bevor um 21 Uhr endlich METALLICA erwartet werden. Es gelingt den vier Musikern jedoch, erstaunlich viele Anhänger zu mobilisieren, die zu ihren grundsätzlich temporeichen Songs fett abgehen und tatsächlich den ersten Circle Pit des Tages vor der Bühne aufführen, ohne dass daraus ein größeres Chaos entsteht.

Dann ist es endlich soweit. Um kurz nach 21 Uhr ertönt über dem Degenaupark das typische METALLICA- Intro mit den zugehörigen Filmausschnitten aus "Zwei glorreiche Halunken", die auf drei Leinwänden zu sehen sind. Eine davon dekoriert in Übergröße den hinteren Teil der Bühne und wird im weiteren Verlauf dazu dienen, James Hetfield und seine Mannen detailgenau beobachten zu können.

Anzumerken ist, dass der Himmel über der Festival-Location inzwischen sommerlich blau geworden ist und sich alle hässlichen Regenwölkchen tatsächlich verzogen haben. Petrus ist also doch kein Hopper. Er schenkt den Fans ein wunderbares Sonnenfenster, in das hinein METALLICA in den kommenden zwei Stunden hauptsächlich "the old stuff" spielen.
Offensichtlich hat die Metal-Ikone verstanden, dass der wahre METALLICA-Fan keine Fußwippersongs hören will und auch keine Stücke von der therapeutischen Exkursion "St.Anger", die heute in der Tat komplett ausbleiben.

Stattdessen beginnt man mit  'Creeping Death' vom "Ride The Lightning"-Album, das bei dem heutigen Gig zu einem gehörigen Teil im Mittelpunkt steht. Der gleichnamige Titelsong kommt ebenso zum Zuge wie 'For Whom The Bell Tolls' und 'Fight Fire With Fire'.

Neben mir explodiert Herr K. aus M. Und nicht nur er. Um mich herum stehen einige ältere Semester, die nur darauf gewartet zu haben scheinen, METALLICA endlich mal wieder in alter Stärke auflaufen zu sehen. Anders als im vergangenen Jahr auf der SONISPHERE-Festivalausgabe am Hockenheimring in Deutschland überwiegt hier das beinharte Metalpublikum. Das tut der Stimmung gut. Während der Show werden die Fans nicht müde, wie verrückt mitzubrüllen und mitzubangen. Eindrücke davon, gesammelt mit ausgefeilter Handytechnik,  sind bereits am folgenden Mittag bei youtube zu bewundern.

Auch mich, die an METALLICA nur eine geringe emotionale Bindung hat, begeistert der Gig. Insbesondere Tempo und Energie, mit denen die inzwischen ja auch nicht mehr blutjungen Bandmitglieder ihre Songs präsentieren, beeindrucken mich. Lars Ulrich springt zwischendurch immer wieder von seinem Drumhocker, um aus dem Stand die nötige Energie noch besser freizusetzen und James Hetfields Gesang wirkt ebenfalls kraftvoll und temporeich.

"Do you feel good?", spricht er die Fans an und betont, dass es das Ziel des Gigs sei, sich gut zu fühlen. Etwas affig wirkt auf mich immer das Gerede von der großen METALLICA-Family, das Hetfield offensichtlich bedeutsam findet. Aber lassen wir das dahingestellt sein angesichts des Enthusiasmus, den die Thrasher auf der Bühne lostreten.

Von der aktuellen Scheibe "Death Magnetic" werden lediglich die beiden Songs 'That Was Just Your Life' und 'Broken, Beat and Scarred' sowie 'The End Of The Line' gespielt. Eine beeindruckende Inszenierung wird auch diesmal wieder bei 'One' aufgefahren, das mit den eindrücklichen Salven von Maschinengewehren beginnt und in ein hinter der Bühne gezündetes Feuerwerk übergeht, das sich rot in den Abendhimmel ergießt. Eine sonderbare Mischung ist das immer, jenes Bedrückung meinende Intro zu einem Anti-Kriegssong, das in das positive Begeisterung auslösende Feuerspiel auf der Bühne übergeht.

Im weiteren Verlauf der Show darf natürlich das mittlerweile auch fast zwanzig Jahre alte  'Nothing Else Matters' nicht fehlen, das abgesehen von seiner Abgelutschtheit tatsächlich immer noch eine nette Nummer ist. Um fünf nach elf beginnt die Zugabe, in der METALLICA neben der üblichen Covernummer – diesmal der 1973er-Song 'Breadfan' - zur Vervollständigung aller Genüsse auch noch 'Whiplash' aufbieten. 'Seek And Destroy' macht dann unweigerlich den Abschluss, mit dem die Helden der Szene Tausende glücklicher Fans in die schlammige Nacht entlassen.

Setlist:
Creeping Death
For Whome The Bell Tolls   
Ride The Lightning
No Remorse
Fade To Black
That Was Just Your Life
The End Of The Line
Sad But True
Welcome Home (Sanitarium)
Broken, Beat and Scarred
One
Master Of Puppets
Fight Fire With Fire
Nothing Else Matters
Enter Sandman
- - - - - - - -
Breadfan
Whiplash
Seek and Destroy

Herr K. aus M. neben mir hat glänzende Augen und ist kaum zu bremsen. So hatte er sich das wohl gedacht und ist wie die meisten der versammelten Altmetaller voll auf seine Kosten gekommen. Die Stimmung ist gelöst und eigentlich würden wir gerne noch AMON AMARTH erleben, die um 0.45 Uhr auf dem nächtlichen Programm stehen. In Ermangelung eines trockenen Plätzchens, das es zuließe, sich mal ein Momentchen irgendwo niederzulassen, ist unser Durchhaltevermögen allerdings kräftig getrübt.

Also knicken wir ein und geben auf. Lieber mal die Heimreise antreten, die wir zunächst mit dem größten Teil der Besucher als anstrengende Morastwanderung beginnen. Rund eine halbe Stunde wird es wohl gedauert haben, bis wir unsere immer schwerer werdenden Schuhe mühsam durch den Morast gezogen haben und endlich aufgeweicht den Asphalt erreichen. Im Sonderzug geht es zurück nach Winterthur. Wer bei der Schweizer Bahn den erfreulichen Auftrag erhält, später die Zugabteile zu säubern, danach fragen wir lieber nicht.

Als anständige Mittelklassekinder entledigen wir uns in der Tiefgarage unseres Hotels der schmutzigen Utensilien und hoffen, dass Schuhe und Hosen irgendwann einmal wieder unter den Lehmkrusten im Kofferraum des Autos zu erkennen sein werden.

Auf der Rückreise am Samstagmorgen lasse ich die Veranstaltung Revue passieren, die sich wider erwarten zu einem kleinen Überlebenstraining für zivilisationsgeprägte Weicheier entwickelt hat. Hauptgrund für unsere Anreise waren METALLICA, die mit dem Material aus alten Zeiten eine beeindruckende Show für richtige Metalheads hingelegt haben. SLAYER werden wir in diesem Jahr noch zweimal – hoffentlich unter besseren Verhältnissen – zu sehen bekommen. Es ist aber gut, sich vergewissert zu haben, dass Tom Araya wieder zu alter Stärke genesen ist.

Redakteur:
Erika Becker
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