AMPLIFIER: Interview mit Sel Balamir

09.05.2013 | 13:43

Vor der Show in München konnten wir mit Sel Balamir über Riesenkraken, Doktorarbeiten, Geldmangel, mysteriöse englische Staßen und Jugenderinnerungen palavern. Lest selbst, wie das alles zusammenhängt.

Es gibt ein neues Album von AMPLIFIER, "Echo Street". Und doch steht auch anno 2013 vieles bei der britischen Progband im Zeichen des schwarz-weißen Oktopus-Symbols, das zu einer Art Identifikationszeichen von AMPLIFIER geworden ist. Und die Tentakel breiten sich weiter aus: "Eine Million Sticker, die der CD beiliegen, machen die Runde um die Welt und kleben in Bars, Clubs, auf Autos und Toiletten." bestätigt Sel Balamir. Und die Geschichte des Kraken ist noch lange nicht zu Ende. "Es gibt noch etwa zwanzig Exemplare der 3-CD-Spezialedition von "The Octopus" (zu beziehen über die Webseite) und wir arbeiten an einer finalen 4-CD-Edition, die dann das gesamte Material auch live enthalten soll." Ein verlockendes Angebot für jeden Fan, der dieses Kunstwerk in einer edlen Verpackung ins sein Regal stellen möchte.
Es sei hierbei erwähnt, dass jedes Exemplar von "The Octopus" von der Band eigens verpackt und verschickt wird. Sel: "Eine enorme Arbeit. 20.000 Exemplare sind schon verkauft worden." Da die Band jedoch in Zukunft noch mehr CDs verkaufen will, hat sie sich für den Vertrieb von "Echo Street" an das Label KScope gewandt. Balamir: "Wir sind überzeugt von der guten Arbeit und AMPLIFIER verlieren ihre musikalische Unabhängigkeit durch diesen Schritt nicht. Wir können jederzeit wieder zurück zum Eigenvertrieb gehen, wenn die Versprechen des Labels nicht eingehalten werden. "

Ein weiterer Aspekt des Oktopus-Mythos ist, dass er scheinbar seine Kinder frisst. Ich spiele hierbei darauf an, dass zwei Bands beziehungsweise Musiker, die auf "The Octopus" mitgewirkt haben, von diesem gefressen worden sind, nämlich ROSE KEMP, die sich aus dem Musikbusiness zurückgezogen hat, und Mike Vennarts Band OCEANSIZE, die sich aufgelöst haben. Sel ist amüsiert: "Ich denke nicht, dass der Oktopus schuld ist, aber ich freue mich, dass ich solch talentierte Freude habe. Rose ist die talentierteste Person, die ich bislang getroffen habe. Ein Genie in allen Belangen, auch ausserhalb der Musik." Und er macht ihren Fans sogar etwas Hoffnung. "Es könnte jederzeit sein, dass sie sich wieder umentscheidet. So jemand wie Rose wird immer Musik machen."

