DARK LUNACY: Interview mit Mike

09.11.2006 | 01:20

Ab und an gibt es noch Göteborg-Melodic-Death-Platten, bei denen man nicht bereits nach zwei Minuten sanft entschlummert und die gleichzeitig nicht als Metalcore vermarktet werden. DARK LUNACYs "The Diarist" ist mal wieder eine dieser rar gewordenen Scheiben. Allerdings täte man den Italienern Unrecht, würde man sie in diese Ecke stellen und sagen, dass sie es einfach nur besser machen als viele andere. Das ist zwar ohne Zweifel richtig, aber sie experimentieren darüber hinaus auch mit vielen genreuntypischen Elementen, die sie noch mal ein ganzes Stück aus der Masse herausragen lassen. Sänger und Russland-Spezialist Mike erläuterte die Begleitumstände und offenbarte dabei einen Hang zur Poesie.


Oliver:
Mike, obwohl "The Diarist" bereits euer drittes offizielles Album ist, seid ihr hierzulande so gut wie unbekannt. Wie sahen eure Aktivitäten während der letzten Jahre aus?

Mike:
Das erste Album ("Devoid" – Anm. d. Verf.) wurde 2001 von Metal Blade in Deutschland veröffentlicht, und das zweite ("Forget Me Not" – Anm. d. Verf.) ist ebenfalls in Deutschland erschienen. Um eine Metal-CD zu promoten, muss eine Band live spielen, Interviews geben und in Magazinen vertreten sein. Aber nichts davon passierte. Heavy Metal wurde in Deutschland geboren, und so ist es sehr schwierig, bei euch Fuß zu fassen. Egal... In diesen Jahren haben wir trotzdem viele Sachen gemacht: Wir sind durch Südamerika getourt, um "Forget Me Not" zu promoten, wir haben eine Italien-Tour mit DARK TRANQUILLITY absolviert und große Festivals mit NIGHTWISH, JUDAS PRIEST und vielen anderen gespielt. Und wir haben in Enomys' (g., k. – Anm. d. Verf.) Studio neue Songs geschrieben und arrangiert.

Oliver:
Kurz nach der Veröffentlichung des aktuellen Albums hattet ihr mit Line-up-Problemen zu kämpfen. Nicht gerade der ideale Zeitpunkt, um neue Musiker suchen zu müssen. Was war los?

Mike:
Bijkal (dr. – Anm. d. Verf.) und Imers (b. – Anm. d. Ver.) Entscheidung hat mit unterschiedlichen Auffassungen zu tun, die zuletzt verstärkt zu Tage getreten waren und es unumgänglich machten, getrennte Wege zu gehen. Es war schmerzhaft, aber notwendig. Wir haben viele wichtige Momente geteilt, aber wenn man keine gemeinsamen Ziele mehr hat, muss man zu Gunsten der Band eine Entscheidung fällen. Mit Mary Ann (b. – Anm. d. Verf.) und Mathias (dr. – Anm. d. Verf.) haben wir nun zwei Personen, die zu uns passen und vor allem an DARK LUNACY glauben.

Oliver:
Du bist ein großer Russland-Fan, was sich massiv auf die Lyrics der neuen Platte ausgewirkt hat. Kannst du das textlichte Konzept kurz erläutern?

Mike:
Russland und seine Geschichte sind eine große Leidenschaft von mir. Ich bewundere die russischen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Das "The Diarist"-Konzept befasst sich durchgehend mit der Belagerung Leningrads während des zweiten Weltkriegs (auch bekannt als Leningrader Blockade, die von September 1941 bis Januar 1944 dauerte – Anm. d. Verf.). Ein wahres Epos, das 900 Tage, in denen über eine Million Menschen ihr Leben verlor, umfasst. Während meiner Recherche der historischen Fakten entdeckte ich ein Tagebuch einer Frau, die in Leningrad lebte und starb. Die Seiten waren voll mit emotionalen Dingen, die mir zu Herzen gingen. Und so verspürte ich den Drang, über ihr Leben, ihre Gefühle und ihre Hoffnungen zu schreiben.

Oliver:
Welche Rolle spielt dabei der Pulkowo Meridian, nach dem ihr einen eurer Songs benannt habt?

Mike:
Auf dem Pulkowo Meridian fand eine große Schlacht statt. Ich erzähle von einem jungen Soldaten, der die Pulkowskij-Höhen, die ein bedeutender Punkt waren, um in die Stadt zu gelangen, verteidigen musste.

Oliver:
Was war neben deinem generellen Interesse an der russischen Geschichte der Auslöser, ein Album über die Belagerung Leningrads zu machen?

Mike:
Die Idee, unsere CD diesem Ereignis zu widmen, hatte ich im Sommer 2003, als ich eine Reise nach Sankt Petersburg machte. Ich sah die Spuren, die die Belagerung hinterlassen hat, obwohl sie bereits über sechzig Jahre zurückliegt. Diese Erfahrung war erschreckend und inspirierend zugleich. Als ich nach Italien zurückkam, erzählte ich Enomys von meinen Eindrücken, und wir fingen sofort an, das Leningrad-Konzept auszuarbeiten. Wir begaben uns auf eine Reise, von der wir nicht wussten, wo sie uns hinführen würde. Unser Ausgangspunkt war das Tagebuch. Und wir trafen auf Soldaten, Ehefrauen und Witwen, zerstörte Kindheiten und viele andere Dinge, die uns letztlich inspirierten. Auch heute noch lese ich viele Bücher und schaue Dokumentationen über diese Zeit. Eine CD ist einfach nicht genug, um diese Ereignisse zu erklären.

Oliver:
Einige Songs der Scheibe weisen auch Einflüsse russischer Musik auf, was sich u. a. in den Chor-Arrangements, die gelegentlich auftauchen, niederschlägt. So stehen Lyrics und Musik in enger Verbindung zueinander.

Mike:
Bei DARK LUNACY gehen Texte und Musik auf jeder CD Hand in Hand, weil wir unsere Musik als Soundtrack unserer Gefühle sehen. Auf "The Diarist" haben wir es gut hinbekommen, all die Elemente, die unsere Songs ausmachen, zu bündeln. Man muss sich einen Schwarzweißfilm vorstellen, der durch die Texte kommentiert und dessen Wirkung durch die Musik unterstützt wird.

Oliver:
Habt ihr die Chor-Passagen ebenfalls komponiert, oder habt ihr auf traditionelle Stücke zurückgegriffen?

Mike:
Die Chor-Passagen stammen aus einem russischen Archiv mit alten Vinyl-Aufnahmen. Wir haben lediglich den Sound aufpoliert, damit sie besser klingen.

Oliver:
Stand hinter den genrefremden Einflüssen auf "The Diarist" der Wunsch, anders klingen zu wollen?

Mike:
Wir lassen uns einfach von unseren Gefühlen leiten – damals wie heute. Ich denke, jede Band sollte den Anspruch haben, ihrem Genre etwas Neues zu geben. Wir leben in einer Zeit, in der extreme Musik immer gleich klingt. Und wir versuchen jedes Mal, unserer Musik einen eigenständigen Charakter zu verleihen.

Oliver:
Also stehen die Experimente beim Songwriting immer an erster Stelle?

Mike:
Wir lieben es, bei unseren Arrangements zu experimentieren. Es hält uns am Leben und macht unseren Kopf frei für die Zukunft. Wenn wir einen neuen Song aufnehmen, probieren wir viele verschiedene Arrangements aus. Es hängt alles davon ab, welche Stimmung wir dem Publikum vermitteln wollen.

Oliver:
Aufgrund der Details, die in "The Diarist" stecken, hat der Entstehungsprozess sicherlich einiges an Zeit verschlungen.

Mike:
Es war ein langer Weg. Vor zwei Jahren begann ich damit, die Lyrics zu schreiben. Ich habe viele Filme und Dokumentationen über Leningrad angeschaut. Und ich habe Bücher und das Tagebuch gelesen, um korrekte Angaben über Daten, Namen und die historischen Ereignisse machen zu können. In der Zwischenzeit fing Enomys an, die Basic-Tracks der Musik aufzunehmen. Normalerweise spielt er für einen Song die Gitarren, den Bass und das Schlagzeug ein, und ich steuere einen noch sehr rohen Gesangs-Part bei. Wenn sich diese Demo-Version gut anfühlt, spielen wir den Song zusammen mit Mary Ann und Mathias, und so wird er letztlich ein DARK LUNACY-Song. Die Klassik-Parts wurden schließlich von einem Streichquartett und einem kleinen Bläser-Ensemble eingespielt, und danach hat Enomys die Keyboard- und Piano-Passagen beigesteuert. So arbeiten wir eigentlich seit unserem Debüt.

Oliver:
Wie würdest du eure Zielgruppe definieren?

Mike:
Ich denke, der Hörer sollte die Platte mit seinem Herzen hören. "The Diarist" ist eine ungewöhnliche Metal-CD. Sie ist eine Reise durch die Straßen Leningrads. Und sie fühlt sich an, als würde man die Hand eines sterbenden Soldaten ergreifen.

Oliver:
Ist "The Diarist" näher an dem, was eure Band ausmacht, als seine Vorgänger?

Mike:
Jedes DARK LUNACY-Album erstrahlt in seinem eigenen Licht. Wenn du dich an einen Herbstspaziergang erinnert fühlen möchtest, musst du dir "Devoid" anhören. Wenn du nach einem aggressiveren Sound mit düsteren Melodien suchst, "Forget Me Not". Und wenn du dich auf eine Zeitreise in die Vergangenheit begeben willst, "The Diarist".

Oliver:
Zu 'Dolls', einem Track des "Devoid"-Albums, habt ihr ein Video gedreht. Hat MTV Italien das Teil ungekürzt gezeigt? Der Song ist immerhin über sieben Minuten lang.

Mike:
Wir haben einen Full-Length-Video-Clip gemacht, weil 'Dolls' für uns ein sehr wichtiger Song ist. Und die Story des Videos ist auch auf die volle Länge des Tracks ausgelegt. MTV hat immer den vollständigen Clip gespielt - das war großartig.

Oliver:
Ist für "The Diarist" auch ein Video in Planung? Wenn ja, welchen Song habt ihr im Auge?

Mike:
Anfang 2007 wird es ein Video geben. Wir suchen momentan nach einer Location und arbeiten an der Story. Der Song? Lasst euch überraschen.

Oliver:
Warum ist "The Diarist" eure bisher beste Platte?

Mike:
Weil wir viel Liebe, viele Gefühle und viele Stunden Arbeit hineingesteckt haben. Und in der heutigen Zeit ist "The Diarist" eine mutige CD.

Redakteur:
Oliver Schneider

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