Das neue Album "Echo Street" unterscheidet sich nun stark von "The Octopus". Ein Aspekt hierbei ist die Zeit, in der es aufgenommen wurde, nämlich in nur 60 Tagen. "The Octopus" hat vier Jahre gedauert, das ist ungefähr die Zeit, die man für eine Doktorarbeit in der Forschung braucht. Sel mag den Vergleich und er holt weit aus auf die Frage, warum man so lange gebraucht habe: "Nach "Insider" waren wir den typischen Zyklus leid, die man als Band mit einem Label im Rücken hat. Wir wollten uns wieder mehr auf das eigentliche Spielen, Komponieren und Proben konzentrieren." Deshalb nahm man sich lange Zeit, bis man an die Aufnahmen heranging. Auch habe man sich dabei die Zeit genommen, die es eben braucht, ein solch großes Album reifen zu lassen, alles durchzuhören und zu perfektionieren. Zudem musste Sel "aus Geldgründen selbst den Mix übernehmen und zunächst einmal sechs Monate lang erlernen, wie man überhaupt mit der Technik umgeht und dann üben, üben, üben."
Der ganze Prozess dauerte drei Jahre, dann musste noch das Artwork kreiert, das Buch geschrieben und die gesamte Manufaktur übernommen werden. Das ähnelt in der Tat einer Doktorarbeit, wo man im Prinzip auch jeden Schritt von der Projektplanung über die Durchführung der Experimente bis zur Publikation alles selber macht. Es ist auch eine Zeit der persönlichen Reife: "The Octopus" stellt für Sel auch ein einzigartiges Zeugnis dar, das für ihn den Übergang von einem jungen Mann zu einem Erwachsenen dokumentiert.
Nun ist die Frage, was denn auf "The Octopus" folgen kann. Hier war von vornherein klar, dass "The Octopus" nicht zu wiederholen ist. "Wir wollten etwas anderes machen und die Leute überraschen." Sel hält sowieso nicht viel davon, wenn Bands versuchen, ihr Erfolgsalbum auf eine ähnliche Weise zu reproduzieren. Etwas Neues musste her. Ursprünglich war allerdings ein ganz anderes Album mit dem Arbeitstitel "Mystoria" geplant, auf dem Material verarbeitet worden sollte, das nicht zu "The Octopus" passte. Sel: "Es ist weniger dunkel, ja fast gut gelaunt. Doch dann ging das Geld aus und wir mussten dringend eine schnelle Alternative finden. Die Lösung war, altes Material zu sichten und aufzuarbeiten. So entstanden viele Lieder auf der Basis von Ideen, die schon fünfzehn Jahre auf dem Buckel haben, oft aber aus Mangel an Zeit nicht ausgearbeitet werden konnten."
Mit dieser Ideenkollektion ging es dann ins Studio. Für Sel war das ein Nervenspiel, denn so unvorbereitet sind AMPLIFIER noch nie an die Aufnahmen herangegangen, doch es ging nicht anders. Die Zeit spielte gegen sie und der Druck war enorm. Sel sagt, so etwas würde er auch nie wieder machen wollen. Aber jeder weiß, dass unter großem Druck Großes entstehen kann, weil man extrem fokussiert arbeitet und eine zeitlang nichts anderes im Leben zulässt als diese eine Sache. Und so ein Album ist "Echo Street" geworden. "Das Album ist im Gegensatz zu "The Octopus" nicht im Kopf entstanden, sondern viel spontaner und aus Emotionen heraus gewachsen ist. Das emotionale Moment entspringt aus den Erinnerungen an die Anfangszeiten der Band Ende der Neunziger, aus denen viele Teile von "Echo Street" letztlich stammen. Daher klingt vieles auch nach einer Hommage an Bands, die AMPLIFIER damals geprägt haben, zum Beispiel Grunge/Post-Grunge-Bands wie SMASHING PUMPKINS, MOTHER LOVE BONE oder TEMPLE OF THE DOG. Die Musik auf "Echo Street" ist sozusagen ein Echo aus dieser Zeit, die uns junge Menschen damals sehr inspiriert hat. "Echo Street" ist übrigens auch eine Straße in Manchester. Das Mysteriöse an der Straße ist, dass es dort überhaupt nichts gibt außer einer Brücke und einer Stelle, wo die Taxis umdrehen." Für Sel ist die Straße somit in einer Weise perfekt, weil sie ist überall und nirgendwo ist.

Auch die Lyrics entstanden spontan und aus dem Gefühl der Erinnerung heraus. Es gibt keinen konkreten intellektuellen Inhalt wie bei "The Octopus". "Echo Street" ist basisch, spontan und aus dem Bauch heraus aber garantiert kein Schnellschuß. Eben deshalb erfüllt "Echo Street" für Sel wie "The Octopus" alle Kriterien eines guten Rockalbums, nur auf eine ganz andere Art und Weise.

Bleibt am Ende der Blick in die Zukunft, und da steht so einiges auf dem Plan. Nach Beendigung der Tour wird weiter an "Mystoria", das Sel auch als "Happy Octopus" bezeichnet, gearbeitet. Dazu steht natürlich der oben erwähnte Release der "The Octopus"-Spezialeditionen inclusive einer teuren Vinyl-Ausgabe an.  Desweiteren sind eine Live-DVD und eine weitere EP in Planung. "There's lots going on". Bessere Zukunftsaussichten kann man als AMPLIFIER-Fan gar nicht haben.

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Review von Thomas Becker

Redakteur:
Thomas Becker

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